Hamburg. Lange Zeit gab es kaum Anklagen, das hat sich nun geändert. Diskussion in der Hamburger Bucerius Law School über die Prozesse.

Flaute, Stillstand — und manchmal sogar Gegenwind. Und das über Jahrzehnte. Sehr lange tat sich kaum etwas bei der Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Deutschland. Und nun sind innerhalb weniger Jahre mehrere Anklagen verfasst, Prozesse geführt und Urteile gesprochen worden. Jetzt, da die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten mit ihren Gräueltaten mehr als 75 Jahre zurückliegt und die früheren SS-Wachleute längst hochbetagt sind.

„Bestrafen auf den letzten Drücker?“ lautete deshalb das Thema einer Veranstaltung der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung (DIJV) in Kooperation mit dem Verband Jüdischer Studierender Nord an der Bucerius Law School. „Ist es vielleicht die letzte Chance, NS-Unrecht anzuklagen?“, fragte Moderatorin Julia Römer, Richterin und DIJV-Mitglied. „Und warum wurden frühere Chancen verpasst?“

Verfolgung von KZ-Wachleuten „praktisch eingeschlafen“

Über lange Zeit sei die strafrechtliche Verfolgung von ehemaligen KZ-Wachleuten „praktisch eingeschlafen“, sagte der Hamburger Oberstaatsanwalt Lars Mahnke. Der Jurist hat unter anderem die Anklage gegen Bruno D. vertreten, der als Jugendlicher 1944 und 1945 zur Wachmannschaft des Konzentrationslagers Stutthof gehört hatte. Der heute 94-Jährige D. wurde im vergangenen Sommer zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen verurteilt.

Bruno D. wird in den Verhandlungssaal geschoben.
Bruno D. wird in den Verhandlungssaal geschoben. © dpa | Christian Charisius

Den Weg zur Anklage in Fällen wie dem des Bruno D. oder auch gegen den als „Buchhalter von Auschwitz“ geltenden Oskar Gröning habe das Verfahren gegen den früheren Wächter im Vernichtungslager Sobidor, John Demjanjuk, geebnet, erklärte Oberstaatsanwalt Mahnke. Demjanjuk wurde 2011 schuldig gesprochen, an der Ermordung von mehr als 28.000 Gefangenen mitgewirkt zu haben. Anschließend hatte die Zentralstelle zur Verfolgung der Nationalsozialistischen Gewalttaten in Ludwigsburg 35 SS-Wachleute allein aus Auschwitz-Birkenau ermittelt, die noch lebten und nicht zur Verantwortung gezogen worden waren.

Konzentrationslager waren „Mordmaschinerien“

Die Staatsanwaltschaften setzten nun durch, dass unter anderem die Zwangsarbeit in Arbeitslagern als Mord gewertet wurde. „Vernichtung durch Arbeit“, fasste Mahnke zusammen. Insofern hätten Konzentrationslager als „Mordmaschinerie“ bezeichnet werden können. Wachleute hätten sich dementsprechend als „Rädchen der Mordmaschinerie“ der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht.

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Auf die Frage von Moderatorin Julia Römer, warum die Ermittlungstätigkeiten zuvor über Jahrzehnte ins Leere gelaufen seien, sagte Mahnke, die Gesellschaft sei seinerzeit „immer noch infiziert mit dem Geist der völkischen und antisemitischen NS-Ideologie“ gewesen. „Alle staatlichen Stellen waren betroffen.“ Früher habe man eher „die Haupttäter im Fokus“ gehabt und „nicht die, die als Rädchen fungierten“.

„Man hat nicht an die Opfer gedacht“

Klaus-Detlev Godau-Schüttke, früherer Richter am Landgericht Itzehoe und Verfasser des Buches „Der Bundesgerichtshof — Justiz in Deutschland“ sagte, es sei früher „politischer Konsens aller demokratischer Parteien“ gewesen, mit den Ermittlungen „Schluss zu machen“. Während seiner Zeit des Jurastudiums in den 1960er Jahren sei die NS-Justiz „schlechthin kein Thema“ gewesen. Er selber habe sich schließlich intensiv damit beschäftigt.

Daraufhin sei von Seiten der Ministerialbürokratie im Justizministerium versucht worden, seine erste Publikation über die Nachkriegsjustiz in Schleswig-Holstein zu verhindern. „Vergeblich“, wie der ehemalige Richter sagt. Das mangelnde Wissen habe früher „viele gelähmt. Es macht träge“, so Godau-Schüttke. Viele hätten angenommen, eine Strafverfolgung „bringt nichts. Man hat nicht an die Opfer gedacht“.

Gräueltaten der NS-Zeit wirken bis heute nach

Dass es diese Opfer sehr wohl immer noch gibt und die Gräueltaten der NS-Zeit bis heute nachwirken, betonte Eliana Korn, Vorstandsmitglied des Verbandes Jüdischer Studierender Nord. „Das Trauma ist nicht verschwunden und auch nicht verblasst“, sagte Korn. Prozesse gegen Verantwortliche hätten auch „76 Jahre nach Kriegsende nicht an Bedeutung und Relevanz verloren.“ Denn so werde ein „Zeichen gegen das Vergessen gesetzt“.