Hamburg. Der “Ritmo“ klebt auf der Brust und misst 72 Stunden den Herzrhythmus. So funktioniert die Auswertung mit künstlicher Intelligenz.

Dieser Schlag schleicht sich an. Er kommt zumeist mit leisen Anzeichen daher. Sie sind für den betroffenen Menschen oft gar nicht spürbar. Sie führen in die Irre, weil sie mal da sind, mal verschwinden. Der Schlaganfall ist ein tückischer Hieb. Er trifft einen Patienten nach diffusen Vorboten mit voller Wucht. Er lähmt, er kann das Hirn schädigen, die Sprache rauben, die kon­trollierte Bewegung. In Hamburg werden jedes Jahr 11.000 Patienten behandelt, die einen Schlaganfall erleiden. Rund 270.000 sind es bundesweit. Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe spricht von neun Milliarden Euro Kosten.

Das Geld ist das eine, das Leid für Patienten, denen Pflegebedürftigkeit droht, das andere. Auch wenn die Akutversorgung durch sogenannte „Stroke Units“ in Hamburger Krankenhäusern als vorbildlich gilt, lahmt die Prävention. Um das zu ändern, haben sich Hamburger Ärzte, Techniker und Geldgeber zusammengetan und ein Mini-Langzeit-EKG entwickelt, das das Vorhofflimmern als eines der häufigen Schlaganfall-Anzeichen erkennen und genau beschreiben kann.

Herzrhythmusstörungen: Warum sie so gefährlich sind

Diese besondere Herzrhythmusstörung könne mal messbar sein, mal wieder verschwinden, sagt Dr. Stephan Kranz vom Cardiologicum in Wandsbek. Vereinfacht gesagt: Das Flimmern kann dafür verantwortlich sein, dass das Blut in den Vorhöfen schlechter umgewälzt wird. Es fließt langsamer, Blutgerinnsel drohen. Diese Gerinnsel wiederum oder Teile von ihnen sind eine Gefahr für Blutgefäße im Gehirn. Verstopfen sie, löst das einen Schlaganfall aus. Kranz ist eigentlich Nuklearmediziner. Nun ist er mit Partnern Teil des Medizin-Start-ups dpv-analytics, zu dem auch der frühere Otto- und Hermes-Manager Philip Nölling gehört.

Joachim Seeler von HSP Hamburg Invest komplettiert als Gesellschafter den Zusammenschluss und sagt: „Das war ein Hamburger Club-Deal.“ Es gebe nur eine Handvoll Teilhaber und Geldgeber für das Mini-EKG. Das habe die Entwicklung beschleunigt. Es ist mit Ausnahme eines kleinen Anteils einer Freiburger Universitäts-Ausgründung vollständig „made in Hamburg“.

Mini-EKG zuerst für Versicherte der Hanse-Merkur

Versicherte der Hanse-Merkur sind die Ersten, die das Mini-EKG erhalten. Das Hamburger Unternehmen hat bereits einen Kooperationsvertrag mit dem Start-up. Anbieter ärztlicher Leistungen und weitere Krankenversicherungen könnten folgen.

Das Gerät ist als Medizinprodukt zertifiziert, die dahinterstehende künstliche Intelligenz ebenso. Es ist eine lernende Software, die darauf basiert, dass sie Zehntausende EKGs bereits kennt, mit der die Entwickler sie gefüttert haben.

Der digitale Mikrosensor ist fünf mal fünf Zentimeter klein, lässt sich auf ein eigens konstruiertes Heftpflaster für den oberen Brustkorb klicken und ersetzt die bislang gebräuchliche Oberkörper-Vollverkabelung mit einem Aufzeichnungsgerät, das mit mehreren Elektroden für 24 Stunden am Patienten klebt und hängt. Der „Ritmo“ ist wasserdicht und zeichnet das Elektrokardiogramm 72 Stunden auf.

Künstliche Intelligenz bei der Herz-Analyse

Diese Zeit, sagt Kranz, gebe ein vollständigeres Bild für den Herzschlag als die heute üblichen 24-Stunden-Ströme. Auch kürzeste „Flimmerphasen“ würden erkannt. So könne der Arzt oder ein Helfer dem Patienten das Pflaster mit dem „Ritmo“ aufkleben, es nach drei Tagen wieder in Empfang nehmen, von dpv-analytics auswerten und sich die Daten online schicken lassen und „validieren“. Anders als bislang braucht der Arzt das einzelne EKG eines Patienten nicht lange zu lesen, um Auffälligkeiten herauszufiltern. Die künstliche Intelligenz hilft ihm bei der Herz-Analyse.

Geschäftsführer Nölling sagt: Auch wer das Langzeit-EKG privat verwenden möchte, könne es bestellen, aufkleben und seine Herz-Daten auswerten lassen. Das koste 199 Euro. Die Ärzte bei dpv-analytics würden bei Auffälligkeiten aber zu einem sofortigen Praxisbesuch raten.

"Ritmo": EKG zum Aufkleben hat US-Konkurrenz

Durch die leichte Handhabung und Rücksende-Box für den Rhythmus-Checker sei das Gerät auch für den Privatgebrauch geeignet. Anders als ein vergleichbares Produkt aus den USA könne der „Ritmo“ desinfiziert und wiederverwendet werden. Der „Zio“ von iRhythm verspricht auch eine Herz-Überwachung und wirbt mit Millionen Anwendungen bislang sowie positiven Rezensionen in Fachmagazinen. Nölling sagt: In ländlichen Regionen mit weiten Wegen zum Arzt habe das Mini-EKG zum Selbstaufkleben große Vorteile.

Da es ein Medizinprodukt sei, müssten Ärzte, die es verwenden, auch keine Bedenken wie bei den Tausenden Gesundheits-Apps oder der Apple-Watch haben. Diese, sagt Seeler, zeichneten zwar Körperdaten auf. Doch das Auslesen sei für eine medizinische Interpretation nicht verlässlich übertragbar und müsse in der Praxis und als Langzeit-EKG wiederholt werden. Trotz positiver Bewertungen von Smartwatches sieht auch die Deutsche Herzstiftung das so.

Auch Herz-Spezialist Prof. Kuck entwickelt Schlaganfall-App

Auf eine unbedingt notwendige ärztliche Expertise macht auch Christian Harisch aufmerksam, der Geschäftsführer des Lanserhofs. Er arbeitet mit dem Hamburger Herz-Spezialisten Prof. Karl-Heinz Kuck (69) an der Entwicklung einer App, die am Ende die Schlaganfall-Rate um 25 Prozent senken soll. Dazu müssen die EKG-Daten genauestens analysiert werden. Kuck hat in der Asklepios Klinik St. Georg die Herz-Medizin über Jahre geprägt. Er arbeitet jetzt unter anderem für den Lanserhof und das Universitäre Herzzentrum im UKSH in Lübeck.

Für die Stiftung Schlaganfall-Hilfe ist die Prävention enorm wichtig. Das werde aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland immer dringlicher, denn, so die Stiftung: „Alter ist der größte Risikofaktor für einen Schlaganfall.“