Hamburg. Das weltberühmte Hamburger Institut hat den Namen des Gründers abgelegt. Doch es gibt Zweifel an Gutachten und Neues von der Familie.
Dirk Pette ist jetzt 88. Er steht im Garten seines Hauses auf der Reichenau am Bodensee unter einem Nussbaum. Die gleißende Sonne strahlt durch die Äste. Vom Ufer kriecht eine erdrückende Schwüle die Wiesen hoch. Er hält ein Porträtfoto in Schwarz-Weiß in den Händen und sagt: „Mein Vater war kein Nazi.“
Wer war Heinrich Pette?
Ein bedeutender Hamburger Arzt, ein Neurologe, ein Nervendoktor, der sich als Wissenschaftler nicht mit dem zufriedengab, was er im Krankenhaus bei Patienten sah. Heinrich Pette forschte und forschte und forschte – zeitlebens. Doch in die Zeit seines Lebens von 1887 bis 1964 fielen zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft. „Fielen“ sie bloß über die Deutschen, oder machten nicht viele willfährig mit, die davon profitierten? Medizin und Wissenschaft wurden instrumentalisiert, ließen sich gleichschalten. Millionen Juden haben die Nazis ausgegrenzt, „minderwertiges Leben“ haben sie „selektiert“, um es „auszumerzen“ und in einer historisch unvergleichbaren Mordmaschinerie zu töten.
War Heinrich Pette daran beteiligt? Und wenn ja, wie? Und wenn nein, lässt sich das belegen?
Heinrich Pette: Gutachten zur Nazi-Vergangenheit mit Schwächen
Es brauchte gleich zwei Gutachten von vier Historikern und einen neun Jahre währenden Prozess, bis im April 2021 feststand: Das Hamburger Heinrich-Pette-Institut (HPI) verzichtet auf den Namen seines Gründers. Allerdings warfen die Gutachten neue Fragen auf. In ersten Versionen fanden sich schludrige Passagen zu Pette. Sie machen keine konkreten Aussagen über die Institutsumbenennung. Vor und nach diesen Expertisen gab es weitere Forschungen zu Pette und der Nazi-Zeit, die zum Teil zu anderen Einschätzungen kommen.
Der breiten Öffentlichkeit ist bestenfalls bekannt: Pette half nach dem Krieg dabei, die Kinderlähmung zu bekämpfen, auch mit Arbeiten zu Impfstoffen, er befasste sich mit entzündlichen Prozessen im Gehirn. Und er forschte an Multipler Sklerose. Pette trieb das nach ihm benannte Institut am Universitätsklinikum Eppendorf an die Spitze der internationalen Virologie. Sein Wirken bereitete den heute in der Corona-Pandemie prominenten Experten wie Marylyn Addo oder Christian Drosten den Boden. Doch war dieser Hamburger Superstar der Forschung in das Hitler-Regime und seine „Rassen“-Ideologie verstrickt?
Heinrich Pette – (k)ein Nazi? Mit einem einfachen Fakt wäre Sohn Dirk Pette widerlegt, der selbst ein international renommierter Professor für Biochemie wurde. Denn sein Vater trat schon am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. Er ist damals Leitender Arzt am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg. Als Dozent für Neurologie besitzt er bereits die „Venia Legendi“, um Studenten zu unterrichten. Eine ordentliche Professur fehlt ihm noch. Sonderlich politisch ist er schon gar nicht. Aber er will vorankommen. Und: Da ist seine Frau Edith. Sie ist selbst Ärztin, ein starker Charakter mit Berliner Schnauze da, wo sie klares Deutsch für angebracht glaubt. Sie hält es für opportun, den neuen Machthabern ein Zeichen zu geben. In einem späteren Brief schreibt Heinrich an Edith Pette zum Parteieintritt: „Du warst der treibende Teil.“
Anlehnung an Nazi-Ideologie: "Eine auf Auslese gerichtete soziale Hygiene"
Der Medizinhistoriker Hendrik van den Bussche („Die Hamburger Universitätsmedizin im Nationalsozialismus“) zitiert eine Aktennotiz aus dem Berufungsausschuss. Der hat über eine Professur zu bestimmen, die Pette dann 1935 antritt. Pette „gebe sich Mühe, Nationalsozialist zu werden“. Gab es Zweifel an seiner Nazi-Gesinnung, wie Dirk Pette meint? In der Antrittsvorlesung hört sich das bei Pette konziliant gegenüber dem Rassenwahn der Nazis an: „Zu den vordringlichsten Aufgaben einer neurologischen Klinik gehört deswegen die weitere Ausgestaltung einer auf Auslese gerichteten sozialen Hygiene.“
Ist das Opportunismus oder wissenschaftliche Überzeugung? Pette war immer bemüht, gegen die Verbandspolitik der Nazis die Neurologie von der Psychiatrie zu trennen. Mit der Zwangsvereinigung beider Fachgesellschaften 1935 ist das ein hilfloses Unterfangen geworden.
In dem ausführlichen Gutachten der Historiker Axel Schildt und Malte Thießen für das Institut heißt es 2019: „Pettes Eintritt ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf Karrieregründe zurückzuführen, wofür seine berufliche Situation im Jahr 1933 spricht.“
War Heinrich Pettes Frau Edith Pette Halb-Jüdin?
Da ist noch ein wunder Punkt: Edith Pette entstammt einer Berliner Fabrikanten-Familie. Sohn Dirk Pette vermutet, dass sie Halbjüdin war. Die Gutachter Schildt/Thießen sehen das anders.
Bevor Pette ordentlicher Professor wird, entziehen die Nazis seinem Schwager Dr. Erich Graetz, Ediths Bruder, den Doktortitel, enteignen ihn und bürgern ihn aus. Er ist Assistent am Zoologischen Institut der Humboldt-Universität. Ebenfalls dort arbeitet Hansjochem Autrum, der sich 1996 in seiner Biografie erinnert: „Erich Graetz war 1934, Ernst Marcus 1935 wegen jüdischer Abstammung entlassen worden.“ Erich Graetz’ Nachfahren erhalten später offiziell Schadenersatz nach dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz. Die Gutachter Schildt/Thießen sehen in den Memoiren nur einen „schwachen Anhaltspunkt“ für eine teil-jüdische Abstammung.
Ein weiteres Wissenschaftler-Schicksal muss den Pettes 1935 zu denken geben. Der bekannte Neurologe Walter Jacobi wird seiner Professur entbunden. Er hat die Behörden beim „Ariernachweis“ für seine zweite Frau getäuscht, schreibt der Historiker Hans-Walter Schmuhl. Jacobi hatte sich „mit einem dezidiert antisemitischen Pamphlet“ für die Führung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte „qualifiziert“. Das hilft ihm nicht. Am Ende verliert er seine Posten und 1938 sein Leben, angeblich durch Suizid.
Pette bekannte sich als Professor zu Hitler
Die rauen Sitten der Nazis und ihrer Schergen an den Unis verfehlen ihre Wirkung auf Pette nicht. Dabei hatte er im November 1933 das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ unterschrieben. Das taten auch Ferdinand Sauerbruch oder Martin Heidegger sowie etliche Hamburger Mediziner, unter ihnen Bernhard Nocht. Heidegger schwadronierte davon, die „nationalsozialistische Revolution“ sei „nicht bloß die Übernahme einer vorhandenen Macht im Staat“ durch eine andere Partei. Sie bringe vielmehr eine „völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins“.
Pettes Dasein ist die Forschung. In der Berufspolitik will er mitmischen. Oder er muss es. Bei der ersten Jahresversammlung der zwangsvereinigten Neurologen und Psychiater am 4. September 1935 räsoniert er noch über die verlorene Eigenständigkeit der Neurologen. Doch wie Medizinhistoriker Schmuhl in seiner Geschichte der Gesellschaft herausfand, fügt sich der Vizevorsitzende dem Chef: Ernst Rüdin, Psychiater und seit Langem Hetzer für staatliche Eingriffe in die Fortpflanzung. Rüdin ist der perfekte „Experte“ für die krude Erb-Ideologie der Nazis und die Basis der späteren Euthanasie – den Morden an „unwertem Leben“. Das Ende dieser der Geschichte: Im Entnazifizierungsverfahren wird Rüdin final als „Mitläufer“ eingestuft.
Der Neurologe Pette windet sich auf dieser ersten Jahresversammlung. Schmuhl schreibt: „Pette wiederholte hier beinahe wörtlich die entsprechende Passage seiner Hamburger Antrittsvorlesung vom Januar 1935. Man kann sagen, dass er sich geschickt mit dem im neuen Deutschland zur Vorherrschaft gelangten Paradigma der Erbbiologie anpasste, ohne indessen besonderen Enthusiasmus erkennen zu lassen."
Unterschiedliche Interpretationen eines Kongresses 1938
Der Hamburger Historiker van den Bussche kommt zu dem Ergebnis, welches die Gutachter Schildt/Thießen auch zitieren: „In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gingen Bezüge zur Erbbiologie und ,Rassenhygiene‘ in Pettes Vorträgen und Veröffentlichungen zurück.“
Die Historiker schlussfolgern: „Kurz gesagt zeigte Pette sich seit den späten 1930er-Jahren als vergleichsweise unbestechlicher Wissenschaftler. Anbiederungen an das NS-Regime, wie sie viele Vorworte und Danksagungen wissenschaftlicher Arbeiten jener Jahre schmücken, finden sich unseres Wissens in den 1940er-Jahren nicht mehr.“ Klingt nicht nach: Benennt das Institut um!
Es gibt aber mindestens eine viel diskutierte Entgleisung. Beim Fachkongress 1938 muss Pette den kranken Rüdin vertreten. Da spricht er das „Sieg Heil“ auf den „Führer und Reichskanzler Adolf Hitler“. Die Kollegen aus der „angeschlossenen Ostmark“ (Österreich) werden freudig erwähnt. Die Historiker Wolfgang Firnhaber und Schildt/Thießen streiten darüber, ob Pettes Rede eine völlig andere Diktion als sonst gehabt habe. Das hieße: Er hat nur das Manuskript von Scharfmacher Rüdin umgeschrieben und für ihn gehalten. Schildt/Thießen glauben das nicht. „Gerade dieser Ausnahmefall macht also deutlich, dass Pette sich seiner repräsentativen Funktion als Zweiter Vorsitzender je-derzeit bewusst war und er diese Funktion sowohl im Sinne des Regimes als auch der Gesellschaft korrekt ausfüllte.“
Andere Deutungen lehnen sie ab. Bei Schmuhl ist zu lesen, was Rüdin bereits 1937 an Pette schrieb: „Ich möchte vor allem, dass am nächsten Neurologenkongress in Kopenhagen Erblichkeitsfragen auch in einem Referat an maßgeblicher Stelle erörtert werden, und ich hoffe, dass Sie in diesem Punkt mit mir einig sein werden.“ Schreibt so jemand, der einen Bruder im Geiste adressiert?
Schildt/Thießen sind in einer früheren Fassung ihres Gutachtens für das HPI einem Irrtum aufgesessen. Um Pettes Nähe zu Nazi-Größen zu untermauern („Kontakte bis in die höchste NS-Führung“), führen sie Briefe an, in denen der Neurologe von Begegnungen mit Göring schreibt. Gemeint ist jedoch nicht Hermann Göring. Der Mann, der mal am Nebentisch sitzt und mit dem sich Pette bisweilen austauscht, ist Matthias Göring, ein Nervenarzt und Cousin des Reichsmarschalls. Dirk Pette macht die Historiker in seinen kritischen Anmerkungen darauf aufmerksam. Im finalen Gutachten fehlt die Passage.
Was war mit den Gutachten zu Zwangssterilisierungen?
Schildt/Thießen gruben gründlicher in den Archiven als die mit weniger Zeit ausgestatteten Erstgutachter Andrea Brinckmann und Heinz-Peter Schmiedebach. Die Nazis hatten bereits 1934 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ eingeführt. Wer darunter fiel, konnte zwangssterilisiert werden. Pette wird mehrfach als Sachverständiger vom Gericht gehört, auch wenn er das nach dem Krieg beschönigt. In mehreren Fällen soll er sich nicht nur bei Epilepsie, sondern auch in Diagnosen von „Schwachsinn“ und Trunksucht“ für eine Zwangssterilisierung ausgesprochen haben. Schildt/Thießen: „Noch gravierender erscheinen uns vier Fälle, in denen Pette die Diagnose ,Erblichkeit’ sogar gegen die Ansicht des Erbgesundheitsobergerichts durchsetzte und damit Sterilisationen befürwortete, die vom Gericht abgelehnt worden wären.“
5000 Hamburger Archiv-Fälle wurden untersucht. Pette hat in 15 Gutachten geschrieben. In sieben hat er für eine Sterilisation votiert, in acht dagegen. Für die Historiker ein Zeichen der Kumpanei mit dem verbrecherischen System. Für Sohn Dirk Pette Anlass darauf hinzuweisen: Sein Vater habe sich an anderen Kriterien als denen der Nazis orientiert.
Entnazifizierung: Heinrich Pette gilt als "entlastet"
Ist Heinrich Pette an Verbrechen der Nazis beteiligt, an Menschenversuchen und Tötungen wie einige seiner Kollegen? Darauf gibt es keine Hinweise. Schildt/Thießen schreiben: „Obgleich sich für die NS-Zeit bei Pette keine schweren Verbrechen nachweisen lassen, ist er als Gutachter für Zwangssterilisationen und Funktionär eines Berufsverbandes mit maßgeblicher gesundheitspolitischer Gestaltungskraft im ,Dritten Reich‘ kein unbeschriebenes Blatt.“
Leistet Pette Widerstand? Wohl deutlich weniger, als er nach dem Krieg bisweilen behauptet. Das zeigt das Entnazifizierungsverfahren. Er schreibt an die Hamburger Schulverwaltung (so im Original): „Ich habe von jeher der Parteipolitik ferngestanden und habe nur der ärztlichen Tätigkeit und der Wissenschaft gelebt.“ Das mag stimmen. Diese Haltung findet sich auch in Briefen. Doch er wusste von Ärzteverbrechen.
Im Juni 1948 stufen die Behörden ihn in die Kategorie IV als „Mitläufer“ ein. Im März 1949 wird daraus ein „Entlasteter“, Kategorie V. Denn in seinem erfolgreichen Widerspruch schreibt Pette zuvor: „1941 habe ich als einer der ersten den Kampf gegen die Euthanasie der Geisteskranken aufgenommen.“ Er habe erreicht, dass die Vergasung der Geisteskranken im September 1941 eingestellt worden sei. Klare Belege dafür fehlen. Doch nun kann er wieder als ordentlicher Professor verbeamtet werden.
Die besondere Rolle von Edith Pette
Von der Wissenschaft bislang weitgehend ausgeklammert ist die Rolle von Edith Pette. Sie scheint sich in ihrer Mutterrolle dezent zu langweilen und liest für ihren Mann die internationale Fachliteratur. Seit 1939 lebt sie mit den vier Kindern im Ferienhaus der Familie in Garmisch-Partenkirchen, auch aus Sorge um die Kriegsfolgen für Hamburg. Den Gatten sieht sie bei gelegentlichen Besuchen hier wie dort.
Edith Pette wird ab Mitte der dreißiger Jahre immer skeptischer gegenüber Hitler-Deutschland. Die Briefe an ihren Mann klingen mitunter furios, wie der vom 4. März 1941 (im Original): „Die diffuse Sklerose hatte ich in der Bahn durchgearbeitet, ich habe mir allerlei Gedanken gemacht. Wenn man so weit geht und die Peliz. Maybachsche Krankheit mit einbezieht, so kann ich nicht begreifen, dass Du die degenerative Form der Polyneuritis nicht zur entzündlichen tust, das ist mir völlig unbegreiflich. Die beiden Formen sind klinisch u. wohl auch anatomisch sich näher (sie unterscheiden sich doch eigentlich nur durch den Liquorbefund) als die Peliz.Mayb. und parainfektiöse Encephalomyel. Gehört die Peli.Mayb. nicht doch eigentlich zu den rein degenerativen Erbkrankh (Niemann Pick)? Gefühlsmässig möchte ich das für wahrscheinlicher halten.“
Für sein Buchmanuskript muss Pette also nachbessern. Und gut eine Woche später heißt es: „Auf keinen Fall darfst Du aber schreiben, dass Herpes beim Kaninch. nur neurotrop ist, das ist bestimmt falsch, fast alle Viren sind pantrop, nur Pm., Ly., Parotitis Borna, Enceph. nicht. (…) Gib das Manuskript nicht gleich der Spier, flieg es erst durch, sonst gehen manche Bemerkungen verloren. Hast Du die Synthese der M.S. an Schmidt geschickt? Was macht die Therapie der M.S.? Schreibst Du sie erst?“
Was der Briefwechsel verrät
Intimer klingt das dann am 23. März 1941: „Nun sind es bereits 15 Jahre her, dass Du das Mädchen ,mit dem biestigen Charakter‘ an Deiner Seite hast! Und wenn wir heute eine Analyse dieser 15 Jahre vornehmen würden, so würden wir viele glückliche Tage, und einen grossen Anpassungsprozess von uns beiden an unser Zusammenleben dabei konstatieren müssen. In der Struktur zweifellos diametral entgegengesetzt veranlagt sind wir doch eigentlich ungeheuer innig miteinander verschmolzen worden, durchaus nicht nur durch die Kinder, die eine Ehe zusammenhalten sollen, sondern ebenso sehr durch Kameradschaft, die gleiche Zielsetzung im Leben und nicht zuletzt durch die gegenseitige Achtung, die man vor edlen Menschen mit starkem Ethos hat.“
Dann gibt es Aufregung um einen 13 Jahre alten „Ukrainerjunge“, der das Fahrrad von Sohn Götz gestohlen haben soll. Edith Pette schreibt ihrem Mann im März 1943: „Die Bäuerin wollte das der Polizei melden, ich bat sie das nicht zu tun, dann wird er sofort erschossen.“ Und wegen eines Kinderrades will ich mein Gewissen nicht mit einem Kindermord belasten.“
Er schreibt von den Bombennächten in Hamburg, von der Angst in den Kellern. Sie: „Frau Taute sagte heute: Berlin habe 2000 Häuser total kaputt, 4000 schwer beschädigt, 65.000 Obdachlose. In München sind 5 Studenten erschossen worden, die große Plakate: ,Nieder mit dem Regime‘ an die Universität angemacht hatten. Die Eltern dieser Kinder sind gleichzeitig ins Konzentrationslager gekommen. Dies nur zur Kenntnisnahme.“
Edith Pette bringt einen Amtsarzt dazu, ihren Sohn Dirk per Attest vor der Hitlerjugend zu bewahren: Die Gründe: „hartnäckiges Asthmaleiden, schwächlicher Körperbau, blutarm.“ Gegen Ende des Krieges arbeitet sie in Garmisch als Betriebsärztin in einem Rüstungsbetrieb. Nach den Worten von Dirk Pette hat sie im Frühjahr kranken Zwangsarbeiterinnen die Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Sie sei dann wegen „Sabotage“ entlassen worden. Kurz darauf seien die Amerikaner einmarschiert.
Heinrich Pette sagt in der Sawade-Heyde-Affäre aus
Die Pette-Gutachter zweifeln an der Darstellung. „Sabotage“ hätte schlimmere Konsequenzen nach sich gezogen. Eine Bescheinigung des Bayerischen Roten Kreuzes für die „antifaschistische Gesinnung“ von Edith Pette sehen sie kritisch. War es nur ein „Persilschein“ im Entnazifizierungsverfahren von Heinrich Pette?
Er will sie nach dem Krieg unbedingt wieder an seiner Seite – auch im Labor: Dirk Pette erinnert sich, dass Edith Pette einer Journalistin gesagt habe, wie Heinrich Pette ihre „Hausfrauenpflichten“ sah: „Edith, lass die Löcher in den Strümpfen und komm mit mir arbeiten.“
Eine unerwartete Begegnung mit der eigenen Vergangenheit bringt die Pettes 1952 in Wallung. Bei einem Vortrag in Schleswig trifft Pette zufällig auf einen der größten SS-Verbrecher, die sich aus den Reihen der Ärzte rekrutiert hatten: Werner Heyde. Er war medizinischer Leiter der Tarnorganisation „Zentraldienststelle T4“ – und damit verantwortlich für Zigtausende Morde an Behinderten, Kranken, Häftlingen. Heyde war nach dem Krieg zunächst gefasst worden und entkam 1947 bei einem Gefangenentransport.
Er arbeitete unter dem Decknamen Fritz Sawade als Arzt und Gutachter in Flensburg. Als Pette ihn erkennt, sagt Heydes Begleiter, der Schleswiger Landessozialgerichts-Präsident Ernst-Siegfried Buresch sinngemäß: Das sei alles rechtmäßig. Pette erzählt seiner Frau davon. Dirk Pette erinnert sich an die Reaktion seiner Mutter: „Dieses Nazi-Schwein. Du musst ihn anzeigen.“
Gutachter Schildt/Thießen haben Zweifel
Pette vertraut der Aussage des Juristen Buresch. Tatsächlich decken mindestens rund 20 hochrangige Juristen und Personen im Umfeld den früheren SS-Obersturmbannführer Heyde. Als Heyde/Sawade die Enttarnung droht, stellt er sich im November 1959 in Frankfurt den Behörden. Der legendäre Staatsanwalt und Nazi-Jäger Fritz Bauer ermittelt. Nur wenige Tage später schreibt der Chefreporter der „Frankfurter Rundschau“, Volkmar Hoffmann: „Selbst Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) und Kultusminister Odo Osterloh (CDU) – oder gar das ganze Kabinett? – wussten seit mehreren Monaten, dass sich unter dem Namen Dr. Sawade der steckbrieflich gesuchte Euthanasiearzt und SS-Standartenführer Professor Werner Heyde verbarg, ohne sofortigen Eingriff für nötig zu halten.“
Pette sagt 1961 im Untersuchungsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtages zur Aufklärung der Heyde-Sawade-Affäre aus, dass er Heyde 1952 erkannt hatte. Das Abendblatt und der „Spiegel“ berichten über die Affäre. Vor einem Prozess im Februar 1964 begeht Heyde Selbstmord. Strafrechtlich belangt wird in der gesamten Deck-Affäre nur einer: „FR“-Journalist Hoffmann – wegen übler Nachrede gegen Landesvater Hassel und Minister Osterloh erhält er sechs Monate auf Bewährung.
Die Pette-Gutachter Schildt/Thießen legen das Pette negativ aus. Er habe als „einer von wenigen“ in dem Verfahren von den NS-Taten Heydes gewusst. Das klingt wenig plausibel. Denn der Schwindel-Arzt war ja offenbar von zahlreichen Prominenten gedeckt worden. Das war spätestens 1961 klar. Doch Pette gibt eine ungewohnt pathetische Vorstellung im Untersuchungsausschuss.
„Wenn einer – das möchte ich vorweg sagen – gekämpft hat gegen Heyde, dann ist es Pette – hier, ich! – in Hamburg gewesen!“ Sein Sohn Dirk entschuldigt: „Er war aufgeregt.“ Pette sagte im Ausschuss: „Ich bin der stärkste Opponent gewesen in Deutschland; im Jahr 1941 war mir zu Ohren gekommen – mir als dem zweiten Vorsitzenden der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater –, dass hier etwas vor sich geht, und zwar von Prof. Rüdin.“ Rüdin habe ihm gesagt: „Herr Pette! Bitte, hier sind die Akten.“ Pette weiter: „Und dann habe ich gesagt: ‚Was ist das? Herr Rüdin! Das ist ja Mord, Mord! Was sollen wir tun?‘“
Heinrich-Pette-Institut wird 2021 umbenannt
Die Historiker Schildt/Thießen sprechen von einer „kumulativen Heroisierung“. Pettes Aussagen halten sie nicht für glaubwürdig. Zum Kämpfer gegen die Euthanasie sei er auch 1941 nicht geworden. Dirk Pette führt dagegen an: Sein Vater habe auf der Jahrestagung seiner Fachgesellschaft 1941 die Euthanasie offen diskutieren wollen. Das stehe auch so in einem Brief an seine Frau. Der Kongress kam nicht zustande.
Für Pette sprach der Untersuchungsausschuss-Vorsitzende Paul Rohloff (CDU): „Ich bin davon überzeugt, dass Professor Pette nicht zu den leider recht vielen hochgestellten Persönlichkeiten in- und außerhalb Schleswig-Holsteins gezählt werden darf, denen es keine Gewissensbisse verursacht hat, den Schleier um die Person (...) Werner Heyde zu verdichten.“ Von dieser Entlastung findet sich im Gutachten kein Wort.
All die Details wären nur Historiker-Futter, hätte das HPI nicht genau aufgrund dieser Ungereimtheiten im Jahr 2021 entschieden, den Namen seines Gründers abzustreifen. In der Pressemitteilung vom 9. April heißt es, Pette sei kein überzeugter Nazi gewesen, schon gar kein Nazi-Verbrecher, aber ein „Mitwisser“. In „verhältnismäßig vielen Fällen“ habe er sich für Zwangssterilisationen ausgesprochen. Zur Erinnerung: 5000 untersuchte Fälle, in 15 wurde Pette gefragt, in sieben empfahl er eine Sterilisation.
Fehler in der Begründung
Das darf nicht einen Fall beschönigen. Aber es zeigt, wie „verhältnismäßig“ in die Irre führt. Die finale Begründung des weltweit anerkannten Instituts lautete: „Seine Kontakte zu einem nach dem Krieg unter falscher Identität praktizierenden Mitorganisator der Krankenmorde waren 1961 Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des schleswig-holsteinischen Landtags.“
Das ist falsch. Nicht Pettes „Kontakte“ wurden untersucht, sondern die der Politik und der Justiz. Pette bot sich als Zeuge zu Heyde/Sawade an.
Das HPI hat sich im Laufe der vergangenen Jahre gewandelt. Als die damalige Wissenschaftssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) 2012 anregte, Pettes Nähe zur Nazi-Euthanasie zu untersuchen, gab sich das Institut zugeknöpft. Sie hatte ein großes Interesse an einer Aufarbeitung. Schicksale von NS-Opfern gingen ihr persönlich sehr nahe. Auf anderen Feldern sah sie ebenso die Zeit gekommen, historische Figuren auf ihre dunklen Seiten abzuklopfen. Die Neubewertung Hamburger Kolonialgeschichte geht auch auf ihre Initiative zurück.
Nach einer Abendblatt-Anfrage erklärte das HPI, es habe nach dem zweiten Gutachten mit „renommierten Historikern (u.a. Prof. Malte Thießen, Prof. Philipp Osten, Prof. Heiner Fangerau) als auch innerhalb des HPI (Vorstand, Kollegium, Gruppenleitungen, Kuratorium) eine Reihe an Diskussionen geführt“.
Sohn Dirk Pette: "Ich wurde überrumpelt"
Dazu wurde Dirk Pette nicht mehr eingeladen. Seine ersten Anmerkungen hatten die Gutachter noch aufgenommen. In die Instituts-internen Gespräche wurde der Sohn offenbar nicht mehr einbezogen. „Ich wurde überrumpelt“, sagt Dirk Pette. Das HPI schreibt: „Am Ende haben wir aber zusammen entschlossen, dass ein Forschungsinstitut mit einer modernen Ausrichtung den Namen Heinrich Pette nicht mehr tragen sollte.“
Dirk Pette findet das bedauerlich. Was eine „moderne Ausrichtung“ ist, weiß er, seit er 1967 an der Reform-Uni Konstanz auf eine Professur für Biochemie berufen wurde. Der große Soziologe Ralf Dahrendorf war sein Kollege und Freund. Zwei Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat der Biochemiker geleitet. Manch Wissenschaftler wäre froh, wenn er an einem teilnähme. Dirk Pette war nicht ganz 18, als er am Wilhelm-Gymnasium Abitur machte. Mit 25 war er als Arzt approbiert – und Dr. med. Oskar Kokoschka hat seinen Vater gezeichnet, eine Theaterfotografin des Schauspielhauses seine Mutter porträtiert. Die Pettes waren ein bedeutendes Forscher-Paar.
Dirk Pettes Leben bestand wie das des Vaters aus Lernen, Lehre, Forschung: x Aufenthalte in den USA, Ehrendoktorwürde in Waterloo (Kanada), enge Kontakte zu Forschern auf der ganzen Welt.
Dirk Pette hat zahlreiche Doktorarbeiten betreut und weit nach der Emeritierung noch eine Grundsatzvorlesung gehalten. In Düsseldorf sitzt eine Doktorandin an einer Arbeit über seinen Vater. Was sie herausfindet, ist ihr Projekt, nicht seins. Er öffnet der jungen Frau das Familienarchiv. Auch mit 88 will er noch mehr über Heinrich Pette erfahren.
Heinrich Pette: Die wichtigsten Stationen
- Geboren am 23. November 1887 in Eickel im Ruhrgebiet
- Reifezeugnis 1907 in Gelsenkirchen
- Studium der Medizin in Marburg, München, Berlin und Kiel
- 1912 promoviert er mit einer Arbeit „Über Aneurysmen der Kleinhirnarterien“
- 1913 Approbation als Arzt
- 1914 zur Marine einberufen als Assistenzarzt, entlassen 1918 als Marinestabsarzt
- 1919 erst hospitierender Arzt, dann erster Assistent von Prof. Max Nonne in der Neurologischen Klinik am Krankenhaus Hamburg-Eppendorf
- 1923 Dozent für Neurologie, 1927 außerplanmäßiger Professor
- 1924 lernt Pette Edith Graetz in der Klinik kennen, eine Volontärassistentin; sie wurde am 3. Juli 1897 in Berlin in eine Fabrikantenfamilie geboren, studierte Medizin, wurde 1924 approbiert und promoviert, 1931 wurde sie „Facharzt für Nervenleiden“
- 1926 Heirat mit Edith Graetz, in den folgenden Jahren bekommt sie vier Kinder; sie liest für ihren Mann Fachliteratur auf Englisch, Französisch und Italienisch und fasst neue Forschungen zusammen
- 1929/1930 Intermezzo in der Städtischen Nervenklinik in Magdeburg, Rückkehr nach Hamburg und bis 1934 Leiter der Neurologischen Abteilung am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg
- Die Pettes wohnen zunächst an der Hochallee 102 und dann an der Rothenbaumchaussee 136
- 1. Mai 1933: Offizielles Datum des Eintritts in die NSDAP
- Juli 1934 außerordentlicher Professor für Neurologie und Nachfolger von Max Nonne in Eppendorf
- 1934 wird Edith Pettes Bruder Dr. Erich Graetz als Assistent am Zoologischen Institut in Berlin entlassen und ausgebürgert, sein Doktortitel entzogen, er emi-griert nach Panama, kommt in den Fünfzigern nach Deutschland zurück
- 1935 wird Pette zum ordentlichen Professor und Direktor der Neurologischen Klinik in Eppendorf berufen
- 1935 löst die Nazi-Regierung die Gesellschaft Deutscher Nervenärzte auf; Zwangsvereinigung zu einer Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater; Pette wird stellvertretender Vorsitzender, der „Rassenhygieniker“ Ernst Rüdin wird „Reichsleiter“ der neuen Fachgesellschaft
- 1939 Edith Pette und die Kinder beziehen bis nach Kriegsende ein Ferienhaus in Garmisch-Partenkirchen; Heinrich Pette bleibt in Hamburg, kommt zu Besuchen, intensiver Briefwechsel
- 1942 legt Pette ein bahnbrechendes Werk vor: „Die akut entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems“; in seiner Karriere veröffentlicht er über 240 Aufsätze oder Studien
- Nach 1945: Pette wird zunächst auf Anordnung der britischen Militärregierung aus dem Staatsdienst entlassen und im Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer eingestuft (1948); nach seinem Widerspruch 1949 gilt er als „entlastet“
- 1947 erneute Berufung zum Professor (Extraordinarius), die Familie ist endgültig in Hamburg zurück; Edith Pette assistiert ihrem Mann in Privatsprechstunden
- 1948 Edith und Heinrich Pette sammeln Geld für eine „Stiftung zur Erforschung der spinalen Kinderlähmung“ und bauen auf dem UKE-Gelände zunächst in einem Keller und Luftschutzbunker ein Institut auf, das sich mit Kinderlähmung, Poliomyelitis, befasst sowie später mit multipler Sklerose; Stiftungsgelder kamen unter anderem von Philipp F. Reemtsma und Berthold Beitz
- 1949 wird Pette offiziell wieder Leiter der Neurologischen Klinik
- Ab 1951: Das Institut macht auf dem Gelände des UKE experimentell virologische Untersuchungen, auch an Affen
- 1953 Neugründung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie mit Pette als Vorsitzendem
- 1955 Heinrich Pette wird auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin
- 1955 Edith Pette wird geschäftsführendes Vorstandsmitglied des „Instituts zur Erforschung der spinalen Kinderlähmung“ (bis zu ihrem Ruhestand 1970)
- 1955 wird das Institut nach dem „Königsteiner Abkommen“ in den Kreis der von Bund und Ländern geförderten Forschungseinrichtungen aufgenommen
- 1957 Großes Bundesverdienstkreuz für Heinrich Pette, 1963 Hamburger Medaille für Kunst und Wissenschaft, zahlreiche Auszeichnungen und Preise, Ehrenmitgliedschaften in Fachgesellschaften
- 1958 Heinrich Pette wird emeritiert als Professor und Leiter der Neurologischen Klinik in Eppendorf
- 1961 sagt Pette im Untersuchungsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags als freiwilliger Zeuge aus. Der frühere SS-Mann und Arzt Werner Heyde arbeitete jahrelang unter dem Namen Dr. Fritz Sawade als Gutachter, von Mitwissern gedeckt
- 2. Oktober 1964: Heinrich Pette stirbt in Meran (Südtirol) an einem Herzinfarkt auf dem Weg zu einem Kongress in Warschau
- 1964 Das Institut, das die Pettes gegründet haben, wird umbenannt in Heinrich-Pette-Institut für Experimentelle Virologie und Immunologie an der Universität Hamburg
- 1966 Edith Pette wird Honorarprofessorin der Universität Hamburg
- 2. Juni 1972: Edith Pette stirbt
- Seit 2011 heißt das Institut Heinrich-Pette-Institut, Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie
- 2012: Nach einer Anfrage der Wissenschaftssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) beauftragt das HPI die Historiker Dr. Andrea Brinckmann und Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach mit einem Gutachten zu Pettes Verhältnis zu den Nazis
- Juli 2012: Das Gutachten liegt vor – Pette sei kein fanatischer Nazi oder „Fürsprecher nationalsozialistischer Erbgesundheitspolitik gewesen“
- 2015: Die Professoren Axel Schildt (verstorben 2019) und Malte Thießen sollen in einem Zweitgutachten Pettes Rolle im Nationalsozialismus untersuchen
- 2019 Das zweite Gutachten liegt vor, Pettes Sohn Prof. Dirk Pette weist auf Fehler, mutmaßlich falsche Deutungen und ergänzende Dokumente hin
- 2020: Das Gutachten wird laut HPI erneut überarbeitet;
- April 2021: Heinrich-Pette-Institut entscheidet sich für Umbenennung in Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie (HPI)
Korrektur: Prof. Dirk Pette ist nicht Mitglied der Königlich Dänischen Akademie der Wissenschaften, wie in der ersten Version des Textes stand. Die Akademie hat aber ihm zu Ehren im Januar 1999 in Kopenhagen ein eintägiges „Dirk-Pette-Symposium“ veranstaltet.