Jürgen „Kapitän“ Schwandt hat eigentlich nur sein bewegtes Leben als Seemann erzählt. Doch seine Biografie „Sturmwarnung“ wurde binnen kurzer Zeit zum Bestseller und der Käpt’n selbst zu einer Kultfigur in den sozialen Medien. Alexander Schuller schipperte mit einem Mann durch den Hamburger Hafen, der es mit einfachen Worten, hoher moralischer Kompetenz und klarer Kante schafft, gerade jüngeren Leuten die Welt zu sortieren – doch dafür erhält er inzwischen auch Morddrohungen

Wenn Gefahr droht, dann von Steuerbord. „Schwand t an die Wand!“ lautet die Losung, die diesmal ein Rostocker Troll aus dem Heer der vermeintlich aufrechten Deutschen auf Kapitän Schwandts Facebook-Seite abgesondert hat: „Wenn wir erst an der Macht sind, stellen wir dich vor den Volksgerichtshof und erschießen dich standrechtlich.“

Das kommt davon, wenn man politisch auf der Backbordseite steht und sich für Flüchtlinge, sozial Schwache und mehr Gerechtigkeit öffentlich einsetzt und engagiert. Der Ton an Land ist heutzutage häufig rauer als der auf See, doch davon lässt sich Jürgen Schwandt, Ex-Kapitän und Buchautor, nicht erschüttern, im Gegenteil: „Das fasse ich eher als Kompliment auf. Denn es zeigt mir ja, dass ich ins Braune getroffen habe“, sagt er gelassen, zündet sich mit seinem abgegriffenen Zippo eine weitere Zigarette an und lässt seinen Blick am Kai des Hamburger Museumshafens entlangschweifen.

Wir stehen achtern an Deck der „Hamburger Deern“, die uns Hubert Neubacher von Barkassen Meyer für das Treffen zur Verfügung gestellt hat. „Damit ihr ungestört schnacken könnt“, hatte er vorm Ablegen an Brücke zwei gesagt, und außerdem mache sich ein Foto mit dem Käpt’n immer gut. Schließlich sei der 80-Jährige mittlerweile eine echte Berühmtheit, über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus.

50.000 seiner Bücher sind seit April verkauft worden

Aber nicht nur das. Man könnte den Kapitän auf großer Fahrt und ehemaligen obersten Beamten des Wasserzolldienstes im Hafen auch als „Original“ bezeichnen, aber dieses Klischee würde es nicht richtig treffen. „Authentizität“ dagegen käme wohl besser hin, doch Schwandt verzieht sein zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht mit dem schlohweißen Kinnbart und winkt pikiert ab: „Ich bin, was ich bin. Bloß ein alter Sack von 80 Jahren, der allerdings geprägt wurde von dem, was er erlebt und durchgemacht hat.“

Und das war viel. Und es war auch kein Seemannsgarn, das er spinnen musste. Die Wahrheit reichte locker für ein Buch, von dem seit Mitte April bis heute über 50.000 Exemplare verkauft wurden und das seit 16 Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste steht. Dabei hatte Kapitän Schwandt bloß ausgepackt, sein Verleger und Autor Stefan Kruecken hatte es aufgeschrieben, und so generierten sie gemeinsam mit ihrer „Sturmwarnung“ einen regelrechten Scoop, zur gegenseitigen Bereicherung. Denn wenn die ganze Welt, wie es zurzeit täglich erlebbar ist, offensichtlich aus den Fugen gerät; wenn öffentliche Diskussionen sich in dumpfen, zumeist fremdenfeindlichen Parolen verlieren und geistigen Brandstiftern zu viel Gehör und Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist es auch für Landratten beruhigend zu wissen, dass es da jemanden gibt, der einen inneren moralischen Kompass besitzt und das ganze Malheur wieder kitten könnte, indem er – leicht verständlich – offenbar längst vergessene Wertvorstellungen vermittelt. Jedenfalls ein bisschen.

„Unsere Wischfinger-Generation braucht nicht nur Orientierung, sondern viele sehnen sich doch wieder danach“, befindet der Käpt’n mit knarziger Stimme, die er seit 64 Jahren mit seiner Kettenraucherei pflegt. Früher waren es mindestens zwei Päckchen Filterlose am Tag, heute raucht er die Ultraleichten. Früher hat er auch manchmal gesoffen wie ein Loch. Doch Anfang der 70er-Jahre, als er nach 16 Jahren Seefahrt im Range eines Kapitäns auf großer Fahrt wieder in Hamburg sesshaft geworden war; als er seine Tanzbekanntschaft Gerlinde geheiratet und für sie, wenn auch schweren Herzens, beim Wasserzoll angefangen hatte, merkte er, dass seine Finger schon am frühen Morgen zitterten und er sie nur mit einem daumenbreiten Schluck Whisky ruhigstellen konnte. Schwandt hat einen ziemlich breiten Daumen.

„Daraufhin habe ich mich zum kalten Entzug entschlossen. Das war hart, aber da musste ich durch.“ Seine Gerlinde habe ihm damals ununterbrochen die schweißnasse Stirn abgetupft, als er „im Delirium tremens lag und weiße Mäuse die Wände rauf und runter rennen sah“. Seit 43 Jahren liegen sie im Hafen der Ehe. Glücklich. Doch der Reihe nach: Bis zu Schwandts später Berufung zum Social-Media-Star und Sonnabend-Kolumnisten der „Hamburger Morgenpost“, der sein Lebensmotto („Bloß keinen Streit vermeiden“) wie ein imaginäres Banner vor sich herträgt, war es ein langer und ziemlich harter Lebensweg. Geboren im Jahr 1936 im Stadtteil St. Georg, stammen seine ersten bewussten Kindheitserinnerungen aus den zahlreichen Bombennächten des Jahres 1942, die er mit den beiden jüngeren Geschwistern und seiner Mutter im Luftschutzkeller verbringen musste. Kurze Zeit später nahmen diese Luftangriffe zu, und die Kinder wurden nach Franken „landverschickt“ – die „Operation Gomorrha“ mussten sie nicht miterleben, zum Glück. Der Vater, „ein glühender Nazi, der 1933 gleich in die NSDAP eingetreten ist“, bemerkt Schwandt, erkämpfte sich zu jener Zeit als Major der Infanterie an der Ostfront das Eiserne Kreuz und die silberne Nahkampfspange, wurde dann aber Anfang 1944 verwundet. Nach einem Lazarettaufenthalt in Berneburg wurde der „Kriegsheld“ an den Atlantikwall abkommandiert, was die Landung der Alliierten zwar nicht verhindern konnte, doch so konnte er immerhin der russischen Kriegsgefangenschaft in Sibirien entgehen; bei den Amis war es wärmer, und die Verpflegung war ebenfalls besser.

Als die Familie sich 1950 in Hamburg wieder vereinte, wusste der Sohn, nun 14 Jahre alt, inzwischen über die fürchterlichen Verbrechen der Deutschen Bescheid. „Mit diesen ganzen Sauereien habe ich meinen Vater immer wieder konfrontiert“, erinnert er sich heute, „aber der Alte hat die sechs Jahre Krieg und die Gräueltaten stoisch ausgeklammert.“ Der Junge war jedoch zum einen ein aufmüpfiger Teenager mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, der nicht lockerlassen wollte; zum anderen hatte er damit begonnen, auf Joseph Conrads und Jack Londons abenteuerlustigen Spuren zu wandeln: Er wollte raus aus der bürgerlichen Enge seines Elternhauses, um als Matrose auf See hinauszufahren und die Welt zu sehen. „1952, mit 16, war ich mit der Realschule fertig. In der Seefahrt galt man damals bereits als volljährig. Doch um anheuern zu dürfen, benötigte ich noch eine Einwilligung der Eltern“, erzählt er. Die bekam er dann auch, aber erst nach einem weiteren Familienstreit, „der fast in einer wüsten Schlägerei geendet hatte“. Dieser Generationskonflikt mit dem Vater habe ihn wohl für sein ganzes zukünftiges Leben geprägt, vermutet Jürgen Schwandt und steckt sich eine weitere Zigarette an. „Ich habe mir damals geschworen, dass ich mich ohne Wenn und Aber gegen nazistische Tendenzen positionieren würde – ohne Furcht vor Konsequenzen.“

Doch zunächst musste der Schiffsjunge ganz reale Ängste zu überwinden lernen. Schon auf der ersten Fahrt mit dem 80 Jahre alten Besansegler „Argonaut“ von Hamburg ins belgische Ostende – „ein Seelenverkäufer!“ – bekam er die Schattenseiten des seemännischen Lebens zu spüren. Denn der Kapitän war gleichzeitig Schiffseigner und sparte deswegen, wo er nur konnte. Vor allem beim Essen für die Mannschaft. „Es gab morgens und abends Kaltproviant und mittags immer nur Suppe, die ich dann auch noch kochen musste, obwohl ich keine Ahnung vom Kochen hatte“, erzählt Schwandt. „Und wenn es der Besatzung nicht schmeckte, gab’s sofort was an die Ohren. Also musste ich ganz schnell kochen lernen, auch wenn ich zu Anfang unter Deck dauernd seekrank wurde und kotzen musste.“

Sein erster Monatslohn betrug 40 Mark plus 15 Mark für Überstunden. Die Toilette war ein Eimer, gewaschen wurde sich mit kaltem Salzwasser, geschlafen wurde auf Strohsäcken vorne im Bug, wobei das Rohr der Ankerkette durch seine Koje führte. „Gut fand ich das natürlich alles nicht, aber ich wollte mich durchbeißen.“ Denn mit eingekniffenem Schwanz, geläutert gar nach Hause unter den Pantoffel der Familie zurückzukehren wäre für ihn nicht mal die allerletzte Option gewesen.

Also hielt der Schiffsjunge seine Klappe, sperrte aber Augen und Ohren auf und diente sich so rasch nach oben. Drei Jahre später heuerte Jürgen Schwandt auf der „Franziska Sartori“ an. Gerade mal 19 Jahre alt, war er bereits der dienstälteste Matrose an Bord. Das Ziel der Reise hieß Chicago, aber die „Franziska Sartori“ sollte Amerika zunächst nicht erreichen. „Die Fahrt ging im Winter über den Nordatlantik, wo wir dann am 9. Dezember morgens gegen fünf Uhr in einen Sturm gerieten. Der Wind drehte von West auf Südwest. Ich hatte zwar schon einige Orkane auf See erlebt, aber dieser hier wurde zum Inferno.“ Hochhaushohe Brecher rollten ununterbrochen heran, ließen das Schiff erzittern, und als dann die Maschine ausfiel, wurde der Frachter zum Spielball der Elemente. Er lag plötzlich mit 45 Grad Schlagseite quer zu den Wellen „und dann passierte es“, sagt Schwandt, „ein riesiger Kaventsmann zerschmetterte die Kommandobrücke, die Lichter gingen aus, die Verbindung zum Maschinenraum war tot. Sechs Mann hatten Knochenbrüche davongetragen. Sie schrien vor Schmerzen, aber es gab kein Morphium an Bord.“

Als er versuchte, sich übers Deck zur Brücke vorzukämpfen, um die ­Lage zu sondieren, wäre er fast über Bord gegangen. „Ich bekam gerade noch ein Strecktau zu fassen, und dann hing ich erst mal quer in der Luft. In diesem Moment schloss ich mit meinem Leben ab“, sagt er. „Man glaubt ja gar nicht, was für einen Mist wir hinter dem Horizont häufig ­miterleben mussten.“ Und das Schlimmste sei gewesen, nichts tun zu können, außer hilflos dabei zuzusehen, wie der eiskalte Nordatlantik aus dem Schiff langsam, aber sicher Kleinholz machte.

In dieser entsetzlichen Orkannacht kenterten zwei Handelsschiffe und gingen mit Mann und Maus unter, doch die „Franziska Sartori“ überstand den 24-stündigen Höllenritt. Ein amerikanischer Truppentransporter bedeutete schließlich die Rettung. Der Frachter wurde nach Lissabon geschleppt. „Die Verletzten kamen ins Krankenhaus, der Rest der Mannschaft ließ sich vom Zahlmeister jeweils 500 Mark Vorschuss auf die Heuer auszahlen und verprasste das Geld im Puff“, sagt Schwandt, der nach eigenem Bekunden zwei Tage und drei Nächte „zwischen Plüsch und Popos“ gefeiert haben will. „Wir waren doch lebenshungrige junge Männer – uns dampfte das Testosteron aus allen Poren.“

Verleger Kruecken fand die Kapitänsgeschichten perfekt

Diese und noch viele weitere Abenteuer und Döntjes mehr erzählt Schwandt in seiner sehr persönlich gehaltenen Biografie, die vor schnörkelloser Ehrlichkeit nur so „dampft“ (wenn Ehrlichkeit denn dampfen könnte), die aber nicht zuletzt auch viele selbstironische Kommentare enthält. Auch seinen beruflichen Aufstieg bis hinauf zum Kapitän 1966, als er das Kommando über die „Ludwigsburg“ erhielt, und schließlich seinen Wechsel an Land zum Zoll beschreibt er unterhaltsam. Wer sein Buch liest, lernt diesen Mann jedenfalls gut kennen, inklusive seiner zahlreichen Ecken und Kanten. Selbstbeschönigung, das wird mit jeder Seite deutlicher, ist seine Sache nicht.

Für Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, der vor knapp sieben Jahren gemeinsam mit seiner Frau Julia das Abenteuer einer Verlagsgründung im niedersächsischen Hollenstedt vor den Toren Hamburgs riskierte, passte der Käpt’n jedenfalls perfekt ins Programm. Die ersten drei Bücher des Ankerherz Verlags schrieb der Reporter Kruecken, der unter anderem für den „Stern“, für „Max“ und das Männermagazin „GQ“ durch die Welt gereist war, noch selbst. Und immer ging es in seinen Büchern um echte Kerle, um kernige Typen, um richtige Männer eben, die ein ganz besonderes Schicksal hatten und dabei so weit wie möglich entfernt waren von der artifiziellen Welt des digitalen Overkills.

Gleich 25 von ihnen, allesamt hartgesottene Kapitäne, erzählten Kruecken für seinen Sammelband „Orkanfahrt“ ihre Geschichten. Jürgen Schwandt war einer von ihnen, mit ihm blieb der Autor auch nach der Veröffentlichung in Kontakt. „Die Art und Weise, wie Jürgen Schwandt erzählt, hat mich nachhaltig beeindruckt“, sagt Kruecken. „Er nimmt sich selbst nicht wichtig, sondern nur das, was er tut. Wir haben dann gemeinsam einige Lesungen veranstaltet, in denen es nicht nur um die Seefahrt ging, sondern auch um das, was sie bei ihm bewirkt hat: nämlich Haltung zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen und eine glasklare Position zu beziehen, nicht nur an Bord, sondern auch den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen an Land gegenüber.“

Daraus sei zunächst die wöchentliche Zeitungskolumne entstanden und schließlich die Biografie. Das alles hat dazu geführt habe, dass „Kapitän Schwandt“ als Person des öffentlichen Lebens mittlerweile etwa 140.000 Abonnenten auf seiner Facebook-Seite verzeichnet und täglich mindestens einen Blogbeitrag auf der Ankerherz-Verlags-Site postet. Mehrere Tausend „Likes“ pro Tag sind keine Seltenheit. „Der Stefan hat das Mausoleum geöffnet und den Sargdeckel noch mal aufgeklappt“, scherzt der Käpt’n.

Er macht gerne mal einen Witz, aber sobald es politisch wird, versenkt er das Lachen unter die Wasseroberfläche. Er legt sich nicht nur mächtig ins Zeug, sondern auch sehr häufig an: Am liebsten schießt er gegen die AfD und die Pegida-Bewegung, prinzipiell gegen alles und jedes Extrem, das die Seelen der Menschen seiner Meinung nach vergiften kann: „Ich gratuliere meinem liebsten Spieler Jérôme Boateng zur Wahl ‚Fußballer des Jahres‘. Dr. Gauland ist bestimmt auch ganz begeistert und macht gerade Konfetti aus seinen Parktickets‘!“, bloggte der Käpt’n vor gut drei Wochen.

Und wenn dann ein strammer Wind von rechts heraufzieht, schwillt ihm sofort der Kamm. „Ich habe auf meinen Reisen lernen müssen, weltoffen und tolerant zu sein. Und da draußen konnte ich in der Tat feststellen, dass es überall auf der Welt reizende Menschen gibt, aber natürlich auch das genaue Gegenteil“, sagt er. Das habe nicht mal zwingend etwas mit Religion, Nationalität, Hautfarbe oder der jeweiligen politischen Einstellung zu tun. „Es sind häufig bloß die fehlenden Manieren“, sagt er und zitiert genüsslich aus einem seiner Blogbeiträge: „Ich habe noch gelernt, dass man rechts geht. Heute schiebt die Generation ,Dicke Eier‘ jedoch breitbeinig über den Gehsteig, auch dabei mit Blick aufs Mobiltelefon. Als ich probehalber einfach mal stehen blieb, mich gerade machte und als ‚Wellenbrecher Schwandt‘ fungierte, hagelte es freche Kommentare: ‚Wieso springt der Opa nicht zur Seite?‘“

Oder er schreibt: „Andere Zeitgenossen rotzen überallhin, als gelte es, ein Revier zu markieren. Von Zigarettenkippen, die durch die Gegend geschnippt werden, will ich gar nicht anfangen.Und ja, ich bin wirklich in der Phase ‚grummeliger alter Sack‘ angekommen. Was ich an Rücksichtslosigkeiten beobachte, ließe sich seitenweise kommentieren. Kleine Aufmerksamkeiten wie Türaufhalten, ein freundliches Dankeschön oder jemandem in die Jacke zu helfen sind offenbar komplett aus der Mode gekommen …“

Kapitän Schwandts Botschaften kommen, trotz oder gerade wegen ihrer unmissverständlichen, deutlichen Worte, an, „und das bevorzugt bei jüngeren Menschen“, hat Stefan Kruecken anhand der ihm zur Verfügung stehenden Mediadaten erstaunt festgestellt. „Die Menschen spüren, dass er sich auf der Suche nach der Wahrheit befindet. Und wer taugt in der heutigen Zeit zur Vorbildfunktion? Fußballer?“ Kruecken seufzt. „Außerdem kriegen wir ja auch auf die Fresse für das, was wir tun.“

Selbst auf Lesereisen wird er manchmal angefeindet

Für die ewig Gestrigen hat sich Jürgen Schwandt als willkommene Reizfigur etabliert. Die Drohungen und Beschimpfungen haben inzwischen nicht nur quantitativ, sondern auch an Substanz zugenommen. Sogar auf Lesungen sei inzwischen schon mal gegen den „Negerfreund Schwandt“ gepöbelt worden. „Wenn es zu bunt wird, schalten wir inzwischen die Polizei ein und erstatten Strafanzeige“, sagt Stefan Kruecken. Die Kommentarfunktion des Blogs habe er ebenfalls eingeschränkt.

Zusammen mit dem Käpt’n ist der Verleger zurzeit auf Lesereise. Wiesmoor, Rostock, Norden – drei Tage, drei Städte; sein Leben als Senior sei zurzeit schon „reichlich bewegend“, sagt Jürgen Schwandt. „Ich spüre selbstverständlich die altersbedingten körperlichen Einschränkungen. Aber einen Termin pro Tag, den schaffe ich schon.“ Auf diese Weise falle er aber auch seiner Gerlinde daheim im Speckgürtel der Hansestadt nicht auf die Nerven und könne sich auch der von ihm nicht sehr geschätzten Gartenarbeit auf elegante Weise entziehen. „Rasenmähen tue ich ja manchmal“, sagt er, „aber Unkraut zupfen? Nee. Am besten eine Betondecke drüber und grün anstreichen.“ Seemann bleibe nun mal Seemann, und seine wahre Heimat sei das Meer.

Dennoch möchte Jürgen Schwandt irgendwann an Land bestattet werden. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich eine Anlaufstelle brauche, wo ich trauern kann.“ So besuche er die Gräber seiner jüngeren Geschwister regelmäßig. Sein Bruder ist in Niendorf begraben, seine Schwester auf dem Ohlsdorfer Friedhof. „Dann setze ich mich auf eine Bank und denke still vor mich hin. Und irgendwann stelle ich mir immer wieder die Frage: ‚Würdest du heute gerne noch mal anfangen?‘“ Die Antwort darauf, sagt Kapitän Schwandt, habe er bis heute nicht gefunden.