Hamburg. Die Situation bei Hamburgs Ärzten ist dramatisch: Mitarbeiter des Wilhelmstifts schreiben Brandbrief an Lauterbach und Leonhard.

Nein, die Maske bleibt auf. Das sind die Regeln in allen Arztpraxen, Krankenhäusern, im Nahverkehr sowieso. Und „Nahverkehr“ – das ist hier sowieso das Stichwort. Dr. Christoph Kemen, Leiter der Notaufnahme am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt und Oberarzt der Pädiatrie, macht im Gebäude keine Ausnahme. Davor lässt er sich auch ohne Mund-Nasen-Schutz fotografieren. Nur im Haus fühlt es sich in diesen Tagen so an wie bei der Hamburger Hochbahn zur Stoßzeit.

Die kleinen Patienten und ihre Eltern strömen geradezu ins Haus. Nach Corona – dabei ist die Pandemie noch gar nicht vorbei – rollen Wellen von Grippeviren und RSV durch die Schulen, Kitas und Kinderzimmer. Das Tückische an diesem Respiratorischen Synzytialvirus ist: Es wird über feine Tropfen durch die Luft verbreitet, beim Husten und Niesen. Die Hatschi-Etikette ist bei kleinen Kindern verständlicherweise nicht so ausgeprägt, die Tröpfcheninfektion pflanzt sich fort.

RSV, Corona und Grippe: Wann Kinder wirklich zum Arzt müssen

Oberarzt Kemen muss dafür sorgen, dass sie es nicht auch noch in der Notaufnahme tut. Gleichzeitig könnte sich RSV über damit befallene Oberflächen verbreiten, wenn Kinderhände sie berühren. Die Viren finden dann ihren Weg über die Bindehaut der Augen und die Nasenschleimhaut zu den Kindern, die sich die Augen reiben und an die Nase fassen. Zwar können RSV-Infektionen in jedem Alter auftreten, für Babys sind sie aber besonders gefährlich. Daran sollten auch Geschwister erinnert werden.

Dr. Christoph Kemen leitet die Notaufnahme im Wilhelmstift.
Dr. Christoph Kemen leitet die Notaufnahme im Wilhelmstift. © Unbekannt | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Kinderärztin Dr. Charlotte Schulz aus einer Gemeinschaftspraxis in Hoheluft sagte: „Es ist zunächst nicht entscheidend, welcher Erreger für die Atemwegsinfektion verantwortlich ist. Wichtig ist der Zustand des Kindes. Wenn es Kindern, vor allem Säuglingen unter sechs Monaten, sehr schlecht geht, sie kaum trinken und apathisch wirken, müssen sie in eine Praxis. Ist die am Wochenende nicht geöffnet, sollten sie in eine Notaufnahme.“

Fiebersäfte in Apotheken Mangelware

Die Sprecherin des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg sagte, viele Eltern seien verunsichert. Dazu trägt bei, dass Fiebersäfte und sogar Antibiotika für Kinder derzeit in den Apotheken Mangelware sind (das Abendblatt berichtete). Das Krankenhaus Wilhelmstift und die Kinderärztin weisen darauf hin, dass Kita- und Schulkinder mit einem (auch fieberhaften) Erkältungsinfekt nicht zum Arzt müssen, wenn sie in einem guten Allgemeinzustand sind, also regelmäßig essen und trinken.

„Bei fiebernden Kindern kommt es darauf an, wie alt sie sind. Wenn bei unter Einjährigen die Ursache für das Fieber nicht ganz klar ist, sollte das Kind einem Arzt vorgestellt werden. Ein drei, vier Jahre altes Kita-Kind mit einem fieberhaften Erkältungsinfekt muss nicht sofort zu einer Ärztin. Da kann man ein paar Tage mit Fieber abwarten, wenn das Kind gut trinkt und keine Atemnot hat.“

Arztruf 116 117 entlastet Krankenhäuser

So gelte für die Kinder, die zu Hause ihre Malaise auskurieren, dass sie selbst dann nicht in die Praxis zur neuerlichen Untersuchung müssen, wenn sie ein Attest für die Schule brauchen. Das nimmt den Ärzten Zeit von der Uhr, die sie für schwere Fälle brauchen.

Die Krankenhäuser empfehlen zur eigenen Entlastung, den Arztruf 116 117 der Kassenärztlichen Vereinigung anzurufen. KV-Sprecher Jochen Kriens sagte, unter der Nummer könnten sowohl der Bereitschaftsdienst als auch die Terminservicestelle erreicht werden. Die KV tue derzeit alles, um die Schichten der Notfallpraxen zu verstärken.

Ärzte schreiben Brandbrief an Karl Lauterbach

Bei den niedergelassenen Ärzten wie den Klinikmitarbeitern ist die Stimmung von Fassungslosigkeit gegenüber der Politik geprägt. Ihrer Überlastung und ihrem Unmut hat die Mitarbeitervertretung des Wilhelmstifts Luft verschafft.

In einem Brandbrief an Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Sozialsenatorin Melanie Leonhard sowie ihre designierte Nachfolgerin Melanie Schlotzhauer (alle SPD) beklagen sie unter anderem, dass nicht alle behandlungsbedürftigen Kinder stationär aufgenommen werden können. Sie werden auf andere Hamburger Häuser verteilt und, weil dort ebenfalls Mitarbeiter fehlen, auch ins Umland gefahren.

Leitung des Wilhelmstifts unterstützt Protest

„Dass Kinder und ihre Familien aus Hamburgs Osten dann nach Itzehoe, Neumünster, Lübeck oder sogar bis nach Flensburg verlegt werden müssen, ist kaum zu ertragen und kann nicht im Sinne der Gesundheitspolitik sein“, heißt es in dem Brief. „Das Warten mit einem kranken Kind ist für die Angehörigen oft schwer zu ertragen. Dadurch nimmt die psychische und physische Gewalt gegenüber den Mitarbeitenden stetig zu. Trotz einer professionellen Triagierung können Patienten mit hoher Behandlungspriorität häufig nicht im vorgeschriebenen Zeitraum von einer Ärztin oder einem Arzt gesehen werden.“

Ausdrücklich ermuntert in ihrem Protest wird die Belegschaft des Wilhelmstifts von der Leitung. Geschäftsführer Henning David-Studt erklärte: „Wir unterstützen das Vorhaben der Mitarbeitervertretung, sich direkt an politische Entscheider zu wenden, um auf die derzeitige Lage aufmerksam zu machen.“

Ärzte fordern: Bürokratie muss reduziert werden

Ärzte und Pflegekräfte fordern von der Politik: Die Bürokratie mit ihren aufwendigen Dokumentationen müsse reduziert werden. Kinderkrankenhäuser sollten vom Bezahlsystem mit Fallpauschalen (DRGs) ausgespart werden. Die Quoten und Kontrollen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen behinderten eine vernünftige Versorgung der Kinder.

Die niedergelassenen Kinderärzte hatten vor Wochen schon an Leonhard geschrieben. Dass die Praxen so berstend voll seien, habe mit falscher Politik zu tun. Die Kassenärztliche Vereinigung erklärte dem Abendblatt: „Die eigentlichen Gründe für die Überlastung sind struktureller Natur. Laut Bedarfsplanungsrichtlinie des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss; die Red.) ist Hamburg im Bereich der vertragsärztlichen Pädiatrie mit 110 Prozent statistisch überversorgt, das Gebiet ist für zusätzliche Sitze also gesperrt.“

RSV, Corona und Grippe: Viele Leistungen werden nicht vergütet

KV-Sprecher Jochen Kriens sagte: „Die Neupatientenregelung wird abgeschafft, noch immer bekommen die Hamburger Praxen einen Großteil der erbrachten Leistungen von den Krankenkassen nicht vergütet, sie erhalten weder einen Inflations- noch einen Energieausgleich.“