Bahrenfeld. Experiment „ALPS II“: Hamburger Physiker beginnen Messungen unter Altonaer Volkspark, um ein großes Rätsel der Physik zu lösen.
Es ist eines der größten Rätsel der Physik: Woraus besteht jene mysteriöse Substanz, die Galaxien wie unsere Milchstraße zusammenhält und rund fünfmal häufiger im Universum vorkommen soll als alles, was wir kennen und sehen?
Diese Dunkle Materie setzt sich aus unbekannten Elementarteilchen zusammen, glauben Forschende um den Hamburger Axel Lindner. Der 60 Jahre alte Physiker vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) in Bahrenfeld und seine Mitstreitenden wollen der fundamentalen Frage von heute an mit Messungen an einem neuen Experiment nachgehen, das sich unter dem Altonaer Volkspark befindet.
Forschung in Hamburg: Physiker wollen Dunkle Materie enträtseln
Schon 2011 hatte ein kleines Hamburger Team mit Entwürfen für die Anlage begonnen. „Ich bin erstaunt, dass wir so lange durchgehalten haben“, sagt Lindner. „Wir haben etwas geschafft, worauf ich damals kaum zu hoffen gewagt hatte.“ Aus ihrem Plan ist eine etwa 250 Meter lange Maschine geworden. Sie erstreckt sich nun in einem Tunnel von den Ausmaßen eines U-Bahn-Schachts.
Wer das neue Experiment verstehen will, muss sich die Ausgangslage klarmachen. Forscher schätzen: Die uns bekannte Materie macht nur etwa fünf Prozent des Universums aus. Dagegen bestehen wohl 27 Prozent aus einer anziehenden Substanz, die weder leuchtet noch elektromagnetische Strahlung reflektiert oder abschwächt, sondern sich nur durch ihre Gravitationskraft zu erkennen gibt: Dunkle Materie. Der mit 68 Prozent größte Anteil soll auf die Dunkle Energie entfallen, die den Kosmos auseinandertreibt.
Die ersten Hinweise auf Dunkle Materie stammen von dem Schweizer Astronomen Fritz Zwicky. Er untersuchte Anfang der 1930er-Jahre die Bewegungen von Galaxien in dem 300 Millionen Lichtjahre entfernten Coma-Haufen – und kam zu dem Schluss, dass diese Ansammlung aus Galaxien nicht genug Materie wie Sterne, Planeten und Staub enthalte, um das gigantische Gebilde zusammenzuhalten. Daraus folgerte Zwicky, „dass dunkle Materie in sehr viel größerer Dichte vorhanden“ sei als „die leuchtende Materie“ und für zusätzliche Anziehung sorge.
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Dunkle Materie gibt sich nur durch ihre Anziehungskraft zu erkennen
Anfang der 1970er-Jahre nahm die US-Astronomin Vera Rubin den 2,5 Millionen Lichtjahre entfernten Andromedanebel ins Visier. Obwohl diese Spiralgalaxie an ihren Rändern so schnell rotiert, dass die Sterne und Planeten dort aufgrund der Fliehkraft eigentlich auseinanderfliegen müssten, verhindere Dunkle Materie das wie eine Art Klebstoff, schrieb Rubin.
Seitdem haben viele andere Wissenschaftler das Phänomen bestätigt. Doch weder mit Teleskopen, die sichtbares Licht aus dem All auffangen, noch mit Instrumenten, die andere elektromagnetische Wellen verschiedener Längen wie Gamma-, Röntgen- und Infrarotstrahlung registrieren, wird Dunkle Materie sichtbar. Forschende können nur auf die Existenz der unsichtbaren Masse schließen, indem sie etwa beobachten, wie das Licht ferner Galaxien auf seinem Weg zur Erde abgelenkt und gebeugt wird, weil es unterwegs große Ansammlungen von anziehender Dunkler Materie passiert.
Unbekannte Elementarteilchen könnten Dunkle Materie bilden
Physiker, die hinter Dunkler Materie unbekannte Elementarteilchen vermuten, spüren mit etwa zwei Dutzend Detektoren weltweit den geisterhaften Gesellen nach. Einige Forschergruppen versuchen, Spuren der natürlich vorkommenden Dunkle-Materie-Teilchen direkt nachzuweisen. Andere Kollaborationen wollen die hypothetischen Partikel erzeugen, um überhaupt deren Existenz zu beweisen.
Den zweiten Ansatz verfolgt das Team um Axel Lindner. Es sucht nach sogenannten Axionen oder axionartigen Teilchen – ultraleichte Partikeln, die der Theorie nach nur extrem selten mit bekannten Materieteilchen reagieren, wenn sie auf diese treffen – und deshalb sogar locker durch Wände fliegen können sollen.
Licht-durch-die-Wand-Experiment am Desy soll ultraleichte Teilchen erzeugen
Der Theorie nach könnten Axionen entstehen, wenn Lichtteilchen durch ein starkes Magnetfeld sausen. Ob das stimmt, wollen die Forschenden mit „ALPS II“ untersuchen. Das Experiment sieht aus wie eine riesige Versorgungsleitung. Durch sie hindurch wird aber kein Wasser fließen, sondern Laserlicht fliegen.
Auf dem ersten 120 Meter langen Abschnitt wird der Strahl zwischen zwei Spiegeln hin- und herschießen und dabei immer stärker werden. Unter dem Einfluss eines sehr starken Magnetfeldes sollen sich dann einige Lichtteilchen des Laserstrahls in Axionen umwandeln. Während der Spiegel am rechten Rand der Röhre und eine Wand hinter ihm das Laserlicht stoppen – es kann ja nicht durch Materie hindurch –, sollten die Axionen die Hindernisse durchqueren, da sie Materie meist links liegen lassen.
Forschung in Hamburg: Experiment ist mit fünf Millionen Euro ein Schnäppchen
Hinter der Wand schließt sich eine zweite 120 Meter lange Röhre mit zwei weiteren Spiegeln an Anfang und Ende und einem ebenso starken Magnetfeld an. Darin blieben die erzeugten Axionen zwar unsichtbar. Dass sie existieren, soll sich jedoch durch einen Trick offenbaren: Unter dem Einfluss des Magnetfeldes sollen sie sich wieder in sichtbares Licht zurückverwandeln. Anders gesagt: Tauchten hinter der Wand Lichtteilchen auf, hätten Axionen das möglich gemacht.
Fünf Millionen Euro hat das Experiment gekostet – ein Schnäppchen, verglichen mit anderen Großforschungsanlagen. Neben mehr als 20 Desy-Forschenden engagieren sich Wissenschaftler vom Albert-Einstein-Institut und von der Universität in Hannover sowie von den Unis in Hamburg, Mainz, Gainesville (Florida), Cardiff (Wales) und Odense (Dänemark) bei den Untersuchungen. Mit ersten Veröffentlichungen rechnen die Forschenden für das Jahr 2024. Sollten sie keine Axionen finden und nichts zur Aufklärung des Rätsels um Dunkle Materie beitragen können, ließe sich das Experiment wohl anders weiterverwenden, sagen sie – etwa zum Nachweis einer besonderen Form von Einsteins Gravitationswellen.