Jesteburg/Hanstedt. Der Verein Jugend aktiv bietet Heranwachsenden Action, Rückzugsräume und Möglichkeiten kreativer Entfaltung. Es ist keine Bullerbü-Idylle.

Eine Kindheit auf dem Dorf – langweilig, aber behütet? Das war einmal. Die heile Welt hat Risse bekommen. „Auch ein 7000-Seelen-Ort wie Jesteburg ist nicht Bullerbü“, sagt Anne Dietrich. Die 56-jährige Geschäftsführerin des Vereins Jugend aktiv weiß, dass Faktoren wie das allgegenwärtige Internet, Kriege und Flüchtlingskrise und nicht zuletzt Corona den Alltag von Kindern und Jugendlichen verändert haben. Mit ihrem Verein, der in Jesteburg und Hanstedt Jugendtreffs an der Schule beziehungsweise auf dem Alten Geidenhof unterhält, will sie dazu beitragen, jungen Leuten nicht nur Freizeitangebote zu machen, sondern sie in ihrer Entwicklung zu fördern und ihnen einen Rückzugsort zu bieten, an dem sie sich aufgehoben fühlen.

Ein Dienstagnachmittag im Jugendtreff in der Straße Am alten Moor in Jesteburg. Relaxter Hip-Hop klingt aus den Lautsprechern, auf dem Sofa chillen Schülerinnen und Schüler des benachbarten Schulzentrums. In der Küche gießt jemand Tee auf, am großen Tisch macht ein Mädchen Hausaufgaben, während nebenan die 15-Jährige Emma mit Jugendbetreuerin Maren Zickert ein Jugendhauswappen entwirft, das bald die Wand des Aufenthaltsraums schmücken soll.

Kunstcafé, Kochtag, Spiel- und Sportnachmittagen und vieles mehr

Heute Nachmittag ist Kunstcafé, bei dem sich diejenigen treffen, die malen, sprayen, mit Speckstein arbeiten und dabei Café-Atmosphäre genießen wollen. Nur eines der vielen offenen Angebote des Vereins, zu denen jeder unverbindlich und ohne Anmeldung vorbeischauen kann. Genauso wie beim Kochtag am Donnerstag, wenn die Teilnehmer erst gemeinsam einkaufen und dann Rezepte, auch die für Muttis Gemüseeintopf, in der Küche des Jugendtreffs ausprobieren. Oder bei den Spiel- und Sportnachmittagen, bei denen Bewegungshungrige zweimal pro Woche Zutritt zur Schulsporthalle haben.

Sie stehen für den Verein Jugend aktiv in Jesteburg (v.l.): Geschäftsführerin Anne Dietrich, Jugendbetreuerin Maren Zickert und Reyk Nordmeyer, dualer Student der Sozialarbeit.
Sie stehen für den Verein Jugend aktiv in Jesteburg (v.l.): Geschäftsführerin Anne Dietrich, Jugendbetreuerin Maren Zickert und Reyk Nordmeyer, dualer Student der Sozialarbeit. © HA | nanette franke

Viele junge Leute gehen nach der Schule gleich in den Treff. Weil der Schulbus noch nicht fährt. Weil sie Ruhe haben wollen. Weil es Krach zu Hause gegeben hat. Weil sie jemanden zum Reden brauchen. Oder weil sie sich auspowern möchten, zum Beispiel mit Boxhandschuhen am Sandsack, im Fußballkäfig, auf dem Piratenschiff im Hof oder am Billardtisch.

Viele kommen auch, um sich schnell etwas zu essen zu machen. Pizza, Nuggets oder Pfannkuchen zum Beispiel. Gesunde Snacks wie Apfel- und Möhrenstücke stehen fast immer bereit. Nur Energy Drinks gibt es hier nicht – zu viel Zucker. Von 14 bis 19 Uhr ist jeder willkommen.

Im aktuellen Aktionsprogramm gibt es 89 Einzelveranstaltungen

Daneben gibt es – auch außerhalb der Ferien – im aktuellen Aktionsprogramm 89 Einzelveranstaltungen, zu denen jede Menge Kreativangebote und Ausflüge gehören, aber auch Schnupper-Voltigieren, Klettern in der Kletteranlage von Blau-Weiss Buchholz, Waldbaden oder ein Wildniscamp. Während sich diese Veranstaltungen schwerpunktmäßig an Kinder von sechs bis zwölf Jahren richten und eine Anmeldung erfordern, sind die Jugendtreffs in den beiden Orten eher für Ältere ab dem zwölften Lebensjahr gedacht. „Auch mancher Student, der inzwischen längst woanders wohnt, kommt beim Heimatbesuch noch gern vorbei“, berichtet Anne Dietrich.

Jugend aktiv, der mit mehr als 900 Mitgliedern inzwischen zu den größten Vereinen in Jesteburg gehört, wurde im Jahr 1999 gegründet. Anlass war die Reform des Kinderjugendhilfegesetzes, das die Kommunen verpflichtet, außerschulische Angebote zur Förderung von Kindern und Jugendlichen bereitzuhalten. Diese Aufgabe hat in Jesteburg und Hanstedt der Verein Jugend aktiv übernommen. Grundlage für das Konzept war eine Umfrage zum Freizeitverhalten der Jugendlichen, die Anne Dietrich, gelernte Marketing- und Kommunikationswirtin, ausgewertet hat. Anfangs wurde die Vereinsarbeit nur von Ehrenamtlichen und Honorarkräften geleistet. Inzwischen verfügt der Verein über sechs halbe Stellen, darunter zwei für duale Studenten der Sozialarbeit.

Sommerferienprogramm von Samtgemeinden Jesteburg und Hanstedt finanziert

Seit dem Jahr 2000 bietet Jugend aktiv ein Sommerferienprogramm, das mit 36 Terminen anfing, in Spitzenzeiten bis zu 180 Veranstaltungen bot und nach der Corona-Delle nun wieder durchstartet. Das Programm zieht nicht nur Kinder und Jugendliche aus den Mitgliedsgemeinden, sondern auch aus dem benachbarten Seevetal an. Das Sommerferienprogramm wird von den Samtgemeinden Jesteburg und Hanstedt finanziert, die auch die Kosten für Mitarbeiter und Räumlichkeiten tragen.

Zusätzlich gibt es Aktionsprogramme in den Oster- und Herbstferien. Zusammengerechnet kommt Jugend aktiv auf jährlich etwa 500 Veranstaltungen. Das Geld für die Zusatzaktivitäten erwirtschaftet der Verein aus Werbeanzeigen, die die örtlichen Geschäftsleute in den jährlich drei Programmheften mit einer Auflage von jeweils 3000 bis 5000 Exemplaren schalten.

Dietrich tritt bei Politik immer wieder für Interessen der Heranwachsenden eintritt

Anne Dietrich, die an ihre Marketing-Ausbildung ein Studium der Erziehungswissenschaften anschloss, sieht sich als Motor, der in der Politik immer wieder für die Interessen der Heranwachsenden eintritt. Damit offene Jugendarbeit gelingt, ist viel Miteinander notwendig. Der Verein ist gut vernetzt. Der Lions Club Jesteburg gehörte lange zu den Förderern. Zahlreiche Ehrenamtliche, darunter viele Senioren, engagieren sich. Die Vereine der Umgebung tragen mit Kennenlern-Angeboten dazu bei, dass keine Langeweile aufkommt, und gewinnen neue Mitglieder.

Vor dem Jugendtreff locken ein Piratenschiff und ein Fußballkäfig zu Action und Bewegung.
Vor dem Jugendtreff locken ein Piratenschiff und ein Fußballkäfig zu Action und Bewegung. © HA | nanette franke

Doch auch auf dem Dorf kommen Kinder mit Drogen und Alkohol in Berührung. Gerade in Jesteburg entwickelt sich das nach Beobachtung von Anne Dietrich zunehmend zum Problem. Ihre Überzeugung: Kinder, die eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung haben, sind in dieser Hinsicht weniger gefährdet. Weil sie weiß, dass die Betreuung drogenkonsumierender Jugendlicher den Verein überfordern würde, ist sie konsequent: Wer getrunken, etwas geraucht oder Pillen geschluckt hat, darf nicht in die Jugendtreffs. „Manche reagieren dann wütend, treten gegen die Tür und vagabundieren durch den Ort“, berichtet die Diplom-Pädagogin und ist froh, dass ab Anfang April ein Jugendsozialarbeiter in Jesteburg als Streetworker zum Einsatz kommen wird.

Corona-Pandemie wirkte wie ein Brandbeschleuniger für viele Probleme

Die Corona-Pandemie hat auch in Jesteburg und Hanstedt wie ein Brandbeschleuniger für viele Probleme gewirkt. Nicht nur die Schulen, auch die Jugendtreffs waren lange im Lockdown. Trotzdem bemühte sich das Team, wann immer es ging zu öffnen. So wurde in Kleinstgruppen Homeschooling-Nachhilfe angeboten, gerade für Kinder mit Migrationshintergrund und ukrainische Flüchtlinge, die inzwischen auch zu den Besuchern von Jugend aktiv gehören – eine unverzichtbare Unterstützung. Und dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

„Die Auswirkungen von drei Jahren coronabedingten Einschränkungen auf Kinder und Jugendliche werden unterschätzt“, ist Dietrich sicher. Insbesondere die erzwungene Isolation und das Homeschooling über Wochen und Monate sei problematisch gewesen. „Die persönliche Begegnung von Kindern und Jugendlichen ist unverzichtbar für die Entwicklung eines stabilen Selbstbewusstseins und nicht durch Internet-Kontakte zu ersetzen“, so Dietrich.

Lehrer und Schulsozialarbeiter berichten von Lern- und Anpassungsschwierigkeiten

Sie weiß, dass viele Jugendliche, gerade diejenigen in der Pubertät, Depressionen entwickelt haben: „Sie reagieren extrem empfindlich, verkriechen sich in ihren Zimmern und sind nur in der virtuellen Welt unterwegs, in der sie sich aussuchen können, was sie gern haben möchten.“ Viele Lehrer und Schulsozialarbeiter, mit denen Jugend aktiv im engen Austausch steht, berichten von Lern- und Anpassungsschwierigkeiten sowie mangelnder Konfliktfähigkeit.

Auch in anderer Hinsicht habe die Pandemie für Kinder Folgen gehabt: Die Bewegung fehlte. „Viele sind zu dick und können nicht einmal mehr rückwärts laufen“, so Dietrich. Kein rein körperliches Problem. „Denn Bewegung und Lernfähigkeit sind eng miteinander verknüpft.“ Um so glücklicher sind die Mitarbeiter von Jugend aktiv, wieder ohne Einschränkungen ihre Türen öffnen und Anstöße geben zu können, damit Jesteburg und Hanstedt auch ohne Bullerbü-Idylle gute Adressen für Kinder und Jugendliche bleiben. Wer mithelfen will, ist herzlich willkommen: www.jugend-aktiv.eu