Bergedorf. Zahl der Austritte mit 1226 Fällen auf Rekordhoch. Bergedorfer Pastor: „Wir steuern in eine unbekannte Zukunft.“
Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung: Kirche war lange ein fester Bestandteil im Leben vieler Menschen. Das aber scheint zunehmend weniger der Fall zu sein. Denn die Zahl der Kirchenaustritte ist in Bergedorf auf Rekordhoch. Wie aus der Statistik des hiesigen Standesamteshervorgeht, kehrten 1226 Bergedorfer (Stichtag 21. Dezember) der Kirche in diesem Jahr den Rücken – 425 mehr als im Vorjahr. Selbst 2014, als ein neues Einzugsverfahren bei der Kirchensteuer für eine massive Austrittswelle gesorgt hatte, waren es im Bezirk nicht so viele.
Längst gibt es Stimmen, die den Untergang der Kirche als gesellschaftliche Institution kommen sehen. „Land der Gottlosen“, titelte der Spiegel schon im August und verwies darauf, dass katholische und evangelische Christen nun in Deutschland rechnerisch in der Minderheit sind (49,7 Prozent) – und dass es bald kein christliches Fundament mehr gibt. Ganz so mag Andreas Baldenius, Pastor an der Kirche St. Petri und Pauli zu Bergedorf, das allerdings nicht stehen lassen. „Kirche ist immer noch die größte gesellschaftliche Institution in Deutschland, größer als jeder Verein, auch jeder Sportverein“, sagt er. Schönreden will er die Probleme gleichwohl nicht. „Wir steuern in eine unbekannte Zukunft“, sagt er sorgenvoll. Weihnachten sei seine Kirche zwar gut gefüllt gewesen, fast wie vor Corona. „Aber wo wir mit unserer Gottesdienstkultur nach dieser Delle hinsteuern, das wage ich nicht zu prognostizieren.“
Viele sehen in der Kirche nur noch das Gestrige
Die Angst vor Corona ist aber längst nicht der einzige Grund für leere Kirchen. Vielmehr sorgen seit längerem Missbrauchsskandale der Vergangenheit, mangelnder Reformwillen vor allem bei den Katholiken und vielleicht auch finanzielle Erwägungen für eine Abkehr von einer Institution, in der viele nur noch das Gestrige sehen. Besonders die Austrittszahlen der katholischen Kirche liegen seit mehreren Jahren auf hohem Niveau, heißt es aus dem katholischen Erzbistum Hamburg. Sie arbeite deshalb daran, „wieder glaubwürdig zu werden, vor allem im Bereich der Prävention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt“, sagt Hamburgs Erzbischof Stefan Heße. Er versuche, „auf neue Art mit den Menschen ins Gespräch zu kommen“, etwa durch digitale Sprechstunden, Briefe an alle Mitglieder und über die sozialen Medien. „Ich bin überzeugt, dass dies schon jetzt und dann auch auf Dauer Früchte trägt.“ Tatsächlich kehren auch manche Gläubige zurück: „Auf der Seite der Eintritte haben wir im Jahr 2021 1370 Taufen, 65 Übertritte aus anderen christlichen Kirchen und 110 Wiederaufnahmen von Katholiken, die aus der Kirche ausgetreten waren, verzeichnet“, sagt Manfred Nielen, Sprecher des Erzbistums Hamburg.
Ersparnis der Kirchensteuer wird als Hauptgrund genannt
In der evangelischen Kirche würden ehemalige Mitglieder oft als Hauptgrund die Ersparnis der Kirchensteuer angeben, sagt Miriam Hansen, Pressereferentin im evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Hamburg-Ost. „Dazu kommt der gesamtgesellschaftliche Trend, dass eine religiös-kirchliche Bindung, anders als früher, heute nicht mehr selbstverständlich ist.“ Dass die Zahlen in Bergedorf aktuell so angestiegen sein sollen, könne zudem an einem „Austritts-Stau“ nach den Corona-Lockdown liegen. „Und die Themen Energiesparen und Inflation spielen wahrscheinlich auch eine wesentliche Rolle.“
Dass sich die Kirchen verändern müssen, darin sind sich fast alle einig. Die Sinn- und Spiritualitätsangebote seien im Kirchenkreis bereits deutlich vielfältiger geworden, sagt Miriam Hansen. Die Kirche gehe den gesellschaftlichen Wandel mit und biete längst neue Angebote: „Immer mehr Pastor*innen sind auch digital präsent, neue Gottesdienstformate werden erprobt, die eigenen Strukturen hinterfragt und Reformprozesse angestoßen“, sagt sie.
- Wie manche versuchen, beim Weißen Ring zu tricksen
- Neue Bücherhalle startet mit umfangreichem Programm
- Händler sehr zufrieden, Bergedorfer sehr spendabel
Reformen aus dem „theologisch-liturgischen Mittelalter“ der evangelischen Kirche fordert auch der Bergedorfer Pastor Andreas Baldenius. Zwar muss sie sich seiner Meinung nach nicht an jeder gesellschaftlichen Scheindebatte und jedem öffentlichen Klein-Klein beteiligen. Aber ein neues Selbstverständnis brauche es: „Es geht darum, welche Rolle wir künftig spielen wollen.“