Hamburg. Hamburgs Stadtschreiberin hat Tourismus-Chef Oliver Kahle getroffen. Wie er die Zahl der Hotelbetten in Bergedorf verdoppeln möchte.
In den vergangenen Wochen lernte ich Bergedorf kennen. Als Münchnerin im hohen Norden Deutschlands. Was meinen ersten Eindruck prägte: Gleich zweimal habe ich Leute am Bahnhof Bergedorf zusammenbrechen sehen. In beiden Fällen konnte schnell geholfen werden. Überhaupt gibt es hier viel Hilfe. Eine regelrechte Hilfsinfrastruktur. An keinem Ort sind mir innerhalb eines so kleinen Radius’ mehr Psychologen, Psychiater oder Psychotherapeuten aufgefallen.
Ich habe gehört, Menschen verbringen gern Zeit in Bergedorf oder in der Natur darum herum. Doch wie an vielen anderen schönen Orten, müssen die Leute oft noch überzeugt werden auf einen Kaffee mit hoch zukommen. Ich haben gelernt, dass hier „auf einen Kaffee“ Synonym für Übernachtung ist, also die Bereitschaft, nicht nur einen schönen Tag hier zu verbringen und abends die Hausschuhe überzustreifen, sondern die Zahnbürste und den Schlafanzug einzupacken und zu bleiben.
Segler Oliver Kahle hat jetzt das Ruder im Tourismus übernommen
So erklärt es jedenfalls Oliver Kahle, der genau daran für „sein“ Bergedorf arbeitet. Er ist ein Profi. Geboren in Lübeck ist er seit 1982 in der Region aktiv. Nach zuletzt einigen erfolgreichen Jahrzehnten als Chef des Zollenspieker Fährhauses, das er zu einer der ganz besonderen Adresse in der Region und ganz Hamburgs hat reifen lassen, ist der leidenschaftliche Segler nun am Ruder für den Tourismus in Bergedorf und bringt diesen fortan auf Kurs.
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Tourismus ist wie Demokratie. Er geht alle an. Wenn keine Touristen kommen, stirbt ein Ort. Umgekehrt stellen Touristen einen Wirtschaftsfaktor dar. Sie betätigen eben nicht nur die Toilettenspülung und tragen damit zur Wasserknappheit bei wie auf Mallorca prä Corona – nein: Sie hinterlassen auch andere monetäre Zeichen und ermöglichen einer Stadt und deren Bewohner:innen von diesem Geld zu leben. Genau wie man sich vor einem Virus an keinem Ort verstecken kann, gelten auch in Bergedorf wie überall die Gesetze der Volkswirtschaft.
Fußgängerzone Sachsentor in Bergedorf: Gespenst des Leerstands
Wenn man durch die Fußgängerzone Sachsentor schlendert sieht man es sehr deutlich – das Gespenst des Leerstands. Karstadt war einmal. Das Gebäude wirkt, obwohl es so gut eingebettet ist in die Häuserfassaden und somit nicht umfallen kann, trotzdem traurig und aus der Zeit gefallen. Wenigstens die Schaufenster sind noch nicht verlassen. Der Tourismusverband zeigt mit seinen Aufstellern: Hier ist noch Leben, ja sogar sehr viel!
Bergedorf hat viel zu bieten. Zu Fuß, auf der Bille, historisch und kulturell. Die Sternwarte ist ein magischer Ort. Neuengamme ein Täterort. Herr Kahle erzählt mir, dass die Besucher und Besucherinnen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme einen großen Anteil der Touristen in der Region ausmachen. Doch anders als an anderen Orten des nationalsozialistischen Terrors mit seinen Orten des Grauens, die den Ruf der Vergangenheit nie ganz loswerden, ist Bergedorf nicht Neuengamme und die räumliche Distanz scheint zu helfen.
Einen Tag paddeln, eine Radtour und ein Besuch der KZ-Gedenkstätte
So scheint auch folgender touristischer Reiseplan hier keinen unvereinbaren Widerspruch darzustellen. Tag 1: Besichtigung KZ-Gedenkstätte Neuengamme; Tag 2: Kanu paddeln auf der Bille; Tag 3: Fahrradtour in den Vierlanden auf dem Deich. So geht die sinnvolle und nebenbei auch spannende Erschließung der Region. Schließlich kann ein Ort nichts für seine Vergangenheit. Die Menschen sind aber immer auch ein wenig der Ort. Sie tragen ihn in sich. Er ist ihre Heimat und drückt ihnen einen unsichtbaren Stempel auf.
Oliver Kahle hat ein Gespür für die Schönheit dieser Gegend. Er mag die Natur – und von hier aus sei man auch schnell am Meer. Die Bayern fahren nach Italien, hier fährt man an die Nord- und Ostsee, sagt er mir. Er sieht viel in Bergedorf und möchte die Zahl der Übernachtungen und Hotelbetten in der Zukunft verdoppeln. Vielleicht öffnen sich dann ja auch die Türen des ehemaligen Kaufhausriesen in der Fußgängerzone wieder und reißen ihn aus seinem wie künstlich wirkenden Koma.
Stadtschreiberin treffen – Im Einkaufszentrum CCB
In diesem Monat steht Bergedorf unter Münchner Beobachtung: Jasmin Schellong, Hamburger Stadtschreiberin 2021, durchstreift im Oktober den Bezirk und schreibt über ihre Eindrücke (www.stadtschreiberin.de) und trifft bekannte Bergedorfer. Den Anfang macht „Mr. Zollenspieker Fährhaus“, Oliver Kahle, der seinen Ruhestand mit dem Ehrenamt des Bergedorfer Tourismus-Entwicklers getauscht hat. Wer Jasmin Schellong kennenlernen möchte, hat dazu von Montag an im CCB Gelegenheit. Für fünf Tage hat sie ihre Schreibwerkstatt im alte Tee-Kontor neben dem Eiscafé Ciprian. Geöffnet ist jeweils ab 11 Uhr.