Bergedorf. Das älteste Stück in unserem Archiv ist ein Halbjahresband des „bz“-Vorgängers „Eisenbahn-Zeitung“. Rückblick in die Zeit vor 160 Jahren.
Eine Zeitung anno 1863 war Fernsehen, Radio, Social-Media und Internet in einem: Eng auf Papier gedruckt, gaben Neuigkeiten aus aller Welt vor 160 Jahren den inhaltlichen Ton an auf den knappen Platz, den die zwei oder maximal vier Seiten boten. Hinzu kam der tägliche Zeitungsroman und natürlich die teils kunstvoll gestalteten Anzeigen von Lotterie-Anbietern und Herrenausstattern über die sehr häufig abgedruckten Ankündigungen von Theaterstücken und Zirkus-Gastspielen bis zu regelmäßigen Hinweisen der Berlin-Hamburger Eisenbahn auf ihre Sonderzüge.
Wirklich lokale Meldungen aus Bergedorf sind dagegen rar in der „Eisenbahn-Zeitung“, dem ältesten erhaltenen Vorläufer unseres Blattes im Archivkeller der „Bergedorfer Zeitung“. Es handelt sich um den Band mit den Ausgaben der zweiten Jahreshälfte 1863, vom 1. Juli bis zum 17. Dezember. Als Teil unserer Serie zu „150 Jahren Bergedorfer Zeitung“ bildet er heute den Auftakt zu einer Reihe von Einblicken in markante Fundstücke aus den „bz“-Analen.
Bauernhöfe, die „in Betreff der Ernte zu den schönsten Erwartungen berechtigten“
Eines der wenigen lokalen Themen im 1863er-Band ist der „öffentliche Verkauf zweier Landstellen in Billwerder durch den Landvogt Julius Siemers im Hause des Gastwirts Ohl auf St. Annen Hof“. Nach der detaillierten Beschreibung heißt es in auf Seite 3 der Ausgabe vom 7. Juli 1863: „Diese beiden Landstellen, welche zu den vorzüglichsten in Billwerder gehören und welche in Betreff der Ernte zu den schönsten Erwartungen berechtigten, sollen 14 Tage nach dem Verkaufe zur Disposition des Käufers gestellt werden. Dieselben sollen kombiniert zu einem wertseienenden Preise eingesetzt, nötigenfalls heruntergesetzt und gewiss verkauft werden.“
Ob und wie das gelang, vermeldete Redakteur und Herausgeber Christoph Marquard Ed (1808-85) allerdings in den folgenden Tagen nicht. Dafür findet sich in der weiteren Ausgaben eine ausführliche Beschreibung der „diätischen Heilanstalt Bellevue am Bergedorfer Gehölz“, die später für das 1930/31 gebaute Luisen-Gymnasium abgerissen wurde. Darin heißt es mit Blick auf die sich vor 160 Jahren kaum weiter als rund ums Sachsentor erstreckende Kleinstadt Bergedorf: „Das Institut hat nebenbei die Nahrungsquellen des Ortes vermehrt, ohne einer derselben Konkurrenz zu machen. Denn da das Bellevue nur Fremde beherbergt, so verlieren nicht einmal Ärzte oder Apotheker. Im Gegenteil haben Letztere an den Kurgästen für manche Artikel Kunden erworben.“
Passen Stadtstaaten wie Hamburg und Monarchien wie Bayern wirklich zusammen?
Weit mehr Raum als das Lokale nehmen in der „Eisenbahn-Zeitung“ die großen nationalen wie internationalen Themen ein. Unter der Überschrift „Freiheit oder Einheit zuerst?“ geht es im Vorfeld der Gründung des Deutschen Reichs von 1871 etwa darum, ob liberale Stadtstaaten wie Hamburg und feudalistischen Monarchien wie Preußen oder Bayern wirklich in einem Staat aufgehen können. Betont kritisch setzt sich Christoph Marquard Ed auch mit der Rechtmäßigkeit adliger Erbfolgen auseinander. Zudem blickt in seiner Zeitung täglich nach England, Frankreich, Russland und sogar in die USA.
Seine Positionen brachten dem streitbaren Redakteur manchen Gerichtsprozess ein, in der ersten Jahren auch mit den Zensureinrichtungen Bergedorfs. Aber die für seine Zeit fortschrittlichen Inhalte machten seine „Eisenbahn-Zeitung“ zur Erfolgsgeschichte – der ersten in Bergedorf nach verschiedenen gescheiterten Vorgängern. Marquardts Blatt erschien ab 1842 zunächst noch als „Bergedorfer Wochenblatt“ und wuchs nach den Worten von Stadt-Chronist Friedrich Stoffert sehr schnell „zu einem großstädtischen Organ“, womit er besonders den internationalen Blickwinkel meinte. Ab 1860 erschien die „Eisenbahn-Zeitung“ sogar täglich außer an Sonn- und Feiertagen.
„Eisenbahn-Zeitung“ besitzt eine der ersten Dampfmaschinen in Bergedorf
Hinter dem Erfolg stand ein Mann, der sein Blatt nicht nur mit seinen liberalen Überzeugungen prägte, sondern auch durch die Begeisterung für den technischen Fortschritt in der mit Macht einsetzenden Industrialisierung. So war Christoph Marquard Ed neben der Lohgerberei Behr der erste, der in Bergedorf eine Dampfmaschine einsetzte. 1859 ließ er für seine Druckerei und Schreibstube einen Neubau errichten zwischen Serrahn und Bahnhof, wo er die Zeitung ab sofort mit Dampfkraft statt Muskelkraft herstellte. Dafür baute er sogar einen fast zwölf Meter hohen Schornstein, den die „wohllöbliche Bau-Commission in Bergedorf“ und die „Technische Commission zu Hamburg“ für seine „Dampfmaschine von 2 Pferdekraft“ vorgeschrieben hatten.
Zu allem Überfluss hatte der erfolgreiche Redakteur und Herausgeber auch noch kaufmännisches Geschick. Denn ihm gelang es, mit der „Eisenbahn-Zeitung“ viele Leser weit über die Grenzen des im Jahr 1863 nur 2957 Menschen zählenden „Städtchens“ Bergedorf zu gewinnen. Das Verbreitungsgebiet reichte ins gesamte, damals dänisch verwaltete Herzogtum Lauenburg und sogar bis nach Mecklenburg. Zudem abonnierten viele Menschen in Hamburg und besonders auch in Lübeck das Blatt.
„In Hamburg besorgt jeder Zeitungsladen die täglich erscheinende ,Eisenbahn-Zeitung’“
Grund dafür war ein intensives Marketing – nachweislich auch in der Zeitung selbst: Gleich auf der erste Seite erschien jeweils um den Quartalswechsel über rund 14 Tage ein redaktioneller Text in eigener Sache. So heißt es am 1. Juli 1863: „Mit dieser Nummer beginnt das dritte Quartal des gegenwärtigen Jahrgangs der ,Eisenbahn-Zeitung’. Die geehrten auswärtigen Abonnenten werden freundlichst gebeten, etwa noch unterlassene Wiederbestellungen baldigst bei ihrem Postamte zu besorgen, damit ihnen die Fortsetzungen ununterbrochen zugehen. Bei verspäteter Bestellung könnte dagegen die komplette Lieferung nicht so fest zugesichert werden. Neue Leser machen wir darauf aufmerksam, dass in Hamburg jeder Zeitungsladen die täglich erscheinende ,Eisenbahn-Zeitung’ zu einem Taler pro Quartal besorgt. Im ganzen dänischen Postgebiete liefert jede königliche Poststelle sie zu gleichem Preise. In Mecklenburg kostet sie bei den großherzoglichen Postämtern 1 Taler und 12 Schilling, im Königreich Hannover 1 Taler und 15,5 Groschen und im übrigen Deutschland 1 Taler und 7,5 Groschen.“
Doch der Erfolg schützte Christoph Marquard Ed nicht vor Neidern und auch nicht vor erbitterten politischen Feinden. Die Konsequenz: Am 3. Juni 1865 zog er mit seiner Familie und seiner Zeitung nach Lübeck. Denn auch dort konnte das inhaltlich ja ohnehin sehr international aufgestellte Blatt gedruckt werden. „Hierzu mussten alle Maschinen der Druckerei zerlegt und auf Pferdewagen in die Stadt an der Trave gebracht werden“, schreibt Geerd Dahms im Buch „Bergedorf – Altes neu entdeckt“ des Kultur- & Geschichtskontors, das dem Verleger ein ganzes Kapitel widmet. Darin wird deutlich, dass sich der fortschrittliche Zeitungsmann in seinen 23 Bergedorfer Jahren eine ganze Reihe konservativer Gegner gemacht hatte. Darunter auch Bergedorfs Amtsverwalter Daniel Theodor Kaufmann sowie den Großgrundbesitzer und Ratmann Iwan Friedrich Martin Schlebusch.
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Doch sie konnten ihren Sieg über den widerspenstigen Redakteur nicht lange feiern, riss der mit dem Wegzug seiner Zeitung doch ein erhebliches Loch in Bergedorfs Stadtkasse. Ihr fehlten auf einen Schlag sämtliche Einnahmen aus der laut Geerd Dahms „beträchtlichen Inseraten-Steuer“. Zudem vermissten die Bürger hier sehr schnell das lebgewonnene Privileg, eine eigene Zeitung zu haben.
Während es in Bergedorf einige zunächst wenig glückliche Nachfolger der „Eisenbahn-Zeitung“ geben sollte, knüpfte Ed in Lübeck an seinen Erfolg an. Schon am 6. Juni 1865 brachte er dort die erste Ausgabe heraus. Er selbst wurde zu einer der großen Verlegerpersönlichkeiten in der Hansestadt an der Trave – und aus seinem Blatt, das schon 1867 den Untertitel „Lübecker Zeitung“ trug, wurden um 1900 die „Lübecker Nachrichten“.