Hamburg. Die Skandale in katholischen Bistümern führen zu einem Zerrbild – mit fatalen Folgen. Auch die evangelische Kirche leidet jetzt.

Die evangelische Kirche hat derzeit alles Mitleid dieser Welt verdient: Ohne Teil des katholischen Missbrauchsskandal zu sein, wird sie in Mithaftung genommen. Viele Ex-Christen nehmen die jüngsten Enthüllungen zum Anlass, um auch die evangelische Kirche zu verlassen. Eilfertig hilft die hiesige Politik, wie es mit dem Austritt noch schneller und billiger klappen kann: Am besten per Mausklick –, und die Gebühren sollten gefälligst auch die Kirchen übernehmen, so wünschen es FDP und Grüne. Opportunismus olé. Dass die Verfassung es noch anders handhabt, hat nichts mit einem Kuschelkurs gegenüber den Kirchen zu tun, sondern mit der hohen Gewichtung des Grundrechts der Glaubens- und Religionsfreiheit.

Aber Austreten passt zum gesellschaftlichen Klima: Ob in Kirchen, Parteien, Verbänden oder Sportvereinen, wir sind zu bloßen Konsumenten geworden. Sobald uns etwas missfällt, bringen wir uns nicht mehr ein, sondern laufen davon. Der Fehler des Vorsitzenden, der unbefriedigende Tarifabschluss, ein mangelndes Angebot – und wir steigen aus. Wo es nur um mich geht, verliert das Wir seinen Wert. Erschwerend kommt hinzu: Wer in der Kritik steht, darf auf Verteidiger nicht mehr hoffen, wer am Boden liegt, bekommt noch einen Tritt extra ab.

Katholische Kirche hat die Glaubwürdigkeit verloren

Nun hat die katholische Kirche vieles getan, um die Wut und die Verachtung der Gläubigen wie Nichtgläubigen zu provozieren: Wer von der Kanzel Moral predigt und sich dann so amoralisch verhält, verliert jede Glaubwürdigkeit. Wer den kleinen Sündern den Weg weist und die großen Sünder laufen lässt, ist moralisch korrumpiert. Fast so schlimm wie das persönliche Fehlverhalten von manchen Priestern ist das Jahrzehnte währende Schweigen über den Missbrauch, diese klerikale Omertà. Und da darf es auch keine Ausrede sein, dass bis in die 90er-Jahre hinein der Missbrauch in Sportvereinen, Schulen und Sakristeien zu leichtfertig, zu bereitwillig, zu oft übersehen wurde.

Doch in die Debatte um den Missbrauch und die Vertuschung kommt inzwischen eine ziemliche Schlagseite: In Medien, Öffentlichkeit und sozialen Netzwerken wird der Eindruck verbreitet, als sei Katholizismus die Überschrift für Kindesmissbrauch. Das ist nicht nur verkürzt, das ist unfair und böse. Ja, die verdruckst-verklemmte katholische Sexualmoral, der Zölibat, die dort herrschende Homophobie und Frauenfeindlichkeit sind Teil des Problems. Doch das alles fügt sich allzu perfekt ins politisch-korrekte Feindbild: Für manche sind der Papst und Putin Brüder im Geiste.

Kirche erfüllt viele Aufgaben für Gesellschaft

Leider sprechen oft die Menschen am liebsten und lautesten über die Kirche, die sie am wenigsten kennen. Davon gibt es immer mehr: In der Hansestadt bekennt sich nur noch ein Drittel der Menschen zur evangelischen oder katholischen Konfession. Das Gute wird unsichtbar: Wer aber Kirche auf ihre Fehler reduziert, reduziert Hamburg auf einen Stadtteil oder das Alphabet auf einen Buchstaben. Es ist Teil, aber nicht das Ganze: Die christlichen Kirchen übernehmen weiterhin elementare Aufgaben – in Krankenhäusern und Kindergärten, Heimen und Hospizen, in der Seelsorge.

Unter dem Kirchendach treffen sich Kinder- und Jugendgruppen, Senioren, Musiker. Sie alle suchen nicht nur Spaß, sondern auch Sinn. Sie engagieren sich ehrenamtlich für die Gesellschaft, für Obdachlose, Flüchtlinge, Einsame, Behinderte, kümmern sich dort, wo sich der Staat rar macht. Ohne die Kirchen wären vor allem die Schwächsten viel schlechter dran. Gerade eine Gesellschaft der Selbstoptimierung bedarf der Kraft der Nächstenliebe.

Die Ordnung benötigt ein verbindendes Ethos

Der Rechtsphilosoph und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stellte einst fest: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Damit meinte er, die freiheitliche Ordnung benötige ein verbindendes Ethos, eine Art ‚Gemeinsinn‘ bei denen, die in diesem Staat leben. „Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus.“

Wenn diese Quellen versiegen, verdorrt die Demokratie. Und was gewinnen wir, wenn wir der Glauben verlieren?