Hamburg. Die wüsten Reaktionen auf das Bündnis Sahra Wagenknecht zeigen vor allem eins: Wir haben vom Aufstieg der AfD nichts gelernt.
Es gibt viele Gründe, das neue Bündnis Sahra Wagenknecht kritisch zu sehen. Eine Partei, deren Programm vor allem aus einer Person besteht, mag Magengrummeln bereiten. Die Haltung des Bündnisses zu Russen-Imperator Wladimir Putin kann verstören, und die Beschränkung der Partei auf zunächst weniger als 1000 Mitglieder wirkt eher nicht wie der große demokratische Wurf.
Das alles aber rechtfertigt nicht im Geringsten, wie derzeit die Öffentlichkeit, Demoskopen, der politische Gegner und viele Medien mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht umspringen. Friedrich Merz beispielsweise fiel mit der Aussage auf, die Programmatik des BSW sei „in großen Teilen unklar“, „sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem.“ Da möchte man schon dreierlei wissen: Wie viel vom Programm hat Merz gelesen? Wie lässt sich Unklares so schnell in Schubladen stopfen? Und was genau empfindet Friedrich Merz eigentlich als „rechtsextrem“?
Das BSW bekommt stets die Zuschreibung „populistisch“
Das BSW steht sicher rechts der Migrationspolitik der Merkel-Ära. Aber das ist nüchtern betrachtet weniger extrem, als es die historisch laxe Flüchtlingspolitik der Jahre 2015 und 2016 war. Und wo steht die Union heute? Was man da zuletzt von manchem hörte, erinnerte eher an die AfD als das BSW.
In vielen Medien klingt es ja nicht anders; das kleine böse Wort „populistisch“ fehlt selten. Bei vielen Umfragen addieren Politikakrobaten AfD und BSW, als gehörten beide Parteien zusammen. Besonders dreist treibt es die „Neue Zürcher Zeitung“, die rätselt, „in welchem der ostdeutschen Bundesländer die beiden Parteien die absolute Mehrheit der Sitze erreichen“: „Es läge in der Hand von Wagenknecht und ihren Getreuen, ob es in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg zum ersten Ministerpräsidenten der AfD kommt.“ Das ist nicht nur ein Konjunktiv, das ist ein Irrealis.
Manche Medien überziehen maßlos in ihrer Bewertung der neuen Partei
Die einst friedensbewegte „Frankfurter Rundschau“ kanzelte das BSW als „die seltsame Friedenspartei“ ab, die „Bild“ nennt Wagenknecht „Putin-Kuschlerin“. Für den „Spiegel“ ist sie aufgrund ihrer Ablehnung der Corona-Politik die „Heldin der Ungeimpften – Sahra Wagenknecht fasziniert Linke, Rechte und Desorientierte“.
Gern wird auch daran erinnert, dass in Wagenknechts Jugendzimmer ein Bild von Walter Ulbricht stand, dem Unhold, der den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 mit Panzern plattmachte. Ein Ulbricht-Bild ist natürlich bescheuert – aber überlegen Sie kurz, was in Ihrem Kinderzimmer hing. Ich weiß es noch. Und ich darf trotzdem Kolumnen schreiben.
Die Debatte zeigt einmal mehr: Es bedarf einer fairen Auseinandersetzung
Man muss weder das Bündnis Sahra Wagenknecht mögen noch ihre Frontfrau. Ganz im Gegenteil: Dass gerade die linken Parteien, die Prozente haufenweise an die Neugründung verlieren, aufjaulen, ist verständlich. Trotzdem sollten sie nach den Ursachen des Erfolgs fragen.
Es bedarf einer fairen Auseinandersetzung. Der politisch Andersdenkende ist ein politischer Gegner, er ist kein Feind. Und das Konzept der Ausgrenzung ist im vergangenen Jahrzehnt so krachend gescheitert, dass es bei jedem Wahlgang nachhallt.
Auch die AfD wurde sofort ausgegrenzt - und hat sich dann radikalisiert
Als ein gewisser Bernd Lucke, damals Wirtschaftsprofessor in Hamburg, 2013 die Alternative für Deutschland gründete, war das zunächst eine harmlose konservative Professorenpartei. Doch schon damals packten forsche Antifaschisten die Nazikeule aus, im selben Jahr griffen Autonome in Bremen eine AfD-Veranstaltung an.
Die permanenten (verbalen) Angriffe haben die AfD nicht klein, sondern groß gemacht. Wer ihren Sympathisanten ständig eintrichtert, sie seien rechtsradikal, führt diese nicht zurück auf den Pfad der Tugend, sondern eher ins Braune. Wer die Debatte radikalisiert – und das waren beide Seiten –, radikalisiert die Menschen. Hysterie hat noch nie geholfen.
Lasst die Extremismuskeule im Schrank - zumindest vorerst
Da wäre es deutlich klüger, die neue Partei BSW mit etwas mehr Langmut und demokratischer Gelassenheit in den Blick zu nehmen. Wo der Hamburger Fabio De Masi (Ex-Linker) oder der frühere Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (Ex-SPD) arbeiten, sollte die Extremismuskeule im Schrank bleiben.
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Die aufgeregte Debatte könnte nach den Landtagswahlen im Osten schnell heruntergedimmt werden, spätestens dann, wenn die Union das Bündnis Sahra Wagenknecht benötigt, um eine Regierung zu bilden. Dann kann die Partei zeigen, was sie kann – oder eben nicht kann.