Hamburg. Marione Ingram überlebte auf offener Straße. In Hamburg erzählt sie vom Erlebten und warnt vor einer Wiederholung der Geschichte.

Zwischen den Augenbrauen trägt Marione Ingram ein schwarzes Herz. Es ist ein Muttermal, das sie vor vielen Jahren wegmachen ließ, aber nachwuchs. Dass dieses Herz noch immer die Stirn der 85 Jahre alten Frau schmückt, wirkt wie ein Wunder. Es hat seinen Weg zurück ins Leben gefunden, ebenso wie Ingram selbst. Sie ist eine Kämpferin.

Als Tochter einer jüdischen Mutter überlebte sie die Nazis, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust. Sie siedelte in die Vereinigten Staaten über, brachte den Ku-Klux-Klan gegen sich auf. Vor Ausbruch der Pandemie demonstrierte sie regelmäßig vor dem Weißen Haus in Washington, protestierte für Klimaschutz und Menschenrechte, gegen Hetze und Waffen.

Marione Ingram berichtet in Hamburg über Erlebnisse

Ihr 90 Jahre alter Mann Daniel begleitet sie, ist mir ihr nach Hamburg gereist. Hier will sie über ihre Erlebnisse berichten, Schülerinnen und Schüler bei den Projekttage am Friedrich-Ebert-Gymnasiums an ihrem Schicksal teilhaben lassen. Aus besonderem Anlass: Der Theaterkurs der zehnten Klasse hatte Ingrams Kindheit basierend auf ihrem Buch „Kriegskind“ verfilmt.

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„Hallo, kann ich mit euch spielen?“, fragt die junge Marione in einer Szene. „Nein, meine Eltern erlauben es nicht ... weil du ein Judenschwein bist“, antwortet die Tochter des Blockwarts. Die Beleidigung war Ingrams Willkommensgeschenk. Erst tags zuvor war sie ins gleiche Haus eingezogen. „Unsere alte Wohnung wurde uns von den Nazis weggenommen. Wir wurden zur Hasselbrookstraße gebracht.“ Zurückblieben sind die Bibliothek, die antiken Vasen und Ingrams Kindheit. Was von den folgenden Jahren bleibt, sind traumatische Erinnerungen, viele davon aus der neuen Unterkunft.

Marione Ingram sollte nach Theresienstadt

„Mama! Mama, wach auf!“, ruft die acht Jahre alte Marione im Video. Die Mutter liegt über einem Herd, Gas entweicht. Marione schaltet den Herd aus, öffnet die Fenster, bleibt neben dem leblosen Körper sitzen. Heute weiß Ingram, dass die Mutter damals einen Brief mit Deportationsbefehl erhalten hatte, den sie versteckt hielt. Die Jüdin hatte den Freitod wählen wollen, um ihre drei Töchter zu schützen. Der Vater war eingezogen worden, kämpfte aber im Untergrund gegen die Nazis. Deshalb hatte die Mutter Marione zur Tante geschickt, doch das Mädchen kam zurück. „Es war die längste Nacht meines Lebens. Am nächsten Morgen ist sie aufgewacht“, erzählt Ingram.

Als die Tante am nächsten Morgen nach ihrer Nichte suchte, um sie mitzunehmen, war die Mutter wach. „Ich habe protestiert, geweint und geschrien. Ich bin nicht mitgegangen, war im Sitzstreik.“ Das Mädchen wäre am 26. Juli 1943 mit der Mutter nach Theresienstadt gefahren. Doch es kam anders. Am selben Tag noch meldete sich die Luftschutzleitstelle. Auch diese Szene verfilmte der Theaterkurs.

1943: Allierten zerstörten die Hansestadt

„Achtung! … An alle Bunkerwarte. Der uns gemeldete Feindverband erreicht in Kürze unser Gebiet“, tönt es aus Lautsprechern. Die Sirenen heulen. Trümmer fliegen. Straßen brennen. Zehn Tage und zehn Nächte lang zerstörten die Bomber der Alliierten die Hansestadt. Die Angriffe vom 24. Juli bis 3. August 1943 gingen unter dem Codenamen ,Operation Gomorrha’ in die Geschichte ein. Während dieser Zeit wurde die Unterkunft in der Hasselbrookstraße zerbombt. Ingram sagt, sie und ihre Mutter hätten Schutz auf offener Straße gesucht, sich in Gassen, Hauseingängen und Kratern versteckt. „Ironischerweise hat uns dieser Feuersturm das Leben gerettet.“ Die Nazis konnten die geplante Deportation nicht vollziehen.

Der Feuersturm legte 1943 viele Stadtteile in Trümmer.
Der Feuersturm legte 1943 viele Stadtteile in Trümmer. © Staatsarchiv Hamburg Nachlass Erich Andres | Unbekannt

Bis zum Ende des Krieg versteckten sich Mutter und Töchter in Rahlstedt. In dieser Zeit fasst Ingram einen Beschluss: „Ich dachte, falls ich je leben sollte, würde ich mich nie mehr verstecken.“ Doch ihr Kampfgeist wurde auf die Probe gestellt. Die Nachkriegszeit war für sie nicht besser als die Vergangenheit. Im Gegenteil. „Diese Jahre waren schlimmer als die Tage und Nächte, die ich durch die Bomben laufen musste“, sagt Ingram. „Beim Feuersturm war meine Mutter an meiner Seite und hat immer meine Hand gehalten. Als ich in die Schule kam, war ich allein.“ Ihre Mitschüler hätten sie angespuckt, Steine geschmissen und sie beschimpft. Doch Ingram habe protestiert. „Ich habe mich auf einen Tischgestellt und gesagt: ,Wenn Menschsein bedeutet, so zu sein wie ihr, möchte ich kein Mensch sein.’“ Ihr Kampfgeist überlebte auch diese Zeit.

In den USA kämpft Ingram gegen den Ku-Klux-Klan

Im Alter von 16 Jahren siedelte sie nach New York über und wurde Galeristin. Sie lernte Daniel Ingram kennen, heiratete, bekam einen Sohn. Drei Jahre später, 1964, engagierte sie sich als Bürgerrechtlerin und lehnte sich gegen den Ku-Klux-Klan auf. Sie ließ ihre Familie zurück in New York, zog nach Mississipi und arbeitete vier Monate lang in einer „Freedom School“ (dt. Freiheitsschule). Dort kämpfte Ingram für die Rechte der Schwarzen. Ihr Mann erinnert sich an diese Zeit zurück: „Ich war jede Minute in Sorge um sie, aber sie ließ sich nicht abhalten.“ Die Mitglieder des Klans hätten ein Kreuz vor der Schule in Brand gesetzt, auf das seine Frau „Freedom“ (dt. Freiheit) geschrieben habe. Ein Foto davon ging durch die Presse und viel später durch das Internet.

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Das Leben in den Vereinigten Staaten inszeniert die Theaterklasse nicht. Doch der Film endet mit einer Botschaft, die Ingram seit ihrer Kindheit in sich und in die Welt hinaus trägt: Make Love Not War. (Macht Liebe, keinen Krieg.) Die bunten Worte stehen auf weißen Schildern. Die Schüler halten sie nach oben, wie bei einer Demonstration. Solche Schilder gehören zum Leben von Marione und Daniel Ingram dazu.

Marione Ingram: Sorge vor einem politischen Rechtsruck

Wenn sie wieder in den Staaten sind, wollen sie erneut Schilder basteln und für ein friedliches Miteinander demonstrieren. Ihre Sorge sei groß vor einem politischen Rechtsruck, vor Hetze und verhärteten Fronten. Mehr noch: „Die Gefahr ist riesig, dass sich die Geschichte wiederholt. Ich sehe die Gefahr, dass irgendein verrückter Mann auf den falschen Knopf drückt“, sagt Marione Ingram. „Die Menschen müssen aufwachen. Die amerikanischen Republikaner sind heute mehr oder weniger wie die deutschen Faschisten in 1930. Und das Problem ist: Europa eifert den Staaten nach.“

Der Film der Schüler des Friedrich-Ebert-Gymnasiums wird im Rahmen der Harburger Holocaust-Gedenkwoche öffentlich präsentiert. Das Datum fällt auf Ingrams Geburtstag, den 19. November. Die Zeitzeugin wird per Zoom zugeschaltet sein. Abonnenten des Abendblatts können den Film bereits auf abendblatt.de anschauen.