Nettelnburg. Warum eine junge Nettelnburgerin kurz vor dem Abitur die Schule schmiss und lieber am Klavier sitzt – oder „Sterne zählen“ geht.
Sie hat ihn beobachtet, diesen hektischen Mann, der mit seiner Aktentasche über den Bergedorfer Bahnhofsvorplatz hastet. Und die Frau mit den traurigen Augen an der Mohnhof-Ampel. Und die leeren Gesichter in den Bussen, etwa von Bergedorf nach Nettelnburg unterwegs. Dort wohnt Leonore Lilja Georgi mit ihrem jüngeren Bruder, dem Organisten-Vater und der Mutter, die Fantasy- und Liebesromane schreibt. Durch viele Gespräche „über Figuren, Handlung oder Probleme des Schriftstellerdaseins“ seien ihr immer neue Ideen entwachsen, sagt die 18-Jährige, die vier Jahre lang an ihrem Erstlingswerk „Sterne zählen. Die Dunkelheit verlassen“ schrieb: eine „emotionale Autobiografie“ auf 282 Seiten.
Denn wenn der unruhige Protagonist von seiner Einsamkeit erzählt, der Sinnlosigkeit und seinem befreienden Versinken in der Dunkelheit, auch von erschöpften und verzweifelten Momenten – dann kennt Leonore diesen Zustand nur zu gut. Eine Therapie begleitet sie durch depressive Phasen. Wenn sie keine Motivation findet, aufzustehen und nur noch schwarzsieht. „Dabei war ich eine perfektionistische Einserschülerin, habe mich im Unterricht sogar gelangweilt. Aber ich will lieber Sachen lernen, die für mich wichtig sind.“ Dazu zählen ihre Klavierkompositionen, Acrylmalerei und natürlich das Schreiben. Sie wolle ohne Druck ihre Ziele erreichen und auf ihre Gefühle achten.
Komplizierte Themen brauchen keine verschachtelten Sätze
So ergeht es dann auch dem sensiblen Protagonisten in ihrem Buch, der nur sehr langsam lernt, die Welt etwas hoffnungsvoller und leichter zu sehen – dank der fröhlichen Samera, die gern laut singt, ihre Eindrücke und Stimmungen des Tages bunt anmalt. Die seine Gefühle akzeptiert und ihn zugleich lehrt, dass sich in jeder Finsternis ein leuchtender Stern versteckt. Dass es ohne Licht keinen Schatten gibt – und eben auch andersherum.
Metaphern haben es der jungen Autorin angetan. Wenn sie die „großen Fragen des Lebens“ fragt, von Erwartungen, Enttäuschungen und Freiheit erzählt. Dann sind es einfache Formulierungen: „Komplizierte Themen brauchen keine verschachtelten Sätze“, meint Leonore, der das Schreiben dabei hilft, ihre eigenen Gefühle zu finden: „Wenn ich sie dann auch aussprechen kann, ist das besser auszuhalten.“
Am Nachmittag gibt die Nettelnburgerin Mathe-Nachhilfe
Mutiger und stabiler werden: Manch ein Lehrer und auch die Eltern hätten sie bei ihrem Entschluss bestärkt, kurz vor dem Abitur die Bergedorfer Waldorfschule abzubrechen. „Das war psychologisch zu belastend für mich, wenn ich tagsüber keinen Rückzugsort habe, nicht ausgeschlafen bin. Ich bin überfordert, wenn ich nicht in meinem eigenen Tempo lernen kann“, sagt Leonore, die nachmittags Mathe-Nachhilfe gibt.
Das war schon vor Corona so, dass sich Erwartungen und Enttäuschungen abwechselten: „Am Klavier aber kann ich unfassbar gut loslassen“, sagt die 18-Jährige, die ihrem Buch (print on demand, 15 Euro) einen QR-Code beifügt samt siebenminütiger Klavierkomposition, die sich streamen lässt. „Es ist kein psychologischer Ratgeber. Ich möchte bloß Gleichgesinnten meine Hoffnung weitergeben, dass nicht alles nur schwarz ist, dass alles vorbeigeht und auch bessere Phasen kommen.“
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Dieses Buch, das musste einfach raus. In die Welt da draußen. Wo die anderen leben, denen es auch manchmal nicht gut geht. „Man muss sich ab und zu Zeit fürs Leben nehmen und in den Himmel gucken“, meint die Nettelnburgerin. Und weil sie das inzwischen öfter gut kann, widmet sie ihr Erstlingswerk „Für mich“.