Hamburg. Er war Polizeireporter in Chicago und reiste für “Max“ um die Welt. Aber sein größtes Abenteuer war die Gründung des Verlags Ankerherz.

Wir treffen uns an dem Ort, wo alles begann: in einer Hafenkaschemme, wie sie in Hamburg selten geworden ist. Wo der Blick durchs Fenster erst auf der Elbe endet, wo Fischernetze unter der Decke hängen, die Modelle der „Passat“ und der „Pamir“ einträchtig an den Wänden hängen und der Kaffee in Bechern mit aufgedrucktem Seebären gereicht wird. Wir treffen uns in der Haifischbar an der Großen Elbstraße.

Zwölf Jahre ist es her, dass Stefan Kruecken hier mit einem Freund beim Bier saß und eine Idee gebar. Warum nicht einmal Menschen zu Wort kommen lassen, die viel zu erzählen haben? Geschichten von Liebe und Meer, von Sturm und Untergang, ein Buch der Kapitäne? Die Tresenidee ist längst Buch geworden. Und aus der „Orkanfahrt“ ein Verlag. Damals in der Haifischbar begann das Ankerherz zu schlagen.

Dabei war die See Stefan Kruecken nicht in die Wiege gelegt: Das Licht der Welt erblickte er 1975 in Neuss, rund 250 Kilometer vom nächsten Meer entfernt. Sein Großvater war Schichtführer in einer Chemiefabrik, der Vater Beamter, die Mutter Hausfrau. Nur die Sommerfrische führte ihn an die See – vor allem nach Ostende in Belgien. Kruecken nimmt einen Schluck Kaffee: „Für mich ist das Meer seitdem Sehnsuchtsort. Kraftort. Tankstelle. Notausgang.“ Der 43-Jährige erzählt nicht nur in seinen Büchern; er ist ein wahrer Erzähler, dessen warme Stimme etwas dunkler klingt, wenn sie vom Meer erzählt.

Er arbeitete als Polizeireporter in Köln

Krueckens erste berufliche Engagements aber hatten eher mit Blaulicht als dem Meeresrauschen zu tun. 1997 landete er als Polizeireporter in Köln. Den Duft der weiten Welt atmete er ein Jahr später bei der „Chicago Tribune“. Über ein Stipendium wurde er für mehrere Monate Polizeireporter in der drittgrößten Stadt der USA. „Wir arbeiteten aus Sicherheitsgründen nur in Zweierteams“, erinnert sich Kruecken.

„Ein Mord reichte nicht, um rauszufahren – erst bei zwei Toten zogen wir los.“ Binnen eines Jahres wurden damals in Chicago 850 Menschen ermordet – mehr als in ganz Deutschland. Der damals 23-Jährige musste über Fälle berichten, die die Welt erschütterten – wie den Mord an einem elfjährigen Mädchen. Die Täter waren sieben und acht Jahre alt.

Zurück in Deutschland, absolvierte er nach dem Abschluss seines Politikstudiums ein Volontariat beim „Kölner Stadtanzeiger“ und wurde Reporter der Seite 3, für viele junge Journalisten ein Traumjob. Doch Kruecken zog es bald in wieder der Ferne: Mit 24 Jahren wechselte er nach Hamburg, als Reporter beim legendären und viel zu früh verstorbenen Magazin „Max“. In dessen Auftrag jettete er um die Welt – zu Organhändlern in Moldawien, Piraten in Dschibuti, Kindersoldaten in Uganda.

Ernüchternde Gespräche mit Verlagen

Bei diesem Einsatz rissen ihn Schüsse in seiner direkten Umgebung aus dem Schlaf. „In diesem Moment habe ich mich gefragt: Was zum Teufel mache ich eigentlich hier? Da habe ich angefangen, über alles nachzudenken“, erzählt Kruecken. Als Denkhilfe kam hinzu, dass Nachwuchs unterwegs war. „Als die Kinder auf der Welt waren, bin ich ruhiger geworden.“ Inzwischen ist Kruecken Vater von zwei Jungs und zwei Mädchen zwischen fünf und 16 Jahren. Seine Frau Julia hat er bei „Max“ kennen- und lieben gelernt. „Sie ist das größte Glück in meinem Leben“, sagt der Verleger. „Sie macht seit 19 Jahren alles mit.“

Die beiden entschlossen sich in der Medienkrise 2007 zu einem Schritt, für den sie von manchen für „verrückt“ erklärt wurden: Sie gründeten einen Buchverlag. Denn als Krueckens Buch fertig war, verliefen die Gespräche mit fünf Verlagen ernüchternd. „Irgendwann war uns klar: Wir müssen es selbst machen“, sagt Kruecken. Das Paar kratzte Geld zusammen, nahm einen Kredit auf, nebenbei arbeitete Krücken als Chefreporter für „GQ“. 5000 Bücher der „Orkanfahrt“ wurden gedruckt – und fanden begeisterte Leser. 2008 erschien „Sturmkap“, die Geschichte des letzten Überlebenden der Bruderschaft der Kap Hoorniers. In „Wellenbrecher“ ließ Kruecken weitere Kapitäne zu Wort kommen.

„Es war nicht leicht – und es ist bis heute nicht leicht“, sagt Kruecken. Bei Ankerherz sind rund 24 Titel erschienen, darunter sechs „Spiegel“-Bestseller. Dabei sind Treffer auf dem Buchmarkt selten wie Meeresleuchten. „Das ist kein Glück. Das ist harte Arbeit eines ganzen Teams“, sagt Kruecken selbstbewusst. „Wir haben keinen Marketing-Etat, sondern nur unsere Community.“ Die aber wächst beständig über Medien, über Blogs, über Facebook.

„Filiale des Meeres“ sitzt in Hollenstedt

Aktuell findet die Autobiografie des Hamburger Obdachlosen Dominik Bloh reißenden Absatz: „Unter Palmen aus Stahl: Die Geschichte eines Straßenjungen“. „Eine Bekannte hatte mich auf Bloh aufmerksam gemacht“, sagt Kruecken. „Ich habe sofort gemerkt, dass er schreiben kann.“ Als er ihn anrief, lebte Bloh im Winternotprogramm – und war gerade auf dem Weg in die Messehallen, um Flüchtlingen zu helfen. „Das hat mich wahnsinnig beeindruckt.“

100.000-mal verkaufte sich das Buch des Kapitäns Jürgen Schwandt („Sturmwarnung“). Auch die deutsche Ausgabe des Weltbestsellers „Der Sturm“ von Sebastian Junger über das dramatische Schicksal von sechs Fischern in einer Orkannacht wurde zum Erfolg. Mit „Dahoam“ – den Erinnerungen des Skistars Markus Wasmeier – wagte sich Kruecken sogar in die Alpen.

Das Verlagsprogramm ist überschaubar, mehr als vier Bücher werden es nicht im Jahr. Dafür sind alle hochwertig, mit aufwendigen Fotostrecken, Leineneinband, schwedischem Papier, gedruckt in Deutschland. „Wir bauen um jedes Buch eine Welt“, sagt Kruecken. „Nach den Regeln der großen Verlage können wir nicht spielen.“

Jeder Flop ist eine Gefahr

Jeder Flop könnte Ankerherz gefährden. Einige hat er hingelegt. Auf einen ist Kruecken trotzdem stolz: „Wir haben mit ,Goðafoss‘ ein Buch über einen kleinen Dampfer gemacht, den ein deutsches U-Boot im Krieg vor Reykjavík versenkt hat. Bei der Präsentation auf der Frankfurter Buchmesse liefen Täter und Opfer plötzlich aufeinander zu, lagen sich weinend in den Armen, versöhnten sich. Wirtschaftlich mag das Buch eine Vollkatastrophe sein. Aber wissen Sie was? Dafür mache ich Bücher.“

Inzwischen hat Kruecken den Verlag mit 14 Mitarbeitern um zusätzliche Standbeine erweitert: Auf der Website verkauft Ankerherz maritime Mode – Regenjacken, Strickpullover oder Shirts. Aus einer Laune heraus sendet inzwischen Radio Ankerherz von Helgoland. „Es gibt in Norddeutschland keinen vernünftigen Radiosender“, sagt der Fan von Aretha Franklin, Marvin Gaye, Brian Fallon und Gregory Porter. Also gründete er selbst einen.

„Von Mitternacht bis sechs Uhr morgens rauscht das Meer.“ Stündlich gibt es Nachrichten, zudem haben die Programmmacher die Hörbücher von Ankerherz filetiert. Dann gibt es in kurzen Takes Till Demtrøder, der aus „Mayday“ liest, oder Axel Prahl mit Auszügen aus „Inselstolz“. 400.000 Hörer lauschen Radio Ankerherz – von Hamburg bis Haiti. Programmchef Thore Laufenberg streamt von der Hochseeinsel, Stefan Kruecken aus einem Behelfsstudio in Hollenstedt.

Sein Traum ist ein Leuchtturm

Dort hat die Familie ihr Zuhause gefunden – und der Verlag „Im alten Tanzsaal“ seinen Sitz, eine Filiale des Meeres, ein Ankerherz-Laden und Café zugleich. Hollenstedt muss die Hansestadt ersetzen. „Hamburg ist großartig, Hamburg ist unsere Stadt“, sagt Kruecken. „Angesichts der Mieten und der Logistik ist ein Umzug unmöglich. Aber wir sind in einer halben Stunde da.“

Und manchmal zieht es ihn in die Ferne: Ankerherz bietet Abenteuerreisen mit dem Verleger an. Erst vor wenigen Wochen ist er von der Nordatlantik-Tour auf einer Fähre zurückgekehrt: Hier sammelt er 35 bis 40 andere Meerverrückte und fährt gen Norden über die Färöer-Inseln bis nach Island. „Alle waren geflasht von der Natur“, sagt Kruecken, zückt sein Handy und zeigt Bilder von eisbedeckten Bergen und Schneestürmen, Tagen an Land und Nächten unter Deck. „Ab und zu, wenn mich der Hafer sticht, haue ich ab“, sagt Kruecken. Dann bricht der Weltenbummler, das alte Reporterleben in ihm wieder durch.

Irgendwann, da ist sich Kruecken sicher, werden sie am Meer wohnen. Sein Traum ist, einen Leuchtturm zu kaufen. Dort, am Sehnsuchts- und Kraftort. „Berge sind mir im Weg, ich brauche das Meer. Es wirft mich zurück, macht klein, lehrt Demut“, sagt Kruecken. „Das würde vielen guttun.“

Liebeserklärung an das Meer

Bis dahin wird er das Meer verlegen, bereisen, auf Tassen und T-Shirts drucken und beschreiben. Gerade arbeitet er an einer Liebeserklärung ans Meer. Darin werden 25 Kapitäne zu Wort kommen. Längst melden sich alte Seefahrer mit ihren Geschichten und fragen an, ob ihre Erinnerungen für einen Titel taugen. Kürzlich fragte ein Kapitän: „Mich hat ein Flugzeugträger gerammt. Reicht das, um in Ihr Buch zu kommen?“

Ausgewählte Bücher aus dem Ankerherz Verlag erhalten Sie auch in der Abendblatt-Geschäftsstelle und unter www.abendblatt.de/shop

Nächstes Porträt: Andreas Altenburg, Rundfunkmoderator und Erfinder der „Freeses“