Hamburg. Derzeit sind mehr als 260 Arzneimittel in den Apotheken nicht lieferbar. Kammerpräsident Siemsen erklärt, woran das liegt.

269 verschiedene Medikamente. So viele führt die zentrale Datenbank PharmNet.Bund derzeit als schwer oder nicht lieferbar. Die Spanne reicht von einfachen Schmerzmitteln und Fiebersäften bis zu Antibiotika, Blutdrucksenkern und Antikrebsmitteln. Rund ein Drittel der sogenannten Lieferengpassmeldungen sind seit dem Beginn des Ukrainekriegs hinzugekommen, andere stehen schon länger dort.

Zur Begründung steht bei der einen Hälfte der Einträge "Sonstige" – bei der anderen "Produktionsproblem". Genauer wird es nicht. Von den seit dem Beginn der Corona-Pandemie angespannten Lieferketten und der durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zusätzlich verschärften Situation im Welthandel bleibt auch die Herstellung von Medikamenten nicht verschont. Das bestätigt unter anderem die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH). Insbesondere Generika, also wirkstoffgleiche aber günstigere Medikamente, seien von den Engpässen betroffen.

Apotheke Hamburg: Warum die Zahl nicht lieferbarer Medikamente steigt

Im Vergleich zu den 2010er-Jahren sei die aktuelle Zahl der Lieferengpässe "sehr hoch", sagt Kai-Peter Siemsen, Präsident der Apothekerkammer Hamburg. Einen Anstieg beobachtete er aber schon vor den aktuellen Krisen. Eine steigende Zahl von Engpässen bestätigt auch Dr. Erik Engel, Vorsitzender des Landesverbands der niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (BNHO) in Hamburg.

Ausfälle in Fabriken oder auf dem Lieferweg sieht Siemsen nur als ein Symptom für ein tiefer liegendes Problem: "Als Grundursache dürfte aber die globale Konzentration der Arzneiwirkstoff-Produktion an wenigen Spots der Erde, hauptsächlich in China und Indien, gelten. Der wirtschaftliche Druck, insbesondere die Lohn- und Umweltschutzkosten im Vergleich zu Europa, treibt die Hersteller dazu, immer mehr die Produktion in diese Länder zu verlagern."

Auch Engel sieht die Preispolitik bei Arzneimitteln als Auslöser der Lieferengpässe: "Die Strategie der Krankenkassen, durch Rabattverträge Kosten zu senken" führe zu sinkenden Margen, die die Hersteller durch die Produktion in Niedriglohnländern ausglichen. Das Problem der ausgelagerten Produktion sei aber nicht neu, bestätigt auch die KVH. Es werde "unter diesen besonderen Umständen nur besonders deutlich".

Herstellung von Arzneimitteln: Ausfall einer Fabrik kann globale Folgen haben

"In ganz Europa gibt es nur noch eine Antibiotikaproduktion. Hier wird eins der ältesten Antibiotika, nämlich Penicillin, hergestellt", sagt Siemsen und beschreibt ein düsteres Szenario, sollte sich das Verhältnis des Westens zu China weiter verschlechtern: "Frau Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe von der Uni Würzburg hat es sinngemäß mal so beschrieben: China muss keinen Krieg mit Panzern gegen Europa führen, es reicht, wenn China die Antibiotika-Lieferungen einstellt!"

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Durch die Konzentration der Produktion – so sei in der chinesischen Region Wuhan, dem Ursprung des Coronavirus, die weltweit größte Zahl von Arzneimittelproduktionsstandorten zu finden – könnten auch regionale Störungen globale Folgen haben. Wenn China aufgrund eines Corona-Ausbruchs Fabriken, Häfen oder ganze Städte lahmlege, seien die Folgen schnell weltweit zu spüren, erklärt Siemsen und Engel ergänzt, dass schon der Ausfall einer einzigen Fabrik drastische Folgen haben kann, "weil es die einzige Fabrik weltweit sein könnte, die den Arzneimittel-Rohstoff herstellt".

Der Krieg in der Ukraine verschärfe die Lage zusätzlich: Er führe "zu einem erhöhten Bedarf von Schmerzmitteln, aber gleichzeitig auch zu einer Verknappung von Energie und Rohstoffen", so Siemsen. So fehlten – wie in anderen Industriezweigen auch – Zulieferteile wie Glasflaschen oder Sprühaufsätze und ähnliches.

Medikament nicht lieferbar? Patienten sollen trotzdem nicht hamstern

Vom Hamstern rät Siemsen Patienten zwar ab – wer regelmäßig Medikamente brauche, solle aber sicherstellen, dass er sich "rechtzeitig die nächste benötigte Packung verschreiben" lässt: "Rechtzeitig soll hier bedeuten, dass ich bei Arzneimitteln, die ich regelmäßig einnehmen oder anwenden soll, noch für mindestens 10 Tage bevorratet bin."

Die verbreiteten Lieferprobleme sorgten schon jetzt dafür, dass Mitarbeiter in Apotheken "wöchentlich jeweils fünf bis sieben Stunden nur für die Lösung von Lieferproblemen aufwenden", erklärt Siemsen. Die gute Vernetzung der Apotheken würde zwar dafür sorgen, dass regionale Engpässe sehr schnell ausgeglichen werden könnten. Das hieße aber auch, dass anhaltende Lieferengpässe zum Beispiel in Hamburg immer darauf hindeuteten, dass das entsprechende Produkt in ganz Deutschland nicht verfügbar sei, "oft sogar europaweit".

Probleme durch Medikamentenmangel? So ist die Situation in Hamburg

Zu Problemen, die die Versorgung von Patienten gefährden würden, ist der KVH in Hamburg derzeit allerdings nichts bekannt. Oftmals könnten Ärzte und Apotheken "durch den Austausch verschiedener Hersteller bei generischen Präparaten oder durch das Ausweichen auf andere vergleichbare Wirkstoffe die Versorgung der Patienten" sicherstellen.

Bei der Behandlung von Krebspatienten in Hamburg, so BNHO-Vorstand Engel, gibt es ebenfalls immer wieder einmal Fälle, bei denen die Therapie außerplanmäßig umgestellt werden muss, weil ein Medikament nicht verfügbar ist, "wenn ich aus meiner eigenen Praxis spreche, noch ohne gravierende Folgen". In diesem Jahr gab und gibt es bereits bei drei Arzneimitteln in der Onkologie Engpässe: "Tamoxifen (behoben), Caelyx und absehbar Folinsäure", sagt Engel. Bei Tamoxifen hätten " entsprechende Maßnahmen des Bundesgesundheitsministeriums zwischen März und Mai" dafür gesorgt, "dass die vorhandene Menge ausgereicht hat", ergänzt die KVH.

Apotheke Hamburg: Kammerpräsident kritisiert Gesundheitsminister

Mit einer raschen Verbesserung der Lage rechnet Siemsen aufgrund der "Geiz-ist-geil-Methode im Gesundheitswesen" und der anhaltenden Krisen nicht, vielmehr drohe sogar eine Verschärfung: "Wenn jetzt auch noch die Apotheken nach dem Willen des Karl Lauterbach weiter ausbluten sollen und die fast 4000 Apothekenschließungen der letzten Jahre sich progressiv in der Zukunft fortsetzen", werde es für den Verbraucher immer schwieriger, sich mit Medikamenten zu versorgen.

"Da, wo es keine Apotheke mehr gibt, bricht regelmäßig die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung komplett zusammen", warnt der Apotheker.