Hamburg. Ihr Schicksal berührte viele Leser. Im Januar hat das Mädchen ein Spenderorgan bekommen. Zweiter Teil der Abendblatt-Geschichte.

Bevor Lilly an diesem Sonnabend im Januar ihr Zimmer im UKE für immer verlässt, hält sie noch einmal ihr Handy an den 90 Kilogramm schweren Rollcontainer, durch den ihr Blut fließt. Sie will das Geräusch speichern, das sie seit nunmehr 19 Monaten begleitet. Tschick, Tschick, Tschick. Tag und Nacht hat das Kunstherz geschlagen, verbunden mit Kanülen in ihrem Bauch. 5280-mal in der Stunde. 126.720-mal am Tag. Lillys eigenes Herz wäre viel zu schwach dafür gewesen. In dieser Nacht vom 18. auf den 19. Januar 2020 wollen Chirurgen im UKE ihr krankes Herz entnehmen und ein neues einsetzen. Das Herz eines Kindes, das gerade in einem anderen europäischen Land gestorben ist. Es soll, das ist der Plan, Lilly ein neues Leben bescheren.

Ein Novembertag im Hamburger Westen. Zwei Heizstrahler glühen gegen die Kälte, der Besuch der Abendblatt-Reporter findet auf der Terrasse des Einfamilienhauses statt – und natürlich mit großem Abstand.  Alles andere wäre in Corona-Zeiten ja auch absurd. Denn natürlich darf sich vor allem Lilly auf gar keinen Fall anstecken. Wie jeder Empfänger eines Spenderorgans muss sie Medikamente gegen Abstoßungsreaktionen nehmen – entsprechend geschwächt ist ihr Immunsystem.

Die Nacht, die Lillys Leben für immer in ein Vorher und Nachher teilt, liegt zu diesem Zeitpunkt zehn Monate zurück. Und wer Lillys Schicksal nicht kennt, würde niemals denken, dass sie so schwer krank war. Die Zehnjährige, lange Zöpfe, wissbegieriger Blick, zappelt mit ihren Beinen: „Ich bin so aufgeregt.“

Es gibt viel zu wenig Spenderorgane

Lilly brennt darauf, ihre Geschichte zu erzählen. Einmal hat sie es im Abendblatt schon getan, unter dem Namen „Lilly“, den sie sich selbst ausgesucht hat, so viel Privatsphäre muss sein. Vor einem Jahr berührte die Geschichte des Mädchens, das eineinhalb Jahre die Intensivstation für herzkranke Kinder nicht verlassen durfte, viele Leser. Die Eltern hatten sich damals nur aus einem Grund entschieden, die Tür zu ihrem Privatleben einen Spalt zu öffnen. Vor der Abstimmung im Januar 2020  über ein neues Organspendegesetz im Bundestag sollte die Öffentlichkeit erfahren, was es für Betroffene bedeutet, dass es viel zu wenig Spenderorgane gibt. Und das gilt auch heute noch, wenngleich Corona scheinbar alles verdrängt. Zugleich wollen sie anderen betroffenen Familien Mut machen.

Der Abendblatt-Bericht landete damals per Mail in den Postfächern aller Abgeordneten. Doch der Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, dass jeder Bürger künftig aktiv widersprechen solle, wenn er keine Organe spenden möchte, erhielt nicht die erforderliche Mehrheit. „Unsere Enttäuschung war riesig“, sagt Lillys Vater.

Der Zufall führt mitunter eigenwillig Regie. Denn 48 Stunden nach der Abstimmung bittet eine Ärztin Lillys Mutter aus dem Krankenzimmer: „Wir haben ein Organangebot für Ihre Tochter.“ Die Mutter ist so überwältigt von der Nachricht, dass sie den Anruf beim Ehemann der Medizinerin überlässt. Währenddessen ruft Lilly, ganz aufgeregt, ihre Brüder, die Oma, ihre Cousine und ihre engsten Freundinnen an, um die lang ersehnte Nachricht zu verkünden. Der Vater fährt mit den Söhnen sofort in die Klinik.

Professionalität statt Hektik

Oberarzt Dr. Alexander Bernhardt, Leiter der UKE-Herztransplantation, bummelt an diesem 18. Januar mit seiner Freundin und dem achtjährigen Sohn durch die Ikea-Filiale in Altona. Am Vorabend hat er bis 22 Uhr operiert, dieses Wochenende, so hat er es versprochen, soll nur der Familie gehören. Doch dann klingelt sein Handy. „Alex, wir haben das Angebot für ein Spenderherz“, meldet eine Kollegin aus dem UKE. Bernhardt lässt sich die anonymisierten Daten per Mail schicken. Er scrollt durch Blutwerte und Ultraschallberichte. Alles passt, ein exzellentes Herz. „Wir nehmen es“, entscheidet Bernhardt. Die Freundin fährt ihn direkt ins UKE. Der Herzchirurg weiß: Ab jetzt läuft die Zeit.

Ein Hoch auf die Gesundheit: Lilly wird von Tag zu Tag fitter. Das Trampolin steht im Garten.
Ein Hoch auf die Gesundheit: Lilly wird von Tag zu Tag fitter. Das Trampolin steht im Garten. © Mark Sandten | Unbekannt

In den 2000er Jahren zählte Bernhardt zu den besten deutschen Ruderern. Ein Sport, der neben Kraft, Ausdauer und Willen auch Nervenstärke verlangt. Wer bei einer Regatta überzieht, das Ruderblatt im Vierer oder Achter einen Tick zu spät oder früh eintaucht, zerstört den Traum von einer Medaille. In der Transplantationsmedizin könnte ein der Eile geschuldeter Fehler eine Katastrophe auslösen. Deshalb gilt hier erst recht: Professionalität statt Hektik. Bernhardt bespricht mit seinen Kolleginnen und Kollegen die weiteren Schritte, telefoniert mehrfach mit den Experten der Deutschen Stiftung Organspende. „Organspende bedeutet Teamarbeit“, sagt Bernhardt.

 Er holt den Instrumentenkoffer und die Styroporbox mit reichlich Eis, um das Spenderherz zu kühlen, beides steht immer griffbereit in der Herzklinik. Während sich ein zweites Team auf die Transplantation im UKE vorbereitet, fährt Bernhardt am späten Nachmittag mit seinem Kollegen Dr. Jens Brickwedel zum Flughafen Fuhlsbüttel, wo ein Learjet auf sie wartet. Sie sind zu zweit, obwohl auch nur einer das Herz entnehmen könnte.  „Das Vier-Augen-Prinzip erhöht die Sicherheit“, sagt Bernhardt.

Es geht um jede Minute

Das  Ziel kennen nur die beiden Piloten und die beteiligten Mediziner, auch Lillys Eltern werden weder vom UKE noch von der Stiftung Deutsche Organspende jemals etwas über den Spender erfahren, nicht einmal Alter, Geschlecht oder Nationalität. „Schon der Respekt vor dem Spender und dessen Angehörigen gebietet absolute Vertraulichkeit“, sagt Bernhardt. Bei jeder Organentnahme bewegt ihn die Dankbarkeit für diesen Akt der selbstlosen Nächstenliebe – besonders gegenüber den Eltern, die wie in diesem Fall ihr Liebstes verloren haben und nun bereit sind, die Organe ihres Kindes zu spenden, um ein anderes Leben zu retten.

Am Zielflughafen holt ein Krankenwagen die beiden Mediziner ab und fährt sie in die Klinik. Dort haben Ärzte wie vorgeschrieben den vollständigen und endgültigen Ausfall aller Hirnfunktionen ihres kleinen Patienten festgestellt, nur ein Beatmungsgerät und Medikamente halten die Organfunktionen in Gang. Doch die Hamburger Chirurgen warten noch ab, Kollegen aus Österreich, die die Lunge des Kindes entnehmen wollen, verspäten sich etwas. Bernhardt und Brickwedel halten ständig Kontakt mit dem UKE. Schließlich öffnen sie den Brustraum des verstorbenen Kindes, klemmen die Hauptschlagader ab, spülen es mit einer Konservierungslösung und legen es in die Kühlbox.

Nun geht es wirklich um jede Minute, in spätestens vier Stunden muss das Herz wieder schlagen. Ein  Krankenwagen fährt die Chirurgen und die kostbare Fracht zurück zum Flughafen. Noch ein Anruf unmittelbar vor dem Rückflug gegen Mitternacht nach Hamburg: „Alles gut gelaufen. Wir starten jetzt.“

Quälendes Warten

Auf der Intensivstation hat Prof. Rainer Kozlik-Feldmann, Chef der UKE-Kinderkardiologie, unterdessen noch ein Abschiedsfoto von Lilly, ihrer Familie, Pflegekräften und Ärzten gemacht. Trotz der Masken ist die ungeheure Anspannung zu sehen. 19 Monate war dieses Zimmer im zweiten Stock Lillys Reich. Mit Bergen von Kuscheltieren, Spielekonsole, Bildern und einer Dartscheibe. Die Station durfte sie nie verlassen: Die Batterien spenden nur Energie für 30 Minuten, zudem muss ein OP-Saal immer in unmittelbarer Nähe sein, falls das Kunstherz versagen sollte. Bei Kindern wie Lilly ist der Brustkorb zu klein, um das Pumpensystem direkt zu implantieren. Erwachsene tragen die Steuereinheit mit Batterien außerhalb des Körpers in einem Rucksack, sind also deutlich mobiler.

Lillys Reich im UKE: Von Juni 2018 bis Januar 2020 durfte sie die Intensivstation für herzkranke Kinder nicht verlassen.
Lillys Reich im UKE: Von Juni 2018 bis Januar 2020 durfte sie die Intensivstation für herzkranke Kinder nicht verlassen. © Mark Sandten | Unbekannt

Während Lilly für die Operation vorbereitet wird, räumen die Eltern und die Brüder das Zimmer auf, zwei Autos stopfen sie voll. Und dann beginnt das quälende Warten. Minute um Minute. Stunde um Stunde. Irgendwann schicken die Eltern die Söhne nach Haus, gehen in das UKE-Familienbaumhaus in eine der drei für Angehörige von herzkranken Kindern reservierte Wohnungen. Oft haben sie hier mit Blick auf den Eppendorfer Park Kraft getankt für den zermürbenden Klinikalltag. Aber nun?

„Man steht neben sich“, sagt der Vater.

„Man starrt nur gegen die Decke“, sagt die Mutter.

Gegen 2:30 Uhr hören sie, wie ein Rettungswagen mit Martinshorn auf das UKE-Gelände fährt. „Da könnte jetzt Lillys neues Herz drin sein“, denken sie.

Das neue Herz schlägt das erste Mal in Lillys Brustkorb

Und in der Tat eilen Bernhardt und Brickwedel  in dieser Minute mit der Eisbox in den OP-Saal. Dort haben die Chirurgen Prof. André Rüffer, Dr. Yousuf Al Assar und Dr. Daniel Biermann Lillys Brustkorb bereits geöffnet, alle Vernarbungen beseitigt, um später Zeit zu gewinnen. Doch mit der Entnahme des kranken Herzens haben sie gewartet. Schließlich hätte der Rettungswagen auf der Fahrt ins UKE in einen Unfall geraten können. Dann hätten die Chirurgen die Operation abbrechen und Lilly wieder an das Kunstherz anschließen müssen. Ein Alptraum. Aber Lillys Lebens wäre nicht in Gefahr geraten.

Doch das Herz in der Eisbox steht nun bereit. Bernhardts Job ist erledigt. Dennoch bleibt er im OP. Er könnte das Herz auch wieder einsetzen, er kann das und genügend Adrenalin hat er im Blut.  „Aber die Gefahr ist zu groß, dass man sich nach einem solchen Einsatz überschätzt und einen Fehler macht“, sagt er.

Also schaut Bernhardt zu, wie seine Kollegen das Herz einnähen.  Das OP-Team schließt Lilly an die Herz-Lungen-Maschine an. Rüffer, Al Assar und Biermann durchtrennen Haupt- und Lungenschlagader, entnehmen um 3:10 Uhr Lillys krankes Herz. Dann vernähen sie Stich für Stich das Spenderherz.  Um 4:09 Uhr öffnen sie die Klemme an der Ader, das neue Herz schlägt das erste Mal in Lillys Brustkorb, zunächst unterstützt von der Herz-Lungen-Maschine. Das Herz pumpt exzellent, die Chirurgen können die Maschine komplett entfernen. Sie stillen das Blut, schließen den Brustkorb.

Es gibt keine Komplikationen

Es gibt keine Komplikationen, alle im OP sind erschöpft, aber glücklich. Gegen 5:30 Uhr macht sich Bernhardt auf den Heimweg, holt noch Brötchen. Sein Sohn ist schon wieder wach.

Auch Lillys Eltern haben in dieser Nacht kein Auge zugetan. Wie auch?  An diesem Sonntagmorgen dürfen sie zu ihrer Tochter auf die Intensivstation. Sie schläft, wird noch beatmet. Das neue Herz aber schlägt weiter zuverlässig, alle Werte sind ermutigend.

Im 6100 Kilometer entfernten New York freut sich Prof. Hermann Reichenspurner über die guten Nachrichten aus Hamburg. Der Bayer ist, man darf das sagen, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Herzchirurgie. Patienten aus aller Welt legen ihr Herz in seine Hände.  Als er 1967 als achtjähriger Junge auf dem Schwarz-Weiß-Fernseher seiner Eltern fasziniert sah, wie Christiaan Barnard im südafrikanischen Groote-Schuur-Krankenhaus in Kapstadt als erster Chirurg ein Herz verpflanzte, war seine Begeisterung für diese Profession geweckt. Er studierte Medizin, transplantierte 1987 – also zwanzig Jahre nach  Barnards Premiere – sein erstes Herz, ebenfalls im Groote-Schuur-Krankenhaus. Seitdem hat er diese Operation 400-mal gewagt, weltweit als einer der ganz wenigen Spezialisten für Erwachsenen- und Kinderherzen.

Reichenspurner ist sieben Tage 24 Stunden erreichbar

„Eigentlich war klar, dass ich auch Lilly operieren werde“, sagt Reichenspurner. Sein nächster Satz - „Ich bin sieben Tage 24 Stunden erreichbar“ – lässt erahnen, wie oft Hamburgs  Ballettdirektor und Ehrenbürger John Neumeier auf seinen Ehemann  verzichten muss. Aber als das Organangebot kam, war Reichenspurner eben bei einem Kongress in New York, der Rückflug hätte viel zu lange gedauert. „Zum Glück haben wir ein erstklassiges Team in Hamburg aufgebaut, auf das ich mich zu hundert Prozent verlassen kann.“ 

Direkt nach seiner Rückkehr in Hamburg eilte Reichenspurner zu seiner kleinen Patientin.  „Das ist ein total liebenswertes und selbstbewusstes Mädchen“, sagt der Chirurg. Lachend erinnert er sich an manche Visiten: „Wenn ich in den Ferien in ihr Zimmer kam, hat sie oft gesagt, dass sie jetzt aber noch schlafen will.“ Zu Weihnachten gab es gegenseitig Geschenke: Lilly überreichte allen Mitarbeitern stolz selbstbemalte Becher. Das UKE-Team schenkte ihr etwas ganz Besonderes: Eine Ausnahmegenehmigung. Für einen Besuch durfte der Familienhund auf das sonst hundefreie UKE-Gelände, Lilly durfte ihn in ihrem Zimmer in ihre Arme schließen.

Natürlich baut man zu einem Kind, das so lange auf der Station lebt, eine andere emotionale Beziehung auf“, sagt Reichenspurner. Das mache vieles einfacher – aber manches auch schwerer. „Bei der Operation muss man ausblenden, dass man jemanden transplantiert, den man sehr gern hat.“ Da gehe es allein um das Handwerk, um Präzision, um Konzentration. Erst danach, sagt Reichenspurner, sei in Gesprächen mit den Eltern erlaubt, dass die Augen feucht werden. Sein Kollege Kozlik-Feldmann sagt, dass er jedes Mal eine Gänsehaut bekomme, wenn er das Foto mit Lilly und ihrem Kunstherz im Eingang sieht. Die Eltern haben das Abendblatt-Titelfoto aus dem Dezember 2019 auf eine Leinwand gezogen und „618 x Danke“ darauf geschrieben:  „Unser Dank für 618 Tage fachlich-professionelle und zugleich liebevoll zugewandte Behandlung durch Pflegepersonal und Ärzte der Kinderherz-Stationen im UKE.“

Endlich darf Lilly nach Hause

Am 12. Februar enden diese 618 Tage. 618 Tage mit Lachen, Tränen und bitteren Rückschlägen. Zu Beginn die Hiobsbotschaft, dass die linke Herzkammer kaum noch schlug, Lilly unbedingt ein Kunstherz brauchte. Ihre schwerste Krise erlebte Lilly wenige Tage nach dem Anschluss an die Maschine, als sich der gesamte Brustraum infiziert hatte. Die Chirurgen mussten erneut operieren, sechs Wochen blieb der Brustkorb geöffnet, bedeckt mit einem an der Vakuumpumpe angeschlossenen Schwamm. Insgesamt acht Mal spülten die Ärzte die Wunde, immer unter Vollnarkose.

Ärzte der Kinderherzstation im UKE: Prof. Hermann Reichenspurner und Dr. Alexander Bernhardt.
Ärzte der Kinderherzstation im UKE: Prof. Hermann Reichenspurner und Dr. Alexander Bernhardt. © UKE | Unbekannt

Doch nun darf sie endlich nach Hause. Und sie kann es kaum erwarten. Der Arztbrief dauert länger als gedacht. „Erst um 17 Uhr durften wir raus. Dann sprang Papas Auto nicht an. Und dann ging die Parkschranke nicht auf.“ Eine halbe Stunde später ist sie endlich daheim: „Ich bin erstmal durch jedes Zimmer gegangen, aber so viel hatte sich gar nicht geändert.“ Sogar der mit Helium gefüllte Weihnachtsballon, ein Überbleibsel der Bescherung Ende 2017, hing noch an der Decke.

Verschwunden waren dagegen alle Topfpflanzen und die Teppiche mit Langflor. Keimgefahr. Zu  riskant für ein transplantiertes Kind, das jeden Tag Medikamente gegen Abwehrreaktionen schlucken muss. Sogar Waschbecken und Duschköpfe hatte die Familie vor Lillys Heimkehr austauschen lassen, die Wohnung fast klinisch gereinigt. Die hochbetagte Labradorhündin zog in die Nachbarschaft, auch ihre Pilze und Sporen hätten Lilly bedrohen können.

Corona ändert alles

Und doch kehrt so etwas wie Normalität ein. Lilly fällt nicht in das von UKE-Psychologen gefürchtete Loch nach einem so langen Klinikaufenthalt. „Das Loch suche ich noch immer“, sagt sie fröhlich. Die Familie besucht Spielplätze, auch Freundinnen dürfen sie mit entsprechendem Abstand besuchen. Bis das Virus alles verändert.

Covid-19 bedeutet für Kinder unter zwölf Jahren in aller Regel keine Gefahr. Aber für Lillys  geschwächtes Immunsystem könnte das Virus bedrohlich werden. Spätestens jetzt könnte  jeder verstehen, wenn die Familie verzweifeln würde. So viel Pech kann es doch nicht geben. Endlich ist das Herz da. Und dann kommt Corona. Und was sagt Lilly? „Corona hatte immerhin einen Vorteil. Alle trugen plötzlich Masken. Vorher wurde ich öfters angestarrt, weil nur ich eine getragen habe.“

Dass die erste Corona-Welle die Hamburger Schüler nach den Frühjahrsferien in den Fernunterricht spülte, konnte Lilly ohnehin nicht mehr irritieren. Wahrscheinlich kennt sich in der Hansestadt niemand so gut mit Lernen aus der Distanz aus. Seit der dritten Klasse sieht, hört und spricht ein kleiner weißer Roboter, 25 Zentimeter groß, für Lilly, soweit es ihr Gesundheitszustand und das W-LAN in der Schule zuließen.

Lilly lernt im Augenblick wieder lieber daheim

Science Fiction? Nein, schlicht eine norwegische Erfindung mit dem treffenden Namen „No isolation“ (Keine Isolation), entwickelt für Kinder wie Lilly, die über Monate oder gar Jahre keine Schule besuchen dürfen. Lilly kann den Kunststoff-Knirps über einen Tablet Computer steuern, sie kann sogar den Kopf des Roboters um 360 Grad drehen, damit sie den ganzen Klassenraum überblicken kann.  Per Tastendruck kann sie sich melden, dann blinkt der Computer. Oder sie kann den Kopf blau leuchten lassen, ihr Signal, dass sie gerade eine Pause braucht.

Ihre Eltern mussten kämpfen, damit der Roboter im Klassenzimmer für Lilly aufgebaut werden durfte. Datenschutz-Auflagen hätten seinen Einsatz beinah verhindert, alle Eltern und Lehrer mussten ihr Einverständnis geben. Dabei schaltet sich der Avatar automatisch ab, wenn jemand versucht, mit einer Kamera das Unterrichtsgeschehen mitzuschneiden.

Nach dem Wechsel zum Gymnasium im Sommer blieb der Roboter zunächst daheim, Lilly ging jeden Tag zur Schule, saß nur separat an einem Einzeltisch im Klassenzimmer. „Das war super“, sagt sie. Doch jetzt, wo die Corona-Zahlen wieder explodieren, lernt sie wieder lieber daheim, verfolgt den Unterricht über den Avatar – wie zuvor in der Grundschule waren alle Eltern und Lehrer sofort einverstanden. Klassenarbeiten schicken die Lehrer den Eltern per Mail, sie drucken die Arbeit aus, scannen Lillys Werk später ein und mailen die Arbeit zurück. Zum Mogeln wäre Lilly viel zu stolz. Papa oder Mama fragen? Nee, auf keinen Fall.

Ein intaktes Familienleben hilft bei der Genesung

„Das Mädchen ist psychisch unglaublich stark“, sagt Reichenspurner. So verkraftete sie auch einen Rückschlag im Juni, als sie sich eine bei Transplantierten häufige Viruserkrankung einfing. Nicht dramatisch, aber so wenige Monate nach der Operation doch ein Grund für einen erneuten vierwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus – diesmal unter Corona-Bedingungen. Besuchen durften sie nur die Eltern – im Wechsel schliefen Mutter und Vater bei ihr im Zimmer.

 „Die Familie als Ganzes ist bei uns der Patient. Ein intaktes Familienleben hilft bei der Genesung", sagt Kozlik-Feldmann. Wenn Lilly bei ihrem ersten UKE-Aufenthalt abends in ihrem kleinen Reich einschlief, untrennbar verbunden mit der Maschine, die das Blut durch ihren kleinen Körper pumpte, konnte sie sich immer darauf verlassen, dass am nächsten Morgen Mama oder Papa ins Zimmer kamen. Dass ihre Brüder mit ihr spielten, dass ihre gleichaltrige Cousine sie fast jede Woche besuchte, dass am Wochenende ihre Freundinnen kamen. Zu Halloween verwandelte die Familie das Arztzimmer der Station in eine Geisterbahn. Ihre Brüder schoben sie zu Klängen der Schocker „Psycho“ und „Weißer Hai“ auf einem selbst gebastelten Rollbrett durch den abgedunkelten Raum, Freundinnen klatschten ihr nasse Waschlappen ins Gesicht.

Lesen Sie hier den ersten Teil der Geschichte

Nun sitzt gern Lilly gern in dem schwarzen Schwingsessel in ihrem Stelzenhaus im Garten der Familie. Eine kugelrunde Lampe spendet sanftes Licht, auf dem Tisch steht ein CD-Player, an der Wand hängt ein Pferdeposter. Entworfen hat das Haus mit weißen Balken und roten Brettern ihr mittlerer Bruder. Vier Wochen hat der Architekturstudent geplant, gesägt, gehämmert und gemalt – und damit ein Versprechen eingelöst: „Wenn du mit einem neuen Herzen aus dem Krankenhaus kommst, baue ich dir ein Gartenhaus.“ Die Freundin und die beiden anderen Brüder reichten Bretter an und strichen die Wände. Als der Abendblatt-Fotograf Lilly auf der Treppe ihres neuen Reichs ablichtet – nur für diesen Moment nimmt sie ihre Maske ab – winkt ihr ältester Bruder vom Balkon des Nachbarhauses. Diese hatten hilfsbereit angeboten, dass er sich dort vorerst einquartiert, da er in seiner Ausbildung zum Kita-Erzieher besonders viele Kontakte hat.

Spender gesucht:

  • Passend mit einer Baumkuchen-Torte wurde 2015 das Familienbaumhaus für Angehörige herzkranker Kinder eröffnet. In dem auf einem Bunker neben dem Verwaltungsgebäude des UKE gelegenen Baumhaus befinden sich drei jeweils 30 Quadratmeter große Familienzimmer, ein Gemeinschaftsraum mit Küche, Ess- und Loungebereich sowie eine Terrasse.
  • Mit Blick über den Eppendorfer Park sollen sich Familien in wohnlicher Umgebung ohne Krankenhausatmosphäre wohlfühlen können und psychisch entlastet werden. „Für die jungen Herzpatientinnen und -patienten ist es extrem wichtig, ihre Familie vor Ort zu haben“, sagt UKE-Direktor Prof. Rainer Kozlik-Feldmann.
  • Ermöglicht wurde der Bau durch private Spenden, die Einnahmen des Benefizturniers „Kicken mit Herz" und durch mehr als 800.000 Euro, die bei der Sendung  „RTL-Spendenmarathon" gesammelt wurden. Für die Familien, deren herzkranke Kinder im UKE behandelt werden, ist die Unterkunft gratis, die laufenden Kosten übernimmt der Förderverein Universitäres Herzzentrum.
  • Wer das Familienbaumhaus unterstützen möchte, kann hier spenden: Förderverein Universitäres Herzzentrum Hamburg e.V., Deutsche Bank AG Hamburg, IBAN: DE50 2007 0024 0087 8777 00, Verwendungszweck: „Familienbaumhaus“.
  • Wer sich für das Thema Organspende interessiert, findet im Internet Informationen auf den Seiten www.organspende-info.de und www.dso.de. Hier kann man sich auch einen Spenderausweis herunterladen.

Sie wollen nach diesem ewigen Kampf die Risiken so gut es geht minimieren. Deshalb wird  Lilly angesichts der dramatisch gestiegenen Corona-Zahlen auch weiter vorerst von daheim lernen, der kleine Roboter sitzt statt ihr in der Klasse.

Ansonsten lebt sie ein fast normales Leben. Sie tankt Kondition beim Fahrradfahren, auch Reiten wird irgendwann wieder erlaubt sein. „Nach Transplantationen kann es immer zu Komplikationen kommen. Bei Lilly bin ich aber sehr optimistisch“, sagt Reichenspurner. Und dies nicht nur, weil Lilly ein besonders gutes Herz bekommen habe. Das Mädchen profitiere auch davon, dass das Kunstherz 19 Monate einen perfekten Job erledigt hat – im Gegensatz zu vielen anderen Herzkranken haben daher ihre anderen Organe nicht gelitten.

„Vor allem bei der Vermeidung von Abstoßungsreaktionen haben wir enorme Fortschritte gemacht“, sagt der Herzchirurg. Die Medikamente seien immer ausgeklügelter. Vor zwei Jahren gelang es Forschern – darunter auch Wissenschaftler des UKE -   sogar, aus Stammzellen der Haut Herzmuskelgewebe zu züchten.

Nach Lillys Transplantation starben zwei Kinder im UKE auf der Warteliste

Auf absehbare Zeit werden allerdings nur Spenderorgane Patienten wie Lilly helfen können. Ihr Vater, selbst Jurist, kann die Entscheidung des Bundestages nach wie vor nicht verstehen. Er verweist auf Umfragen, nach denen eine klare Mehrheit für die Widerspruchslösung plädiert, und sagt: „Allen erwachsenen Bürgern kann man zumuten, sich einmal im Leben damit zu beschäftigen, ob man seine Organe spenden möchte oder eben nicht. Es müsste einmal eine verbindliche Abfrage geben. Die Widerspruchslösung hätte dies bewirkt. Die Zustimmungslösung bleibt hingegen völlig unverbindlich, sie hat nur Appell-Charakter. Und wir vermissen – Corona hin oder her – die angekündigten Werbekampagnen pro Organspende.“

Lilly und ihr 90 Kilogramm schweres Kunstherz: 19 Monate konnte sie sich maximal drei Meter von dieser Maschine entfernen.
Lilly und ihr 90 Kilogramm schweres Kunstherz: 19 Monate konnte sie sich maximal drei Meter von dieser Maschine entfernen. © Mark Sandten | Unbekannt

Zudem gilt inzwischen in allen anderen Ländern der Eurotransplantzone – neben Deutschland gehören ihr noch Belgien, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Slowenien und Ungarn  an – die Widerspruchslösung. Entsprechend groß ist das Murren über den deutschen Sonderweg, zumal in Deutschland seit Jahren gemessen an der Einwohnerzahl viel zu wenig Organe gespendet werden. Lilly versteht ohnehin nicht, warum diese Frage überhaupt so erbittert diskutiert wird: „Was wollen die Angehörigen denn mit den Organen? Die kann man sich doch nicht in Vitrinen ins Wohnzimmer stellen.“

Nach Lillys erfolgreicher Transplantation starben zwei Kinder im UKE auf der Warteliste, wie Lilly angeschlossen an ein Kunstherz. „Am Ende reden wir über eine maschinelle Lösung, bei der auch bei bester Versorgung Komplikationen auftreten können“, sagt Kozlik-Feldmann. Die Eltern eines verstorbenen kleinen Patienten gaben inmitten ihrer Trauer die Organe zum Spenden frei. Zwar war dies aus medizinischen Gründen nicht möglich. Doch diese Bereitschaft, anderen Kindern ein neues Leben zu bescheren, obwohl dem eigenen Kind dies verwehrt blieb, rührte alle auf der Station.

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Lillys Eltern haben nun die Möglichkeit, den Eltern des Kindes, dessen Herz nun in der Brust ihrer Tochter schlägt, über die Deutsche Stiftung Organspende einen Brief zu schreiben. Die Organisation  leitet ihn weiter, die Anonymität des Spenders bleibt gewahrt. Seit Wochen sucht die Familie nach den passenden Worten: „Wie soll man sich für ein solches Geschenk bei Eltern bedanken, die ihr Liebstes verloren haben? Die unendliche Dankbarkeit für diese unglaubliche Menschlichkeit ist in Worte nicht zu fassen.“