Hamburg. Nur noch drei der 16 allgemeinen Großen Strafkammern werden aktuell Haftsachen zugeteilt. Neuer Präsident im Abendblatt-Gespräch.

Es sind besonders herausfordernde Zeiten. Ein hoch belasteter Justizbetrieb durch Corona-Einschränkungen. Dazu stetig steigende Verfahrenszahlen, die die Strafkammern an die Belastungsgrenze bringen. Das Strafjustizgebäude wird allmählich zu eng und müsste längst grundlegend saniert werden. Und die Zivilkammern haben mit konstant hohen Eingangszahlen zu kämpfen.

Und doch sieht Bernd Lübbe, seit einem Monat Präsident des Hamburger Landgerichts, positiv in die Zukunft. „Wir erfahren eine neue Qualität der Zusammenarbeit der Gerichte. Wir arbeiten darüber hinaus erfolgreich mit der Justizbehörde zusammen“, sagt der Topjurist. „Wenn man so große Themen hat, ist das wertvoll.“

Bernd Lübbe seit 1987 im Hamburger Justizdienst

Das Erfreuliche wertschätzen – und die Schwierigkeiten benennen und anpacken: Vielleicht sind es diese Eigenschaften, die den unter Kollegen fachlich und menschlich hochgeschätzten Bernd Lübbe jetzt in eines jener Spitzenämter gebracht haben, die die Justiz zu vergeben hat.

Damit ist der 63-Jährige, der seit 1987 im Hamburger Justizdienst tätig ist, Chef von circa 250 Richtern sowie etwa 300 Mitarbeitern im nichtrichterlichen Dienst. Das zweitgrößte Landgericht Deutschlands hat aktuell vor allem bei den Strafprozessen extrem viel zu tun.

Zahl der Strafverfahren in Hamburg gestiegen

„Die Zahl der neu eingegangen Strafverfahren bei uns stieg von 395 im Jahr 2019 auf 438 im vergangenen Jahr. Und es geht weiter in die Höhe“, sagt Lübbe. Vor allem durch die Entschlüsselung des überwiegend für Verbrechen genutzten Handykommunikationssystems Encro-Chat und der Verhaftung von mehr als hundert Verdächtigen, denen der Prozess gemacht werden soll, nimmt die Belastung immer weiter zu.

Aktuell können nur noch drei der 16 allgemeinen Großen Strafkammern – von insgesamt 33 Großen Strafkammern – weitere neue Haftsachen zugeteilt werden. Alle anderen gelten als überlastet. Das heißt, sie haben so viele laufende Verfahren zu bewältigen, dass sie einen Prozess mit Angeklagten in Untersuchungshaft, der innerhalb bestimmter Fristen begonnen werden muss, nicht mehr rechtzeitig terminieren könnten.

„Verzögerungen bei Streitigkeiten um Mieten"

„Das Präsidium muss regelmäßig auf Überlastung reagieren“, erklärt Lübbe. „Man kann Ressourcen umsteuern, die Kammern personell verstärken, Hilfsstrafkammern bilden.“ So werde auch immer wieder Personal von den Zivil- auf die Strafkammern umverteilt. „Das führt nicht selten dazu, dass es zulasten des Zivilverfahrens geht, also dass es zu Verzögerungen bei Streitigkeiten beispielsweise um Handwerkerrechnungen, bei Mieten, Versicherungsleistungen kommt“, bedauert der Jurist.

Ohnehin blieben die Bestände bei den Zivilverfahren auf hohem Niveau, sie seien teilweise „unverträglich hoch“, warnt Lübbe. „Wir müssen Wege finden, wie man bestimmte Dezernate entlasten kann. Aber zugleich müssen wir alles dransetzen, dass es in den Strafverfahren nicht zu Haftentlassungen kommt.“ Auf Dauer werde es jedoch immer schwieriger, Haftentlassungen zu vermeiden.

Keine Räumlichkeiten für große Verfahren

Noch seien viele Encro-Chat-Verfahren bei der Staatsanwaltschaft anhängig und würden demnächst ebenfalls bei den Gerichten eingehen, so der Landgerichtspräsident. Darüber hinaus sei mit Sky ECC ein weiteres verschlüsseltes Handynetzwerk durch Ermittler geknackt worden.

„Es ist klar, dass sehr große Mengen Verfahren auf die Strafjustiz zurollen“, weiß Lübbe. „Wir brauchen weitere Große Strafkammern mit Unterbau, also auf den Geschäftsstellen, mehr Wachtmeister und Protokollführer.“ Aber damit ist es noch nicht getan. Jüngst ging ein Encro-Chat-Verfahren mit elf Angeklagten beim Landgericht ein. Unter Corona-Bedingungen, wenn also in den Verhandlungssälen ausreichend Abstand zwischen den Beteiligten gehalten werden muss, gibt es für so ein großes Verfahren im Strafjustizgebäude keine adäquaten Räumlichkeiten.

Messehallen als Option denkbar

„Es ist eine Herausforderung, einen passenden Raum zu finden“, bekennt Lübbe. Wären die Messehallen eine Lösung? Dort gäbe es genügend Platz, sie liegen nahe an Strafjustizgebäude und Untersuchungsgefängnis, sodass ein Transport der Angeklagten aus ihren Zellen in den Gerichtssaal nicht allzu aufwendig wäre. „Wir müssen abwarten, was machbar ist“, sagt der Landgerichtspräsident zurückhaltend.

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Überhaupt wird es im gut 140 Jahre alten Strafjustizgebäude zunehmend eng. „Aktuell gibt es den Plan, das Gebäude aufzustocken und so weiteren Platz für Verhandlungssäle sowie Büros zu schaffen“, so Lübbe. „So wäre es möglich, die Strafjustiz in einem Haus zu erhalten.“ Darüber hinaus müsse ein Großteil des Komplexes komplett saniert werden. „Die Vorbereitungen laufen.“

Lübbe: „Ich koche sehr, sehr gern“

Das Büro des Präsidenten liegt allerdings im Ziviljustizgebäude, das dem Strafjustizgebäude am Sievekingplatz gegenüberliegt. Wenn Lübbe dort am Schreibtisch sitzt, blickt ihm ein triumphierender Muhammad Ali nach dessen Weltmeisterschafts-Kampf gegen Sonny Liston über die Schulter.

An einer Wand lehnt ein Fahrrad, weitere Flächen sind mit Bildern geschmückt, die das Meer zeigen. Damit hat der 63-Jährige einen Teil seiner Hobbys gut in die Einrichtung integriert: das Fitnessboxen gegen den Sandsack, das Verreisen, das Fahrradfahren. Lübbe liebt darüber hinaus das Lesen, sehr gern Krimis, und den Gesellschaftstanz mit seiner Frau. „Und ich koche sehr, sehr gern.“

Viele junge Richter am Hamburger Landgericht

Als „rundum positive Entwicklung“ empfindet es Lübbe, dass beim Landgericht sehr viel junge Richter arbeiten. „Als ich 1987 hier angefangen habe, war ich gefühlt umgeben von älteren Männern in grauen Anzügen, die sehr viel Respekt einflößten“, erzählt der Jurist. „Es gab eine ganz andere Stimmung, als wir sie heute haben. Das Landgericht hat sich mittlerweile in einer Weise verjüngt, die ich nicht für möglich gehalten hatte.

Es bringt großen Spaß mit so jungen, hoch motivierten und hervorragend ausgebildeten Juristen.“ Dass sich beim Gericht Karriere und Familienplanung durch großzügige Elternzeit-Regelungen sehr gut vereinbaren ließen, bringe der Justiz einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Anwaltskanzleien um die guten Leute. „Und aus jungen Richtern werden ganz schnell erfahrene Richter.“

Videokonferenzen bei Hamburger Ziviljustiz eingeführt

Hochzufrieden ist Lübbe zudem mit der Einführung der elektronischen Akte. „Sie hat eine irrsinnige Bedeutung“, erläutert der Landgerichtspräsident. Es sei ein „Jahrhundertvorhaben“. In den ersten sechs Zivilkammern laufe das Projekt „ganz hervorragend. Ich möchte den Kollegen dafür danken.“ Die Vorteile der elektronischen Akte: „Man spart Papier, man hat die Möglichkeit, von jedem Ort auf die Akte zuzugreifen.“

Auch die Videokonferenz als weitere Form der Digitalisierung habe erfolgreich Einzug in die Hamburger Ziviljustiz gehalten, freut sich Lübbe. „Die Teilnehmer sitzen in ihren Büros und können an den Sitzungen teilnehmen.“ So werde die Reisetätigkeit der an den Verfahren beteiligen Anwälte reduziert. „Das ist ökonomischer“, betont der Landgerichtspräsident Lübbe. „Und ich bin sicher, dass sich das nach Corona so fortsetzen wird.“