Hamburg. Die Schallplatte feiert 135-jähriges Bestehen – und hat in Karl-Günther Lessow einen ihrer größten Fans. Was er zu Hause alles hortet.
Wer kennt noch dieses schwarze Ding mit Rillen zur Wiedergabe von Schallsignalen? Laut historisch anmutender Definition ein „mit analogen Daten bespielter und meist kreisförmiger Tonträger mit einem Mittelloch“. Tatsächlich feiert die Schallplatte in diesem Jahr ihr 135-jähriges Bestehen. Dazu noch eine Wiederauferstehung: Seit 2010 hat sich der Umsatz mit Vinyl-Scheiben sogar verzehnfacht. „Die Platten machen echt Spaß, wobei ich für einen Abend mindestens 200 schleppen muss. Da ist ein Laptop natürlich einfacher“, meint DJ Kalle.
20 Jahre lang wohnte der Bergedorfer an der Bleichertwiete. Als er vor einem Jahr wenige Meter weiter an die „Soultownstreet“ umzog (wie er die Soltaustraße nennt), mistete er kräftig aus: 500 Platten und 500 CDs wurden verschenkt oder gingen für bis zu 60 Cent über den Tresen. „Den ganzen Stoner-Rock habe ich doch nicht mehr gehört. Und die Zappa-Sammlung war auch längst eingestaubt“, erzählt der 57-Jährige, den kaum jemand als Karl-Günther Lessow kennt.
Technischer Betriebswirt, aber im Herzen DJ mit Liebe zur Schallplatte
„Die erste Scheibe bekam ich mit 13, das war Jethro Tull“, erinnert sich Kalle, der in seiner Jugend durch das Garbers tobte, durch den Mojo Club und das Tiefenrausch an der Hopfenstraße. Damals lernte er zunächst Tischler, es folgte der Fluggerätemechaniker. „Die letzten 20 Jahre war ich in der Luftfahrt beschäftigt und studierte nebenberuflich bis zum Masterabschluss“, sagt der umtriebige Mann, der aktuell als Technischer Betriebswirt Firmen zu Fördermitteln für die Digitalisierung berät. Nicht zuletzt sei er nebenbei noch Dozent: „Beim Bildungsservice der Handelskammer lehre ich Information und Kommunikation für Industriemeister.“
Im Grunde seines Herzens ist er aber nun mal DJ: Vor gut 30 Jahren legte er erstmals am Turntable im Schniedewind auf, es folgten das Schloss Hasenhof und die Fachhochschule in Lohbrügge, der All Folks Boogie in der Lola, die „Nacht der Clubs“ und das Café Schöne Aussichten, zudem die Cascadas- und die Prinzenbar. Die größte Open-Air-Party beschallte er in Athen: „Das war im Terrassengarten neben dem Pool einer 500-Quadratmeter-Villa“, schwärmt er bis heute.
Am liebsten schlendert DJ Kalle durch die Plattenläden im Karoviertel
Zwei Plattenspieler (MK 2) und ein kleines Mischpult stehen in seiner Wohnung neben den Teufel-Boxen. Daneben kistenweise Platten: Der italienische Jazzer Nicola Conte ist dabei, der Saxofonist Grover Washington Jr., die 1960 in Detroit als Vokalquartett gegründeten Temptations, Funk-Jazz von Jamiroquai neben der 1997 gegründeten R&B-Band The Gap oder dem österreichischen E-Jazz-DJ Parov Stelar. Eine Besonderheit: Auf nur einer Seite bespielt ist der Remix des 1986 veröffentlichten Songs „Sweet Freedom“ von Michael McDonald.
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Am liebsten schlendert DJ Kalle durch die Plattenläden im Karoviertel. Und zu Lockdown-Zeiten wurde fast wöchentlich in England bestellt: „Hier, das hellgrüne Doppelvinyl von der Soul-Funk Band FBI ist die Nummer 144 von insgesamt nur 150 Stück, die vier Songs wurden exklusiv erstmals als 45er Single-Edition aufgelegt“, schwärmt der Musikliebhaber, der dafür natürlich auch gern Geld ausgibt.
„Es gibt viele Neuerscheinungen und Reissues in kleiner Auflage“
Die durchsichtige Scheibe „Fresh from the can“ von Gare Du Nord, aus den Niederlanden – limitiert auf 1000 Stück – kostete etwa 30 Euro. „Es gibt viele Neuerscheinungen und Reissues in kleiner Auflage. Der Kauf hilft halt dem Künstler und nicht einem Streamingdienst.“ Neu aufgelegt ist der 80er-Hit „The Bomb!“ von DJ Kenny „Dope“ Gonzalez ebenso wie ein alter Rocksong der Talking Heads, den der Musiker „Mister Mushi“ frisch auf den Markt brachte.
Ein Schatz in der Sammlung ist auch die rote Single „The Snake“ von Al Wilson. „Ich kann auch mal zwei Stunden am Pult stehen und die Singles auf Tape aufnehmen“, meint Kalle, der gerade eine Scheibe von Diazpora in der Hand hält, bekannt mit Raw Funk und Afrobeat: „Die habe ich dann auch live im Knust gehört“, sagt der DJ, der jährlich locker 15 bis 25 Konzerte besucht.
Alte Musik kann noch wunderschöne Geschichten erzählen
Am meisten schwärmt er vom Blue-Note-Jazz der 60er-Jahre. „Da hatten die Platten mit 180 Gramm noch eine gute Resonanz auf dem Spieler. Mit der Erdöl-Krise in den 70ern sind sie ja dann dünner geworden und wogen nur noch 120 Gramm“, erklärt der Fachmann, der im Keller tatsächlich noch ein Platenreinigungsgerät stehen hat.
„Die alte Musik kann noch wunderschöne Geschichten erzählen und hat nichts an ihrem Drive verloren“, meint DJ Kalle, der gleichwohl – allein durch Tipps jüngerer Kollegen – auch modernere Musik liebt. Dazu zählt das DJ-Duo The Allergies aus Bristol oder die Anfang 2021 veröffentlichte Single des Texaners Jay Nemor „Sittin on the Top of the World“.
Auf jeden Fall ist die gute, alte Schallplatte wieder schwer im Trend. Und so lädt DJ Kalle gern mal wieder zu einer Vinyl-Party ein. Die nächste steigt am Sonnabend, 15. Oktober, im White Cube an der Kurt-A.-Körber-Chaussee. Start: 20 Uhr. Statt Eintritt sind Spenden willkommen.
Die 135-jährige Geschichte der Schallplatte
Nach ersten Versuchen mit einem Wachszylinder gelang 1887 dem deutsch-amerikanischen Erfinder und Industriellen Emil Berliner ein Gerät, das die Schallwellen über eine Stahlnadel in eine dick mit Ruß überzogene Glasplatte einritzen konnte. Nach chemischer Härtung des Rußes konnte er ein Zink-Positiv von der Platte anfertigen, das als Stempel zur Pressung mehrerer Kopien diente: Damit war die Schallplatte erfunden. Am 4. Mai 1887 reichte Berliner den Patentantrag ein.
Es folgten Versuche mit vulkanisiertem Hartgummi, das eine Serienproduktion zuließ. 1896 schließlich experimentierte Emil Berliner mit einer Pressmasse aus Schieferpulver, Baumwollflock und Schellack: Die Schellackplatte war geboren – mit großem kommerziellen Erfolg –, wenngleich sich ab 1900 auch viele Hersteller in Europa fanden. Mit der Verknappung des teuren Schellacks (das aus Ausscheidungen der Lackschildlaus stammt) während des Zweiten Weltkriegs wurde ab 1930 zunehmend Polyvinylchlorid verwendet, kurz Vinyl.
Im ersten Halbjahr 2022 gut zwölf Prozent mehr Umsatz
Die Vorteile: weniger Störgeräusche, bessere Haltbarkeit und eine längere Laufzeit. Doch bekanntlich macht die Technik immer wieder große Fortschritte: 1989 wurden in Westdeutschland erstmalig mehr CDs als Schallplatten verkauft. Wobei sich im vergangenen Jahrzehnt wieder ein neuer Trend abzeichnete: Seit 2010 hat sich nach Angaben des Bundesverbands Musikindustrie der Vinyl-Umsatz nahezu verzehnfacht (2021: 118 Millionen Euro). Im ersten Halbjahr 2022 habe die deutsche Musikindustrie erneut gut zwölf Prozent mehr Umsatz mit Schallplatten gemacht als im ersten Halbjahr des Vorjahres.