Hamburg. Es ist eine mysteriöse Substanz, die Galaxien zusammenhält. Forscher am Deutschen Elektronen-Synchrotron wollen sie nun nachweisen.
Gut 22 Meter unter einer Wiese am Rand des Altonaer Volksparks, auf der Anwohner ihre Hunde Gassi führen, Fußball spielen oder Frisbees werfen, steht Axel Lindner in einem Tunnel von den Ausmaßen eines U-Bahn-Schachts und erzählt von seinem Traum: mithilfe von 230 Tonnen recyceltem Stahl und Niob-Titan eines der größten Rätsel der Physik zu lösen. So weit der Blick zu beiden Seiten reicht, erstreckt sich eine Maschine, deren Bau zehn Jahre zuvor kaum machbar erschien.
Doch der Forscher vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) in Bahrenfeld, ein drahtiger Typ, der sich in seiner Freizeit beim Judo „prügelt“, wie er scherzhaft sagt, blieb hartnäckig – und kämpfte für das Projekt. Nun, wo der Start näherrückt, wirkt der 58-Jährige erst recht energiegeladen. „Überhaupt die Chance zu haben, diese fundamentale Frage zu beantworten …“, setzt Lindner an, während Handwerker mit Kabeln unterm Arm an ihm vorbeigehen, „keiner weiß, ob wir Glück haben“, fährt er fort, ungerührt vom Jaulen einer Bohrmaschine in der Nähe, „in der Lage zu sein, da mitzuspielen – das ist faszinierend“.
Jetzt muss nur noch der TÜV sein Okay geben, damit es losgehen kann.
All das, was wir kennen und sehen, macht nur fünf Prozent des Universums aus
Vier Jahrzehnte sind vergangen, seit Axel Lindner als Jugendlicher mit seinem ersten Teleskop nachts ins All spähte und aus Astronomiebüchern lernte, dass die Abermilliarden leuchtender Sterne und Planeten über ihm und die Erde unter ihm nur einen sehr kleinen Teil des Kosmos bilden. Heute schätzen Wissenschaftler: All das, was wir kennen und sehen, von der Frisbeescheibe bis hin zu rotierenden Spiralgalaxien im All wie unserer Milchstraße, macht wohl nur etwa fünf Prozent des Universums aus.
Dagegen bestehen wohl rund 27 Prozent aus einer anziehenden Substanz, die weder leuchtet noch elektromagnetische Strahlung reflektiert oder abschwächt, sondern sich lediglich durch ihre Gravitationskraft zu erkennen gibt: Dunkle Materie. Der mit etwa 68 Prozent größte Anteil soll auf die abstoßend wirkende Dunkle Energie entfallen, die stärker ist als die Gravitationskraft der Dunklen Materie und den Kosmos immer schneller auseinandertreibt.
Die ersten Hinweise auf die geheimnisvolle Substanz stammen von dem in die USA emigrierten Schweizer Astronomen Fritz Zwicky. Er untersuchte Anfang der 1930er-Jahre die Bewegungen von Galaxien in dem 300 Millionen Lichtjahre entfernten Coma-Haufen – und kam zu dem Schluss, dass diese Ansammlung aus mehr als 1000 Galaxien nicht genug Materie wie Sterne, Planeten und Staub enthalte, um das gigantische Gebilde zusammenzuhalten. Daraus folgerte Zwicky, „dass dunkle Materie in sehr viel größerer Dichte vorhanden“ sei als „die leuchtende Materie“ und für zusätzliche Anziehung sorge.
Anfang der 1970er-Jahre nahm die US-Astronomin Vera Rubin den 2,5 Millionen Lichtjahre entfernten Andromedanebel ins Visier, die unserer Milchstraße nächstgelegene Spiralgalaxie. Obwohl diese an ihren Rändern so schnell rotiert, dass die Sterne und Planeten dort aufgrund der Fliehkraft eigentlich auseinanderfliegen müssten, komme es dazu nicht, weil Dunkle Materie das wie eine Art Klebstoff verhindere, schrieb Rubin. Seitdem haben viele andere Wissenschaftler das Phänomen bestätigt.
Doch weder mithilfe von Teleskopen, die sichtbares Licht aus dem All auffangen, noch mit Instrumenten, die andere elektromagnetische Wellen verschiedener Längen wie Gamma-, Röntgen- und Infrarotstrahlung registrieren, wird Dunkle Materie sichtbar. Forschende können nur auf die Existenz der unsichtbaren Masse schließen, indem sie etwa beobachten, wie das Licht ferner Galaxien auf seinem Weg zur Erde abgelenkt und gebeugt wird, weil es unterwegs große Ansammlungen von anziehender Dunkler Materie passiert.
Dieser als Gravitationslinsen bezeichnete Effekt ist auch für Laien erkennbar auf Aufnahmen, die etwa das Weltraumteleskop Hubble geliefert hat: Zwischen den leuchtenden Sternen einer Galaxie im Vordergrund sieht man Bögen und Streifen – Zeichen der dahinter liegenden Galaxien. Indem Astronomen dieses verzerrte Licht kartieren, können sie die Menge der unsichtbaren Masse und ihre Verteilung einschätzen.
Ein Experiment, bei dem Licht scheinbar durch Wände geht
Während Dunkle Energie so mysteriös ist, dass Physiker bisher kaum über vage Theorien zur Aufklärung des Phänomens hinausgekommen sind, gibt es immerhin Lösungsansätze für das Rätsel, woraus der unsichtbare „Sternenkitt“ Dunkle Materie bestehen könnte: Unbekannte Elementarteilchen bilden dessen Bausteine, glauben viele Forschende weltweit – und lassen nicht locker in dem Bemühen, mit etwa zwei Dutzend Detektoren in Amerika, Asien und Europa den geisterhaften Gesellen nachzuspüren.
Einige Wissenschaftler-Kollaborationen wollen die hypothetischen Partikel erzeugen, um überhaupt deren Existenz zu beweisen. Andere Forschergruppen versuchen, Spuren der natürlich vorkommenden Dunkle-Materie-Teilchen direkt nachzuweisen. Weil Dunkle Materie auch weitläufig in unserer Heimatgalaxie verteilt sein sollte, müsste eine große Zahl dieser Teilchen auch die Erde durchqueren, so die Annahme.
Einer dieser Kandidaten ist das Axion, ein ultraleichtes Partikel, das der Theorie nach nur extrem selten mit bekannten Materieteilchen reagiert, wenn es auf sie trifft – und deshalb sogar locker durch Wände fliegen können soll. Nach diesem Partikel sollen in Hamburg mindestens vier neue Experimente suchen und die Hansestadt so zu einem Zentrum für die weltweite Axionen-Forschung machen. Am weitesten gediehen ist ALPS (Any Light Particle Search), untergebracht in jenem Tunnel, in dem Axel Lindner von den „vielen Unmöglichkeiten“ des Projekts erzählt.
Der Physiker führt im Untergrund entlang an einer Kette aus weißen Modulen, die zusammen wie eine riesige Versorgungsleitung aussehen. Durch sie hindurch wird aber kein Wasser fließen, sondern Laserlicht fliegen. Auf dem ersten 120 Meter langen Abschnitt wird der Strahl zwischen zwei Spiegeln hin- und herschießen und dabei immer stärker werden. Unter dem Einfluss eines sehr starken Magnetfeldes, so die Theorie, sollen sich dann einige Lichtteilchen (Photonen) des Laserstrahls in Axionen umwandeln.
Der Clou: Während der Spiegel am rechten Rand der Röhre und eine Wand hinter ihm das Laserlicht stoppen – es kann ja nicht durch Materie hindurch –, sollten die Axionen die Hindernisse mit Leichtigkeit durchqueren, da sie Materie meist links liegen lassen. Hinter der Wand schließt sich eine zweite 120 Meter lange Röhre mit zwei weiteren Spiegeln an Anfang und Ende und einem ebenso starken Magnetfeld an. Darin blieben die erzeugten Axionen zwar unsichtbar. Dass sie existieren, soll sich durch einen Trick offenbaren: Unter dem Einfluss des Magnetfeldes sollen sie sich wieder in sichtbares Licht zurückverwandeln. Anders gesagt: Tauchten hinter der Wand Lichtteilchen auf, hätten Axionen das möglich gemacht.
So weit, so theoretisch. Die praktischen Herausforderungen bei den ersten Planungen für das Projekt im Jahr 2011 begannen für Axel Lindner und seine Mitstreitenden unter anderem mit dem Problem, wie sie überhaupt das benötigte starke Magnetfeld erzeugen sollten. Sinnvoll ginge das nur mithilfe der Supraleitung, also der Eigenschaft bestimmter seltener Materialien, bei einer Kühlung auf Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt elektrischen Strom verlustfrei zu leiten. Durch solche Drähte können etwa 10.000-mal höhere Ströme fließen als durch einen Kupferdraht des gleichen Querschnitts. Deshalb lassen sich mit supraleitenden Spulen sehr starke Magnetfelder erzeugen.
Das ALPS-Team hatte eine Idee: Könnten sie nicht die supraleitenden Magnete von HERA nehmen, des größten Desy-Teilchenbeschleunigers, der seit 2007 außer Betrieb war? Mit Experimenten in dieser 6,3 Kilometer langen Maschine unter dem Volkspark trugen Forschende erheblich zum Verständnis der bekannten Materie bei, indem sie die innere Struktur des Protons entschlüsselten – Protonen bilden mit Neutronen den Kern von Atomen, den winzigen Bausteinen der sichtbaren Welt.
Nun könnten HERA-Module eine neue Verwendung finden für die Erforschung der unsichtbaren Welt, schlugen Lindner und seine Kollegen dem Desy-Direktorium vor. Das aber wollte die Filetstücke aus einer Niob-Titan-Legierung nicht herausrücken. Neue Magnete hätten pro Stück bis zu einer Million Euro gekostet. Die Forschenden brauchten im Idealfall 24 davon, so ihre Berechnungen. Viel zu teuer. Was nun?
Das ALPS-Team um Lindner suchte auf dem Gelände des Forschungszentrums nach Ersatz – und hatte Glück: „In einer alten Lagerhalle fanden wir 24 Reservemagnete für HERA“, erzählt der Physiker. Lindner ist nicht abergläubisch, aber genau 24 Stück … „Das war dann der Wink des Schicksals, dass man es wirklich realisieren muss“, sagt er.
Aber schon gab es das nächste Problem. Für das Dunkle-Materie-Experiment waren absolut gerade Module nötig, um das Laserlicht wie geplant hindurchzuschießen. HERA war allerdings ein Beschleunigerring gewesen. Deshalb waren auch die Strahlrohre in den 9,60 Meter langen und 9,5 Tonnen schweren Ersatzmagneten gekrümmt – zwar nur um 16 bis 17 Millimeter, aber diese Biegung hätte das Laserlicht „anecken“ lassen. Sie mussten also die Magnete geradebiegen.
Man muss kein Ingenieur sein, um sich vorstellen zu können, dass ein baumstammdicker Riegel nicht so leicht in Form zu bringen ist wie ein Kupferdraht. Zum Glück halfen „Desyaner“, die sich mit den alten Modulen auskannten, zuvorderst der pensionierte Beschleuniger-Direktor Dieter Trines.
Von ihm organisiert machten sich Ingenieure ans Werk. Sie öffneten ein Modul an drei Stellen: Links und rechts außen steckten sie Stützen hinein; in der Mitte drehten sie eine Schraube mit einem Druck von vier Tonnen gegen die Strahlrohre im Inneren.
„Es gab viele Leute, die sagten, das funktioniert nie“, erzählt Lindner. „Wir haben allerdings in der Entwicklung von ALPS sehr oft die Worte ,geht nicht‘ gehört – und am Ende ging es doch immer, sogar mitten in der Corona-Pandemie.“
Jeder Magnet ist etwa so schwer wie acht Kleinwagen
Es war allerdings ein Geduldsspiel: Allein fünf Jahre gingen ins Land, ehe die ersten drei Magnete gerade gebogen waren. Denn ALPS war ein Teilzeit-, ja Freizeitprojekt. Einige beteiligte Ingenieure waren hauptsächlich mit dem Aufbau von Hamburgs und Schleswig-Holsteins international beachtetem Vorzeigeprojekt beschäftigt, dem 1,5 Milliarden Euro teuren Super-Röntgenlaser European XFEL. Bei dem Dunkle-Materie-Projekt halfen sie, wenn es ihre Zeit zuließ. Doch je mehr Übung das Team hatte, desto schneller kam es voran.
Die begradigten Magneten, jeder etwa so schwer wie acht Kleinwagen, wurden mit einem Kran sechs Stockwerke tief in den Untergrund befördert und in einem geraden Abschnitt der ehemaligen HERA-Anlage installiert. Dort warten nun 230 Tonnen Stahl und Niob-Titan auf ihren Einsatz – auch so kann Recycling aussehen. Fünf Millionen Euro kostet das Experiment, ein Schnäppchen verglichen mit anderen Großforschungsanlagen.
Seit dem Start vor zehn Jahren ist das ALPS-Team erheblich gewachsen: Neben mehr als 20 Desy-Forschenden um Axel Lindner engagieren sich Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Einstein-Institut) und vom Institut für Gravitationsphysik der Universität Hannover sowie von den Universitäten in Mainz, Gainesville (Florida) und Cardiff (Wales).
Die leichten Axionen, Mitglieder der WISP-Familie (weakly interacting slim particles), führten lange ein Nischendasein als Dunkle-Materie-Kandidaten. Stattdessen galten zunächst andere hypothetische Teilchen als Favoriten: schwere, schwach wechselwirkende Partikel – WIMPs (weakly interacting massive particles).
1984 erklärte der einflussreiche US-Physiker Edward Witten in einem Aufsatz, wie sich WIMPs nachweisen lassen könnten: mit Detektoren, die in ehemaligen Minen oder unter Bergen gegen kosmische Strahlung abgeschirmt seien und so ungestört Hinweise auf schwere Dunkle-Materie-Kandidaten registrieren könnten. Seitdem sind allein fünf solcher Experimente in Laboren unter dem Gebirgsmassiv Gran Sasso in Italien eingerichtet worden.
Dort beobachten etwa Forschende in dem Projekt XENON, ob sich in einem Tank mit 3,5 Tonnen des flüssigen Edelgases Xenon unerwartete Veränderungen zeigen – was darauf hindeuten könnte, dass ein Gasteilchen mit einem vorbeisausenden schweren WIMP kollidiert sei, so eine die Theorie. Doch weder in diesem Experiment noch anderswo ließen sich WIMPs bisher aufspüren.
Weil sich die schweren Kandidaten einfach nicht zeigen wollen, nimmt die Suche nach den Leichtgewichten wieder an Fahrt auf. „Als wir anfingen, waren wir Exoten, wurden mitunter belächelt“, sagt Axel Lindner. „Heute ist die Axionen-Forschung schon fast Mainstream.“
Leicht wird es deshalb für die ALPS-Mitarbeitenden nicht. Lindner führt im Tunnel unter dem Volkspark rechts entlang bis zum Ende der Magnetmodule. Dort ist in einem hell erleuchteten Reinraum Todd Kozlowski zugange, Doktorand der University of Florida. Er trägt einen weißen Ganzkörper-Schutzanzug, Handschuhe und eine Mund-Nasen-Maske, um bloß nichts schmutzig zu machen. Keine Haare, kein Staub oder Fett sollen den Spiegel hier stören, der mit den anderen Spiegeln das hin- und herfliegende Laserlicht verstärkt.
Die Ausrichtung der Spiegel zueinander müsse sich um wenige Millionstel Millimeter genau kontrollieren lassen, damit es eine gute Chance auf den erhofften Verwandlungsprozess gebe, sagt Axel Lindner. Berechnungen zufolge dürfte sich in dem ALPS-Experiment nur jedes hundertmilliardste Lichtteilchen in ein Dunkle-Materie-Teilchen verwandeln – und nur jedes hundertmilliardste Axion wieder zu einem Photon werden.
Gelänge es Lindner und seinen Mitstreitenden, Axionen zu erzeugen, deren Eigenschaften zu messen und deren Masse herauszukriegen, dann könnten andere Wissenschaftler gezielter forschen, die Spuren natürlich vorkommender Axionen direkt nachweisen wollen.
Eben dies zu schaffen, davon träumt Erika Garutti. Die Professorin vom Institut für Experimentalphysik der Universität Hamburg vertritt ihre Forschung mit einem fröhlichen Optimismus und kraftvoller Stimme. Wenn nötig, redet Garuttti auch mal gegen den Wind an, damit durchdringt, wie sie und ihr Team die Grenzen des technisch Machbaren zu verschieben versuchen, um Axionen auf die Schliche zu kommen.
So stellte sie sich im Sommer 2019 für einen Vortrag auf eine Barkasse. Mitgebracht hatte sie eine Aufnahme der Andromeda-Galaxie, aufgeklebt auf Pappe. Anhand des kosmischen Motivs erläuterte Garutti, was es mit Dunkler Materie auf sich haben könnte, während das Boot vor der Elbphilharmonie auf den Wellen schwankte und eine Böe die Fischbrötchen-Servietten vom Tisch fegte. Auch hier im Hafen könnte es Axionen geben, bis zu einer Trillion dieser Teilchen könnten in einem Liter enthalten sein, erklärte die Forscherin vor den Gästen, die große Augen machten.
Mit festem Boden unter den Füßen steht die 47-Jährige Anfang September auf dem Campus Bahrenfeld am Desy in einem Labor mit drei Meter dicken Wänden aus Schwerbeton, die störende Signale etwa von Mobilfunk abhalten. Über einem Tisch mit Computermonitoren hängt die Aufnahme der Andromeda-Galaxie – als ständiger Ansporn, welch galaktisch großes Rätsel es zu lösen gilt. Auf Werkbänken liegen eine Steckdosenleiste, Spannungsmesser und Kabel.
Dunkle-Materie-Teilchen sollen zu Mikrowellen werden
Dazwischen sticht ein silbern glänzendes Bauteil von der Größe eines Mini-Ofens hervor: fünf hintereinandermontierte Metallringe, die einen Hohlraum bilden. Es ist der Entwurf für den zentralen Teil eines Experiments, das mit allen geplanten Bauteilen allerdings viel größer ausfallen wird, etwa so groß wie ein Lkw. MADMAX (Magnetized Disc and Mirror Axion Experiment) nennen die Forschenden ihr Projekt – und ja, ein bisschen verrückt sei das Ganze wirklich, sagt Garutti.
Aber nicht hoffnungslos. Neben ihrem Hamburger Team und Desy-Wissenschaftlern beteiligen sich Forschende in München, Aachen, Tübingen, Saragossa, Marseille und Saclay bei Paris an dem Experiment. Wie ALPS soll auch MADMAX als ein Verstärker fungieren, aber auf andere Weise. Ein starkes Magnetfeld gehört auch hier zum Konzept. Durch dieses Magnetfeld wird aber kein Laserlicht fliegen, um Axionen künstlich zu erzeugen.
Stattdessen sollen 80 sandwichartig hintereinanderplatzierte Scheiben mit je einem Meter Durchmesser für eine Offenbarung sorgen: Flögen durch diesen Aufbau natürlich vorkommende Axionen, könnten sich die unsichtbaren Teilchen an den Scheibenoberflächen in extrem schwache Mikrowellen umwandeln, so die Theorie. Diese ließen sich mit extrem empfindlichen Detektoren messen.
Wie die Forschenden sichergehen wollen, dass solche Mikrowellen auf Axionen hindeuten? „Supereasy“, sagt Garutti. „Wir schalten das Magnetfeld aus – und das Ganze verschwindet.“
Bastelarbeit mit Scheiben in Bierdeckelgröße
Es gibt da allerdings – man hatte es irgendwie geahnt – eine Herausforderung. Garutti holt einen weißen Karton hervor, in dem perfekt eine Margherita Platz finden könnte. „Es gibt Pizza“, sagt die Forscherin grinsend. Zum Vorschein kommt allerdings eine halbdurchsichtige Scheibe, die aus sechseckigen verklebten Einzelstücken besteht. Dieses Unikat ist aus Lanthan-Aluminat, einem Material, das Berechnungen zufolge die beste Wahl sein könnte für die Umwandlung von Dunkle-Materie-Teilchen in Mikrowellen.
Weil diese Mikrowellen zunächst sehr schwach sein sollten, müssten sie zwischen den 80 hintereinander platzierten Scheiben verstärkt werden, um messbar zu sein. Damit das funktionierte, müssten alle Scheiben so glatt sein, dass Unebenheiten auf ihrer Oberfläche nicht größer ausfallen als zehn Mikrometer, ein Zehntel des Haardurchmessers, erläutert Erika Garutti.
Mit dieser Präzision könnten spezialisierte Firmen jedoch nur Plättchen von der Größe eines Bierdeckels herstellen. Mehr sei technisch nicht möglich. Also bleibt dem Hamburger MADMAX-Team nichts anderes übrig, als sehr viele kleine Stücke zu Scheiben mit einem Durchmesser von je einem Meter zusammenzufügen.
Die Forschenden haben eigens dazu eine Maschine gebaut, mit der sie nun erproben, mit welchen Klebstoffen sich die kleinen Kacheln annähernd perfekt glatt miteinander verbinden lassen. „Solche Scheiben sind noch nie gebaut worden“, sagt Garutti. „Es ist fast unmöglich.“
Gelänge es, bräuchte die MADMAX-Kollaboration noch einen besonderen Magneten, der etwa dreimal stärkere Felder erzeugt als ein Kernspin-Gerät im Krankenhaus. Allein dieses Bauteil würde einen zweistelligen Millionenbetrag kosten, schätzt Garutti.
In einem weiteren abgeschirmten Labor gleich nebenan arbeitet ein Team um den Physikprofessor Dieter Horns von der Universität Hamburg an einem weiteren neuen Experiment zur Suche nach Dunkler Materie: BRASS (Broadband Radiometric Axion Searches). Es besteht aus einer silbernen Parabolantenne mit zweieinhalb Meter Durchmesser, die an eine überdimensionierte Satellitenschüssel erinnert, und einem Empfänger.
Beide Geräte arbeiten so ähnlich wie eine Fernsehantenne; sie sind aber eine Trillion Mal empfindlicher. Wenn ein Axion auf die Reflektoroberfläche trifft, sollte eine elektromagnetische Welle erzeugt werden, hoffen die Forschenden. Durch die große Fläche des Reflektors könnten viele Teilchen gleichzeitig auftreffen, sodass genügend elektromagnetische Wellen entstehen sollen, um sie zu messen. BRASS soll in anderen Frequenzbereichen nach Dunkler Materie suchen als MADMAX.
Damit nicht genug, entsteht am benachbarten Desy ein weiteres Gerät, das vierte im Bunde der neuen Hamburger Dunkle-Materie-Experimente. Es heißt BabyIAXO und ist ein Teleskop, welches auf das Zentrum der Sonne gerichtet werden soll. Denn in unserem Zentralgestirn sollen ständig Axionen erzeugt werden, die unablässig auf die Erde niederregnen, so die Theorie.
Als „Baby“ bezeichnen die Forscher dieses Instrument übrigens, weil es der Prototyp für ein größeres und leistungsfähigeres Experiment namens IAXO sein soll. Die Abkürzung steht für Internationales Axionen-Observatorium.
Der TÜV muss zustimmen, damit es losgehen kann
Während die Teams von BRASS und MADMAX noch Arbeit vor sich haben, ist ALPS bereit für die ersten Messungen. Nun ja – fast bereit. Es ist Mitte September, Axel Lindner sitzt in seinem Büro; er hat an diesem Tag eine Besprechung mit dem TÜV.
Für den Betrieb der mühevoll geradegebogenen supraleitenden Magneten ist eine Kühlung auf minus 269 Grad mithilfe von flüssigem Helium nötig. Dieses gelangt von einer Kühlhalle auf dem Desy-Gelände in Bahrenfeld durch eine 1,6 Kilometer lange Leitung zum ALPS-Experiment unter der Erde. Weil in den Leitungen im Extremfall ein Druck von bis zu 20 bar auftreten kann, gilt, dass Desy damit Druckbehälter betreibt, die nach der Betriebssicherheitsverordnung vor Inbetriebnahme durch eine zugelassene Überwachungsstelle geprüft werden müssen.
Damit das Helium problemlos in die Magnete fließt, mussten Ventile erneuert oder besser abgedichtet werden. Noch sind diese Arbeiten nicht abgeschlossen. „Wir machen nicht nur Hightech, sondern auch Lowtech“, sagt Axel Lindner. Von Mitte Oktober an könnten die TÜV-Prüfer den Drucktest durchführen, hofft der Forscher. „Zehn Jahre Vorbereitungen, wir stehen kurz davor, immer wieder gibt es kleine Schritte, sodass es sich verzögert.“ Er seufzt.
Nach der Überprüfung der Heliumleitung könnte das ALPS-Team mit dem Abkühlen der Magnete beginnen. Im November könnte der Testbetrieb beginnen – und anschließend würden die ersten Messungen stattfinden. „Dann“, sagt Axel Lindner, „hätte ich ein tolles Weihnachtsfest.“ Ein schönes Geschenk für ihn wäre: ein Axion.