Hamburg. Das Abendblatt hat zwei geflüchtete Forscherinnen gesprochen, die hier für die Zukunft ihres Landes arbeiten – und an den Sieg glauben.
„Mama, wann fahren wir zurück“, fragt ihr zweijähriger Sohn Luka täglich. Er vermisst seinen Vater. Bald, sagt Maria Fedoruk dann und erzählt von Helden mit Superkräften, die in ihrer Heimat gegen Schurken kämpfen. Wie soll sie das Grauen erklären, das sie selbst nicht begreifen kann?
Die 34-Jährige ringt mit Schuldgefühlen, weil sie vor dem russischen Angriffskrieg flüchtete und nun in Hamburg in Sicherheit ist, während in der Ukraine so viele Menschen täglich um ihr Leben fürchten. Als sie vor Kurzem die Bilder aus Butscha sah, von Toten mit gefesselten Händen, brach ihre mühsam bewahrte Fassung zeitweise zusammen. „Ich habe eine Nacht lang nicht geschlafen“, erzählt sie mit brüchiger Stimme.
Flüchtlinge in Hamburg: Auswirkungen werden untersucht
Fedoruk kann nichts zur militärischen Verteidigung ihres Landes beitragen. Also zwingt die junge Frau sich zu einem nüchternen Pragmatismus, um auf andere Weise zu helfen – als Wissenschaftlerin für Umweltfragen. In einem Forschungsprojekt der HAW in Lohbrügge will Fedoruk Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt in der Ukraine untersuchen. Es sind diverse Schäden zu erwarten, etwa Verseuchungen des Bodens und des Grundwassers und Luftverschmutzung durch zerstörte Treibstofftanks und brennende Fabriken. Hinzu kommen gewaltige Mengen an Schutt und militärischem Schrott, in den Städten, auf dem Land, in der Natur.
All das werde eine Rolle spielen, wenn es um den Wiederaufbau ihres Landes gehe, an den sie jetzt auch schon denke, sagt Maria Fedoruk in ihrem kleinen Büro auf dem HAW-Campus am Ulmenliet. Sie spricht von nachhaltigen ukrainischen Städten, die an den Klimawandel angepasst sind. „Darin liegt auch eine Chance“, erklärt sie und wischt sich Tränen aus ihren Augen. „Wie Sie sehen, versuche ich, optimistisch zu sein.“ Ohne diese Haltung wäre sie nicht in der Lage, sich um ihren Sohn zu kümmern. „Ich muss doch an die Zukunft denken.“
Krieg erschüttert auch die Wissenschaft
Der russische Angriffskrieg, er erschüttert auch die Gemeinschaft der Wissenschaft in der Ukraine – und viele Projekte im Land mit wissenschaftlicher Unterstützung. Maria Fedoruk hatte 2019 ihre Doktorarbeit abgeschlossen. Ihr Fachgebiet ist die Kreislaufwirtschaft, ein Modell für Nachhaltigkeit, bei dem Produkte so lange wie möglich geteilt, repariert und recycelt werden, um möglichst wenige neue Ressourcen zu verbrauchen. In dieser Funktion arbeitete sie seit 2020 in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk für die Nichtregierungsorganisation „Warm City“. Deren Vision: eine fortschrittliche, nachhaltige Stadt mit warmherzigen Menschen.
Dann begann der russische Überfall. Vom ersten Kriegstag im Februar 2022 an habe auch Iwano-Frankiwsk unter Beschuss gestanden, erzählt Fedoruk und zeigt auf ihrem Handy ein Video vom Flughafen der Stadt, über dem schwarze Rauchwolken aufsteigen. Hätte sie kein Kind, sie wäre dageblieben, sagt die 34-Jährige. Ihr Ehemann brachte Maria und Luka am zweiten Kriegstag zur slowakischen Grenze. Von dort aus reiste Fedoruk nach Hamburg.
Einladung nach Hamburg
Denn aus der Hansestadt hatte sie eine Einladung erhalten, die ihr in dieser Lage wie ein Wunder erschienen sei, erzählt die Wissenschaftlerin. Der HAW-Professor Walter Leal, Experte für Nachhaltigkeit und Mitautor des jüngsten Weltklimaberichts, bot ihr an, erneut als Gastforscherin an die Hochschule zu kommen. Ihn hatte sie 2014 im Rahmen einer Sommerakademie in Polen kennengelernt. 2017 arbeitete Fedoruk mit einem Stipendium der Deutschen Bundesstiftung Umwelt erstmals an der HAW. Anschließend ging sie in die Ukraine zurück, veröffentlichte allerdings gemeinsam mit Leal mehrere wissenschaftliche Artikel.
„Es ist nicht nur eine Freude, sondern unsere Pflicht, Kollegen und Kolleginnen wie Frau Dr. Fedoruk zu unterstützen“, sagt Leal. Im Übrigen könne die Lehre und Forschung hierzulande profitieren von den Fachkenntnissen geflüchteter ukrainischer Wissenschaftler.
Fedoruk erhielt ein Stipendium
Auch die Wissenschaftsbehörde will bedrohten Forschenden und Studierenden aus der Ukraine dabei helfen, dass sie von Hamburg aus ihrer Arbeit nachgehen gehen können und stellt dafür zunächst 100.000 Euro bereit. Für das Programm „Scholars at Risk“ seien bisher zwei Anträge bewilligt worden, teilte die Behörde auf Anfrage mit. „Wissenschaft und Forschung können gerade in dieser schwierigen Zeit eine wichtige Brücke bilden“, sagt Senatorin Katharina Fegebank (Grüne).
Maria Fedoruk erzählt, die Deutsche Bundesstiftung Umwelt habe ihr erneut ein Stipendium angeboten, als der Krieg begann. Damit und aus Ersparnissen bestreite sie nun ihren Lebensunterhalt in Hamburg. Nur einige Straßen vom HAW-Campus am Ulmenliet entfernt hat sie eine Wohnung bekommen, in der inzwischen auch ihre Mutter Zinaida lebt. Die 70-Jährige hatte Iwano-Frankiwsk zunächst nicht verlassen wollen. Doch als sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte, sei sie von einer Bekannten mit nach München genommen worden, von wo aus ihre Mutter mit dem Zug nach Hamburg kam, erzählt Maria Fedoruk.
Ehemann noch in der Ukraine
Ihr Ehemann, ein Ingenieur, harrt noch in Iwano-Frankiwsk aus. Er hat eine kleine Firma, arbeitet als Internetdienstanbieter für Dörfer in der Region und wolle helfen, dass die Daheimgebliebenen zumindest digital in Kontakt bleiben und zusammenhalten können. Zudem helfe er dabei, Ausrüstung für die Armee zu kaufen. Noch sei ihr Ehemann nicht zum Kriegsdienst einberufen worden; bisher kämpften hauptsächlich ukrainische Männer mit militärischer Ausbildung für ihr Land, sagt Fedoruk. Ihre Wohnung in Iwano-Frankiwsk hätten sie acht Geflüchteten zur Verfügung gestellt; ihr Mann lebe nun in einem Haus mit zwei Großmüttern.
Das Paar spricht täglich via WhatsApp miteinander. Auch ihrem Mann zuliebe versuche sie, positiv zu denken, sagt Maria Fedoruk: „Wenn wir geflüchteten Frauen in Depressionen versinken, hilft das unseren Männern nicht – sie müssen wissen, dass wir in einer guten Verfassung sind.“
Liubchenko unterrichtet Studenten von Hamburg aus
Auch Vira Liubchenko nutzt das Internet, um ihre Verbindungen in die Ukraine aufrechtzuerhalten. Die Informatik-Professorin lehrte und forschte an der Odessa National Polytechnic University. Am 6. März verließ sie die Hafenstadt im Süden des Landes und reiste nach Hamburg. Hier lebt die 50-Jährige nun bei einer ukrainischen Klassenkameradin. Ihre wissenschaftliche Arbeit setzt Liubchenko als Gastprofessorin an der HAW fort.
Kurz vor dem Telefonat mit dem Abendblatt hat sie ein Seminar für ukrainische Masterstudierende gegeben – online. Einige von ihnen lebten nun unter russischer Besatzung in den Städten Kachowka und Cherson, sagt die Professorin; andere hielten sich in Lwiv im Westen des Landes auf, wieder andere seien nach Polen, Rumänien und nach Deutschland geflohen. „Ich bin froh, dass meine Studierenden noch leben.“
Hochschulen trotz Krieg in neues Semester gestartet
Hamburg sei eine so ruhige, schöne Stadt, sagt Liubchenko und schweigt für einen Moment. „Es ist sehr schwer zu verstehen, wie im 21. Jahrhundert ein solcher Krieg in meinem Land beginnen konnte. Ich kann es nicht fassen, dass dort nun schöne, geliebte Städte total zerstört werden.“ Zum Beispiel Charkiw in der Ostukraine, nach der Hauptstadt Kiew das bedeutendste Wissenschafts- und Bildungszentrum des Landes. „Ich habe viele Freunde dort“, sagt Liubchenko. „Es war eine so eindrucksvolle Stadt. Wenn ich jetzt Fotos und Videos von dort sehe … es ist ein Schock.“ Charkiw sei nicht mehr wiederzuerkennen.
- Wie ein Hamburger Bilder aus der Ukraine in die Welt schickt
- Wie Ukrainer in der Hansestadt einen Job finden
- Tschentscher: "Keine großzügige, aber faire Vereinbarung"
Trotz schwerer russischer Angriffe an vielen Orten in der Ukraine hätten etliche Hochschulen wie geplant mit dem neuen Semester begonnen – digital. „Wir versuchen alles, wir müssen an der Zukunft arbeiten“, sagt Vira Liubchenko. Die Informatik-Professorin geht davon aus, im Sommer in die Ukraine zurückkehren zu können. „Ich hoffe das nicht, ich glaube daran“, sagt sie entschieden. Die ukrainische Armee werde siegen.
Flüchtlinge in Hamburg: Fedoruk glaubt an Sieg
Auch Maria Fedoruk sagt, sie glaube an einen Sieg. Sie könne gar nicht anders. „Wenn es keinen Sieg für uns gibt, wird es keine Ukraine geben. Dann werde ich keine Heimat haben, in die ich zurückkehren kann.“