Rellingen. Das Abendblatt traf den Hamburger Kapitän, der jüngst verstarb, im Januar. Ein Gespräch über das Meer, das Leben – und Olaf Scholz.
Er war der wohl bekannteste Kapitän der Republik: Jürgen Schwandt hat die Weltmeere überquert, den Hamburger Wasserzoll geleitet und im zarten Alter von 80 Jahren noch einen Bestseller hingelegt. In den vergangenen Jahren hatte er sich aus Gesundheitsgründen zurückgezogen – doch vor Kurzem hat Schwandt sein Erfolgsbuch „Sturmwarnung“, das sich 42 Wochen in der „Spiegel“-Bestsellerlisten hielt und mehr als 100.000 Mal verkaufte, noch einmal erweitert. Der Wiener Fotograf Christian Stemper hatte den Kapitän ins Licht gerückt. Und Schwandt ein ganz persönliches Kapitel hinzugefügt. „Was ich Euch noch sagen wollte.“ Eine Art Vermächtnis.
In der Nacht zum Montag ist er im Alter von 88 Jahren gestorben. „Unser Freund Jürgen ist in der Nacht nach langer, schwerer Krankheit, die er tapfer ertrug, eingeschlafen“, schreibt der Ankerherz Verlag, der Schwandt verlegt, auf Facebook. Zuletzt sei er froh gewesen, noch einmal über das Leben und den Sinn dahinter sprechen zu können.
Das Abendblatt traf ihn zuletzt Ende Januar in Rellingen. Die Fahrt in die Haifischbar für ein Gespräch war ihm da schon zu beschwerlich. Das Alter. Wie hieß seine letzte Kolumne? „Das Alter ist ein Arschloch“. Doch als er und in seiner Wohnung im Mehrfamilienhaus empfängt, wirkte er gesund und munter. Er hörte nicht mehr so gut, dafür sprach er Klartext und rauchte munter eine Zigarette nach der nächsten. Es wurde ein Gespräch über das Meer, den Alkohol und die Rückkehr dunkler Zeiten. In ihm lebt Kapitän Schwandt weiter.
Jürgen Schwandt: Warum es 2024 eine neue „Sturmwarnung“ gibt
Abendblatt: Die „Sturmwarnung“ 2016 brach alle Rekorde. Warum gibt es jetzt eine erweiterte Neuauflage?
Schwandt: Das Buch hat sich gut verkauft – und wurde ein solcher Erfolg, dass mich viele Leser um Rat baten. Ich wurde zum Kummerkasten, wenn der Freund trank oder die Ehe kriselte. Also wollte ich meine An- und Einsichten zum Leben, zur Familie, zum Beruf, zur Religion mal zu Papier bringen. Ich hätte ja damals gleich mehr geschrieben, aber mein Autor Stefan Kruecken wollte es kompakt haben.
Stefan Kruecken, der als Ghostwriter das Buch verfasste, sitzt beim Gespräch neben dem Käpt‘n – und lacht. Schwandt hatte sich einst bei Kruecken nach dessen Buch „Wellenbrecher“ gemeldet. Man kam ins Gespräch, war sich auf Anhieb sympathisch, bald entstand die Idee eines gemeinsamen Projektes. Schließlich fuhren sie gemeinsam auf den Nordatlantik, um zu reden und zu schreiben.
Abenteuerroman, Liebeserklärung ans Meer und Leitartikel zugleich
Das Ergebnis liest man nicht, mal verschlingt es – „Sturmwarnung“ ist Biografie und Abenteuerroman, Liebeserklärung ans Meer und Leitartikel zugleich. Geradezu zärtlich beschreibt er das Meer. „Wie unbedeutend, wie winzig ist man im Lauf der Gezeiten, in dieser Landschaft aus Grau und Blau. Man betrachtet diese Welt der Wellen und denkt darüber nach, dass man nur ein Tropfen ist in diesem gewaltigen Meer.“
Gibt es eine Geschichte aus dem Buch, die sie immer wieder erzählen müssen?
Ja, von der Orkanfahrt auf dem Nordatlantik 1955. Sogar das Abendblatt hatte damals berichtet: „Franziska Sartori“ auf dem Atlantik verschollen. Und das haben meine Eltern gelesen. Und dann drei, vier Tage nicht gewusst, was aus mir geworden ist.
Die Wellen waren hoch wie Häuser
„Das Schiff zitterte in den Verbänden, der Stahl schrie, und manchmal kam es mir wie ein Wunder vor, dass der Bug überhaupt wieder hochkam und sich nicht gleich durchs Wasser bohrte, dem Meeresgrund entgegen“, heißt es in „Sturmwarnung“.
Schwandt: Die Wellen waren hoch wie Häuser, erst nach Stunden ließ der Orkan nach. Schließlich wurden wir im Windschatten eines langsameren Schiffes bis nach Lissabon begleitet. Da haben wir dann die ganze Monatsheuer an einem Wochenende auf den Kopf gehauen. Das war orgiastisch – die alten Römer klatschten Beifall aus dem Jenseits.
Kann man das Meer lieben, wenn es das eigene Leben in Gefahr bringt?
Wie ist Ihre Beziehung zum Meer? Ist es reine Liebe? Oder doch eher eine Hassliebe, wenn man die Lebensgefahr im Orkan bedenkt?
Nein, das ist Liebe. Und Abenteuer. Die See ist kein Spielplatz für Laienschauspieler. Wenn ich heute die Menschen sehe, die einhändig über den Atlantik segeln oder auf die höchsten Berge steigen, denke ich immer: Ich musste das Abenteuer nicht suchen, mein Leben war Abenteuer.
Ohne das Meer kann ich nicht sein, heißt es in ihrem Buch. Wie oft sehen Sie noch das Meer?
Ich bin einmal im Urlaub in den Bergen gewesen – einmal und nicht wieder. Das war fürchterlich, das Gewitter hing zwischen den Bergen, und aus den Fichten tropfte mir der Regen in den Nacken. Wenn ich in den Urlaub fahre, dann an die See. Aber das wird in meinem Alter weniger, ich habe schon ziemlich abgebaut. Aber es gibt ja noch die Elbe.
Am Ende kehrt Schwandt stets nach Hamburg zurück
„Hamburg ist im Winter ein großer, grauer Kühlschrank, dessen Tür klemmt“. 1950 hielten Sie es nicht mehr aus. Und sind doch seit Jahrzehnten wieder da. Ist das Heimweh?
Letztendlich schon. Hamburg war mein Ankerplatz, mein Ruhepol nach der Reise. Wenn nicht hier, wäre ich im Baskenland geblieben – da leben norddeutsche Spanier, die sind nicht so sabbelig. Am Ende blieb es eben doch Hamburg.
Ihr Traum vom Meer begann eher als Albtraum, mit harter Arbeit und hartem Leben auf einem lausigen Gaffelsegler. Wollten Sie nie nach Hause zurück?
Das hatte ich mir schon anders vorgestellt. Aber ich wollte nicht zurück, weil ich mich mit dem Wunsch, zur See zu fahren, gegen meine Eltern durchgesetzt hatte. Ich war zu stolz und habe mich durchgebissen.
1,5 Millionen Zigaretten und Fässer voll Rum
Schwandt hat nichts ausgelassen: Er rauchte mehr als anderthalb Millionen Zigaretten und schmökt bis heute – die Rauchpause war ein zentrales „Ritual“ auf dem Schiff. Prügeleien gehörten zwangsläufig zum Landprogramm. Schwandt verfiel dem Alkohol und zog sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf. Seine Zeit als Matrose wäre mit „wild“ zurückhaltend beschrieben, die rauen Sitten auf Meer und an Land hätten ihn manches Mal das Leben kosten können. Und seine Kindheit war ein „Überlebenskampf um Nahrung, Wasser und Wärme“.
Rückblickend betrachtet: Haben Sie eigentlich besonders viel Glück gehabt?
Ja, das kann und muss man wohl so sagen. Aber leicht hatten wir es nie: Ich bin 1942 eingeschult worden und habe meine Kindheit in Luftschutzkellern unter den Trümmern von St. Georg verbracht. Meine Schule war am Hansaplatz – da lernte man alles, was man für sein Leben brauchte. Wir haben uns von Diebstählen ernährt, sind im Freihafen eingebrochen, haben Lkw-Planen aufgeschnitten und mitgenommen, was brauchbar war. Wir mussten uns durchbeißen – so ’n dumm Tüch wie „Work-Life-Balance“ gab es nicht. Heute geht es den jungen Leuten zu gut.
Wie so viele auf See verfiel Schwandt dem Alkohol
Sie hatten auch schlechte Zeiten. Sie beschreiben das Schiff als einen „schwimmenden Pavian-Felsen“, auf dem permanent Alkohol getrunken wurde und viele dem Suff verfielen.
Saufen und Rauchen war unser Alltag – das gab es alles zollfrei. So rutschten viele da langsam, unmerklich rein. Ich habe die klassische Säuferkarriere durchlebt, irgendwann am Morgen nicht mehr gewusst, was am Abend vorher war. Dann habe ich mir immer wieder vorgenommen, weniger zu trinken – und es nicht geschafft. Morgens brauchte ich irgendwann den Klapperschluck gegen das Zittern, der Flachmann war immer dabei. 20 Jahre habe ich getrunken, mit 37 Jahren war dann Schluss: Ich wusste eines Morgens nicht mehr, wie ich mit dem Auto nach Hause gekommen war. Ich erinnere nur noch, dass ich aus Berlin kommend am Grenzübergang die Flasche Korn schon geleert hatte. Dann habe ich einen kalten Entzug gemacht. Und seit 1973 kein Glas mehr angerührt.
Mit seinen politischen Bekenntnissen erntet er Hass und Hetze
Bekannt geworden ist Schwandt nicht nur durch das Buch, sondern auch seine politischen Kommentare. Schon 2016 hat er sich gegen die aufkommende Intoleranz und Ausländerfeindlichkeit der Pegida, dann der AfD gestellt. Seine Facebook-Kommentare wie seine Kolumne in der „Hamburger Morgenpost“ waren stets meinungsstark. Und lösten wütende Reaktionen aus: „Schwandt an die Wand!“, schrieben seine Gegner. Und: „Wenn wir erst an der Macht sind, stellen wir dich vor den Volksgerichtshof und erschießen dich standrechtlich.“ Eine Lesung in Rostock konnte er nur unter Polizeischutz abhalten. Kommt das Thema auf die AfD, wird Schwandt wütend.
Warum haben Sie sich so laut politisch zu Wort gemeldet?
Mein Vater war überzeugter Nazi und ein Ewig-Gestriger, der auch nach dem Zusammenbruch nichts wahrhaben wollte. Ich habe mir von meinem ersten Taschengeld das Buch „Der gelbe Stern“ gekauft und so von den Verbrechen der Nazis erfahren. Ich habe meinem Vater die Bilder der Leichenberge gezeigt, er hat es nicht geglaubt. Aus dem Grund habe ich mich schon sehr früh gegen die AfD gestellt. Ich habe mir geschworen, mit allem, was ich habe, dagegen einzutreten, dass sich dieser Teil unserer Geschichte wiederholt. Ein 1000-jähriges Reich in 100 Jahren ist mehr als genug.
Schmerzt es, dass die AfD heute in Umfragen bei mehr als 20 Prozent steht?
Und wie! Das ist nicht schwer zu verstehen, das ist gar nicht zu verstehen. Der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland ist ein Mann meiner Generation, er kam aus der DDR als Flüchtling und hat im Westen studiert. Und dann stellt sich dieser Mensch hin, wettert gegen alle Flüchtlinge und nennt das Dritte Reich Vogelschiss. Dabei müsste er es besser wissen.
Was Kapitän Schwandt dem Kanzler rät
Stefan Kruecken hat zuletzt das Buch „Das muss das Boot abkönnen. Durch Sturm & Krise. Was wir von Kapitänen lernen können “ veröffentlicht. Käpt’n Schwandt, was kann Olaf Scholz von Ihnen lernen?
Scholz müsste hin und wieder mit der Faust auf den Tisch hauen und den Laden auf Vordermann bringen. Er ist sehr geduldig, für mich zu geduldig.
Ich dachte, als Kapitän muss man Ruhe bewahren …
Das schon. Aber mit dieser Mannschaft wäre ich nie auf See gefahren!
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Im Kapitel „Was ich Euch noch sagen wollte“ gibt der 87-Jährige Ratschläge für ein gelingendes Leben. Erfolg steht seiner Ansicht nach auf drei Beinen: Beruf, Familie und Privates. Funktioniert das eine nicht richtig, gerät das Gebäude in Schieflage, steht aber noch. Bröckeln aber zwei Pfeiler, stürzt das Gebäude ein. Nach dem Sinn des Lebens befragt, zitiert Schwandt Peter Ustinov. Der hatte auf die Frage keine Antwort, sagte aber: Es erscheine ihm wenig sinnreich, als reichster Mann auf dem Friedhof zu liegen.
Jürgen Schwandt steht für eine Generation, die langsam von uns geht. Fleißig, konsequent, zielstrebig, lebensklug. Oft hart zu sich selbst und großmütig zu anderen. Glück, so sagt Schwandt, kann man sich erarbeiten. So ist die „Sturmwarnung“ nicht nur ein Lesebuch, sondern auch ein Lebensbuch.
„Sturmwarnung. Das aufregende Leben von Kapitän Schwandt“, Ankerherz-Verlag, 230 Seiten, 34,90 Euro