Hamburg. Wo in Hamburg tauchen Spuren der Pandemie auf? Und wie wird sich langfristig das Antlitz der Stadt wandeln? Eine Spurensuche.

Morgens um zehn ist die Welt noch in Ordnung – zumindest in 37 Meter Höhe: Auf der Elbphilharmonie-Plaza geht es ruhig zu, nur wenige Besucher haben sich auf die Aussichtsplattform verirrt, die Hansestadt liegt fast malerisch im weichen Licht der Vormittagssonne.

Für einen Moment scheint die Pandemie weit weg – der Blick schweift in die Ferne. Die Betriebe auf der Südseite der Norderelbe produzieren munter, auf Asphalt und Wasser großstädtisches Treiben; sogar ein Aida-Kreuzfahrtschiff ist zu sehen. Nur Hamburg-Kenner wissen, dass es zurzeit keine Gäste zum Landgang ausspuckt, sondern bei Blohm + Voss im Dock liegt.

Wie verändert Corona die Stadt Hamburg?

Wäre die Maske nicht, alles könnte sein wie früher, zu der Zeit, die Tag für Tag weiter verblasst. Seit bald eineinhalb Jahren bestimmt das Virus unser Leben, unseren Alltag, unser Denken. Und immer, wenn die Zuversicht wächst und etwas Helles am Ende des Tunnels aufblitzt, folgt der nächste Rückschlag: Manche Hoffnung entpuppte sich rasch als trügerisch, und die Lichter, so unken Pessimisten, kämen stets vom entgegenkommenden Zug.

Die erste Idee für diese Wanderung hieß „Die Stadt nach Corona“. Doch das Virus ist gekommen, um zu bleiben – und es wird Hamburg verändern. Nur wie diese Veränderungen aussehen wird, weiß keiner. Während manche Branche unbeeindruckt weiterarbeitet, liegen andere seit Langem auf der Intensivstation. Was hinter den Fassaden der Bürotürme passiert, bleibt im Verborgenen – welche Räume werden noch genutzt, welche sind schon abgemietet, welche Geschäfte halten noch wie lange durch, welche Gastronomen überleben das Jahr?

Großer Burstah: Leerstand an Leerstand

Fragezeichen im Schaufenster: 
Wer zieht in die neuen Stadthöfe?
Fragezeichen im Schaufenster: Wer zieht in die neuen Stadthöfe? © Unbekannt | Matthias Iken

Den Großen Burstah, Hamburgs einstmals stolzeste Einkaufsstraße, hat die Pandemie bis ins Mark erschüttert. Wo die Belebung der Innenstadt hin zur Stadthausbrücke und dem Hafen gelingen sollte, reiht sich Leerstand an Leerstand. Vor dem früheren Wäschehaus Möhring hat es sich ein Obdachloser gemütlich gemacht – freundlich grüßt er die Passanten und freut sich, hier ein geschütztes Plätzchen gefunden zu haben. Er kann mitverfolgen, wie gegenüber ein neues Stück Stadt entsteht.

Beton ist gegen das Virus abgehärtet, Woche für Woche streben die Gebäude weiter in die Höhe, trotzen der Pandemie. Dort, wo einst das graphitgrau loxierte leichtmetallverkleidete Allianz-Hochhaus die Stadt förmlich erschlug, wächst ein neues Viertel: 250 Millionen Euro fließen in das Burstah Ensemble, das ab 2023 Wohnen, Gastronomie, Handel und Arbeiten zurück ins Herz der Stadt holen möchte. „Ein Viertel mehr Hamburg“ versprechen die Wortakrobaten von den Bauzäunen. Es könnte gelingen: Die Messe ist für den Großen Burstah noch nicht gelesen.

Verkehrsaufkommen so hoch wie vor der Pandemie

Ganz anders sieht es wenige Meter weiter aus – dort, wo jetzt noch die Cremonbrücke die Schneise namens Ludwig-Erhard-Straße überwindet, werden Ende des Jahres die Abrissbagger anrücken. Dann fällt die Fußgängerbrücke nach bald 40 Jahren, die Architekturfans als „Blaues Wunder“ verklären, viele Bürger indes für eine Blaue Wunde halten, ein brachiales Stahl-Scheusal.

Wenige werden ihr eine Träne nachweinen, weil die Cremonbrücke offensiv vernachlässigt wurde: Die Rolltreppen sind seit Monaten kaputt, Schmierfinken haben vieles besprüht und die Glasscheiben beklebt. Verfall zerstört jede Ästhetik. Wer ein Abrissgenehmigung benötigt, sollte gute Kontakte in die Sprayerszene haben.

Noch lässt sich auf der Brücke Stadtplanung erfahren – auf der Bundesstraße 4 stauen sich auf sieben Spuren Autos und Lastwagen. Das Verkehrsaufkommen in der Stadt ist inzwischen so hoch wie vor Ausbruch der Corona-Pandemie – teilweise sogar höher. Zwar arbeiten noch immer viele Menschen von zu Hause, doch aus Angst vor einer Ansteckung sind Pendler reihenweise von der Bahn aufs Auto umgestiegen und kommen bislang nur zögerlich zurück. Für den öffentlichen Nahverkehr ist die Pandemie eine Katastrophe.

Althanseatischer Stil an der Deichstraße

Die Deichstraße hat sich für die Besucher der Stadt herausgeputzt, die Cafés und Restaurants stellen ihre Tische nicht nur heraus, sondern jeden Meter der Bürgersteige zu: Es gilt, die monatelangen Einnahmeausfälle ein wenig aufzuholen. Am Vormittag sind die meisten Plätze frei, noch etwas verschlafen blinzelt Hamburgs Schmuckkästchen in die Sonne. Althanseatisch-gediegen präsentiert sich das letzte erhaltene Ensemble althamburgischer Bürgerhäuser.

Die Straße ist nicht nur hübsch anzuschauen, sondern ordnet Geschichte ein: Übermäßige Corona-Untergangsstimmung dürfte übertrieben sein: In der Deichstraße brach 1842 der Große Brand aus, der ein Viertel der Stadt verheerte, die Gasse überlebte die todesschweren Bombennächte der Operation Gomorrha 1943 und Planungen der späten 60er-Jahre, noch mehr Altbauten zu schleifen, um Platz für neue Autos zu schaffen.

Hamburg hat Sperrstunde, auf dem Land wird gelebt

Nur wenige Menschen sind an diesem Werktag unterwegs, um Hamburgs Wahrzeichen zu besuchen. Wer auf die Plaza der Elbphilharmonie möchte, bekommt sofort eine Eintrittskarte. Zu den frühen Besuchern gehören drei junge Männer aus dem emsländischen Spelle, die mit einem Freund aus der Schweiz die Elbphilharmonie besuchen. Spontan sind sie für einen Kurzbesuch nach Hamburg gekommen und haben in der Jugendherberge übernachtet.

Besucher der Elbphilharmonie
Junge Touristen mit Maske auf der Elbphilharmonie-Plaza: Jakob Ginten, Jost Vehr, Max Robert und Lukas Mersch (v. l.) © Unbekannt | Matthias Iken

Ein Trip in die Metropole, in der vermeintlich das Leben tobt. Ihr Kiezbesuch aber endete viel früher, als die Jungs erwartet hatten. „Wir waren gestern unterwegs“, erzählt Jost Vehr. „Es war aber extrem ruhig – da hätten wir uns mehr gewünscht. Alkohol gab es nur bis 23 Uhr, dann wurden wir weggeschickt. Da haben ja die Kneipen bei uns im Dorf länger geöffnet.“ Das Tor zur Welt hat Sperrstunde, das Land lebt. „Aber gut“, sagt Vehr. „Spelle ist auch coronafrei.“

Corona hat die touristische Infrastruktur lahmgelegt

Piktogramm in der Elbphilharmonie
Die Corona-Regeln im Piktogramm in der Elbphilharmonie © Unbekannt | Matthias Iken

Den Tag in Hamburg werden sie mit Sehenswürdigkeiten austrudeln lassen; für spontane Besuche ist das Angebot ohnehin arg eingeschränkt. Spontan war gestern. Das Miniatur Wunderland etwa bietet erst für Ende August wieder Onlinetickets ohne Wartezeit. Corona hat die touristische Infrastruktur lahmgelegt – die Lichterkette der Sehenswürdigkeiten strahlt nicht mehr, einiges leuchtet wieder, an manchen Stellen mag es flackern, vielerorts ist das Licht erloschen.

Die Musicals gehen erst in den einigen Wochen wieder an den Start: Im September soll „Wicked“ Premiere feiern, im Oktober Disneys „Der König der Löwen“ wieder an den Start gehen. Und im Dezember dann, wenn nicht wieder Gamma, Delta oder Epsilon dazwischenkommen, Harry Potter die Stadt musikalisch verzaubern.

Hamburg macht es seinen Besuchern zurzeit nicht leicht

Heute, hier und jetzt ist das Angebot überschaubar. Manches hat zwar wieder geöffnet, kann unter Pandemiebedingungen aber nur begrenzt Gäste begrüßen. Die Corona-Regeln erfordern etwa bei Hafenrundfahrten nicht nur Masken an Bord der Schiffe, sondern auch einen Impfnachweis oder einen aktuellen Schnelltest. Es war schon einfacher und unbeschwerter, zu Gast in Hamburg zu sein.

Das spürt auch Jürgen Bielke am Sandtorkai, Mitarbeiter von Hamburg Tourist.info oder, wie er es nennt, „Touristenbespaßer“. Er versucht, an seinem mobilen Stand Karten für Stadt- und Hafenrundfahrten zu verkaufen. „Das Geschäft ist noch ausbaufähig“, sagt er gut gelaunt. „Immerhin läuft es seit Anfang Juli wieder ein bisschen an. 15 Monate ging ja gar nichts.“ Die mobilen Stände hatte die Kartenvertriebsgesellschaft einst angeschafft, um das boomende Geschäft mit der Schönheit der Stadt zu entzerren – heute wirken die Aufsteller eher wie Lebens- und Ausrufezeichen.

„Hafenrundfahrten gehen immer“, sagt Bielke. „Derzeit leben wir fast nur von der deutschen Gästen. Gerade die ausländischen Touristen fehlen – auch die Schweizer und Österreicher“, sagt Bielke. Ihr Anteil ist von rund 25 Prozent auf unter zehn Prozent gefallen. Den Hauch der großen weiten Welt lassen in diesen Tagen nur die Fahnen erahnen, die über dem City-Sportboothafen flattern.

Ruhe und Platz auf Hamburgs maritimer Meile

Landungsbrücken
Der gelbe Maskenmann ist auf den Landungsbrücken allgegenwärtig. © Unbekannt | Matthias Iken

Über die Landungsbrücken wandere ich weiter Richtung Sankt Pauli. Ein ständiger Begleiter ist der Maskenmann, ein in knallgelber Farbe auf den Asphalt gesprühter Glatzkopf mit der autoritären Ansage „Maskenpflicht“. Nun gibt es viele gute Argumente für Schutzmasken in Innenräumen, unter freiem Himmel aber gehen die Aerosole so schnell verloren wie die Argumente. Inzwischen gilt sie in der Stadt nur noch dort, wo der Mindestabstand von eineinhalb Metern nicht eingehalten werden kann – auf den Landungsbrücken ist selbst das Zehnfache kein Problem. Gut möglich, dass der Maskenmann wegen seiner wetterfesten Farbe am Ende die Pandemie überlebt.

Ob das auch für die vielen Angebote an Hamburgs maritimer Meile gilt, steht noch dahin. Wer auf Besucher, Leichtigkeit, Zeitvertreib setzt, schippert seit März 2020 durch schwere See. Die „Rickmer Rickmers“, Hamburgs dreimastiger Großsegler, ist mit Werbebannern behängt wie ein Weihnachtsbaum: „Herzlich willkommen“ hängt da, oder „Museumsschiff täglich geöffnet“. Doch wer wird den „Escape Room an Bord“ als Einladung zur Schnitzeljagd verstehen? Und wer sich von „In die Wanten, Ihr Landratten“ angesprochen fühlen? Das benachbarte Restaurantschiff wirbt „Biergarten geöffnet! Aber sicher“. Ein Wortspiel, dem das Spielerische längst abgeht.

Das Virus eine Frage der Weltanschauung?

Auch die Wortakrobaten der Politik haben die Pandemie für sich entdeckt: „Fridays for Future“ plakatieren an einer Hafenmauer für längst vergangene Aufmärsche „Endlich wieder zusammen fürs Klima“, natürlich „coronakonform“. An Brücke 1 verulkt ein Spucki den Krisengewinnler Amazon prime zu „Amazon nein“. Und die Anarchistische 1.-Mai-Demo hat auch einen Corona-Bezug in petto: „Kapitalismus ist der Superspreader“ heißt es auf deren Plakaten.

Das Virus ist offenbar auch eine Frage der Weltanschauung. Ob aber die Weltanschauung vor einer Infektion schützt? Die Welterklärer der Hafenstraße haben auf diese Frage noch keine Antwort gefunden. Die schwarzen Bretter – dürfen die eigentlich noch so heißen, in Zeiten sprachlicher Hypersensibilität? – haben andere Themen.

 Da geht es gegen den Lieblingsfeind, die Polizei, den Staat, der den Besetzern einstmals so günstigen Wohnraum ermöglichte. Da geht es um die schwierige Lage der Flüchtlinge („Lager schließen. Hotels öffnen“) oder um Solidaritätsadressen an die Hausbesetzer in der Rigaer Straße in Berlin. Sagen wir es so: Die Hafenstraße ist coronafrei.

Bernhard-Nocht-Institut so bekannt wie nie

Egbert Tannich vom BNITM unter der Impfspritze der Künstler von PUSH
Egbert Tannich vom BNITM unter der Impfspritze der Künstler von PUSH © Unbekannt | Matthias Iken

Das Gebäude in der Nachbarstraße hingegen ist ein Wahrzeichen der Pandemie. Auf dem Geesthang über der Elbe thront das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM), ein dreiteiliger Klinkerbau des legendären Oberbaudirektor Fritz Schumacher. Er zeigt, wie Pandemien die Stadt verändern, erzählt Egbert Tannich, der Vorstandsvorsitzende des BNITM. Der Bau des Tropeninstituts ist ein Ergebnis der verheerenden Cholera-Epidemie, die 1892 in Hamburg wütete und 8605 Menschenleben forderte. Die Einrichtung war eine Art Wiedergutmachung der Pfeffersäcke, denen zuvor eine Trinkwasseraufbereitung für die Bürger entbehrlich schien.

Heute arbeiten und forschen am Standort Hamburg rund 350 Mitarbeiter wie der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit – und stehen im Fokus des öffentlichen Interesses. „Plötzlich kennt fast jeder das Bernhard-Nocht-Institut“, sagt Tannich. Das war nicht immer so: Noch vor weniger Jahren konnte man bei „Wer wird Millionär?“ mit dem Wissen, was hinter dem Institut steckt, viel Geld gewinnen.

Strenge Regeln in der Forschungseinrichtung

Was auch kaum einer weiß: Es war in Hamburg, wo 2003 der junge Virologe Christian Drosten und sein Kollege Stephan Günther eine Weltsensation schafften: Ihnen gelang, das damals neuartige SARS-Coronavirus zu identifizieren und einen schnellen Test zu entwickeln. Heute gehört das BNITM, das sonst dem Lassa-Virus, dem Dengue-Fieber oder Ebola nachspürt, zu den großen Playern in der Bekämpfung von Infektionserregern. Sein mobiles Labor wird weltweit nachgefragt.

Die Regeln in der Forschungseinrichtung sind strenger als der ohnehin strenge Hamburger Standard: Selbst zweifach Geimpfte müssen einen negativen Test vorlegen. Deshalb spazieren wir um das Gebäude mit seinem neuem Labortrakt, auch „Virenknast“ genannt, herum. Fast unweigerlich denkt man an das Corona-Labor in Wuhan.

Tannich sieht Corona-Politik in Europa kritisch

Bei der Frage nach dem Ursprung will sich Tannich nicht festlegen. Ein Laborunfall sei theoretisch möglich, die Erklärung, das Virus habe sich von einem Wildtiermarkt in China ausgebreitet, hält er für unwahrscheinlich: „Als das Virus im Dezember 2019 in Wuhan entdeckt wurde, waren bereits so viele Menschen infiziert, dass man davon ausgehen muss, dass es dort bereits zwei bis drei Monate zirkulierte.“

Kritisch beobachtet er die Politik in Europa: „England macht einen riskanten Großversuch, indem es alle Corona-Regeln aufgehoben hat“, sagt Tannich und verweist auf Regionen, in denen die Inzidenz bereits wieder Werte über 1000 erreicht hat. „Das Delta-Virus ist wahnsinnig infektiös. Und durch die Saisonalität wird die Verbreitung im Herbst noch zunehmen.“ Andererseits zeige England, dass dank der Impfungen jetzt weniger Menschen schwer erkranken.

„Strenge Maßnahmen waren in einer Großstadt berechtigt“

„Die entscheidende Frage des England-Experiments ist also die nach den Langzeitfolgen von Covid-19. Wie viele Infizierte erkranken dauerhaft und entwickeln ein sogenanntes Long-Covid, wenn man das Virus laufen lässt? Dazu wissen wir noch viel zu wenig.“ Deutschland könnte von den Ergebnissen auf der Insel also durchaus lernen.

Die Corona-Politik des Bürgermeisters lobt der Experte: „Peter Tschentscher hat das sehr abgewogen – die strengen Maßnahmen waren in einer Großstadt berechtigt.“ Zugleicht lobt er die Lockerungen. „Bis vor Kurzem war St. Pauli tot, wenn ich abends nach Hause fuhr. Langsam beleben sich die Straßen wieder. Ich bin froh, dass man sich wieder draußen treffen kann. Wo stünden wir heute, wenn es noch keinen Impfstoff gäbe?“

St.-Pauli-Kirche als Hoffnungsort

Ich stünde wahrscheinlich nicht hier – und die Stadt sähe deutlich düsterer aus. Entweder Hamburg würde in einem Dauerlockdown gefangen sein oder hätte viel mehr Opfer zu beklagen. So seltsam es klingt: Wir haben Glück im Unglück. Es gibt einen verdammt guten Grund, dankbar zu sein.

Nachdenklich schlendere ich zu einem Hoffnungsort auf St. Pauli, einer Oase aus Grün, eine Insel der Stille. Etwas versteckt liegt auf dem Hamburger Berg die St.-Pauli-Kirche. Sie wirkt wie der steingewordene Gegensatz zur geilen Meile, die oft schrill, laut und schräg daherkommt. Und sie ist doch harmonischer Teil des Gesamtkunstwerks St. Pauli, das oft herb, rau und anstrengend wirkt, aber meist herzlich, weich und unverstellt ist.

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„Viele auf dem Kiez sind wütend“

Seit bald 19 Jahren ist Sieghard Wilm im Viertel zu Hause, ein Pastor zwischen Rotlicht, Blaulicht, Schwarzlicht. Er kennt die Sorgen und Nöte der Menschen auf dem Kiez. „Ich spüre bei den Gastronomen eine große Verärgerung über die Sperrstunde. Auch mir erscheint diese 23-Uhr-Regelung nicht logisch: Nach dem Essen können die Leute kaum noch einen Cocktail trinken.“

Andere Städte und Stadtteile zeigten, dass es anders funktionieren kann. „Viele auf dem Kiez sind wütend, weil sie die Corona-Regeln peinlich genau einhalten – und trotzdem schließen müssen. Und nach 23 Uhr gehen die Gäste nach Hause, feiern dort weiter und ignorieren alle Gebote.“ Immerhin habe die Krise auch ihr Gutes – endlich dürften die Kioske, die den Gastronomen das Leben zuletzt immer schwerer gemacht haben, keinen Alkohol mehr verkaufen.

Rettungsschirm ist für viele nur ein Regenschirm

Wilm ist keiner, dem das Virus die Zuversicht raubt. Gleich fünf Konzerte sind im August in der St.-Pauli-Kirche geplant, auch der Sonntagsgottesdienst findet wieder statt. Als Seelsorger ist er so gefordert wie nie zuvor. Er erzählt von Künstlern, denen die Energie ausgeht, von Unternehmern, deren Selbstbewusstsein schwindet, von Soloselbstständigen, die nicht mehr weiterwissen. Der Rettungsschirm sei für viele nur ein Regenschirm – „da regnet es von der Seite herein“. Der Kiez-Gastronomie drohen zudem viele Beschäftigte von der Fahne zu gehen: „Wer konnte, ist abgewandert. Für St. Pauli ist das eine Katas­trophe. Wir sind vergessen worden.“

Auch Pastor Wilm durchlebte bittere Momente. „Der Tiefpunkt war für mich der Heiligabend: Da musste ich den Engel aus dem Krippenspiel anrufen und ihm sagen: Du darfst nicht die frohe Botschaft verkünden: „Fürchtet euch nicht“.“ Die Tradition, die Osterkerze gemeinsam über den Kiez zu tragen, entfiel wegen der Ausgangssperre, die Kirche musste zugesperrt werden, Abendmahlfeiern wurden abgesagt. „Aber Gottesdienst findet trotzdem statt – in unserer diakonischen Arbeit, im Dienst am Menschen“, sagt Wilm. „Wir hoffen weiter. Wir planen unser Weihnachtsoratorium und unser Sommerfest. Wir geben nicht auf.“ Der Glaube, er trägt auch in Corona-Zeiten.

Glauben an die Wende zum Guten verloren

Odin Janoske-Kizildag, Kiezwirt
Kiezgastronom Odin Janoske-Kizildag macht seine 99-Cent-Bar 2021 wohl nicht mehr auf. © Unbekannt | Matthias Iken

Einen Steinwurf entfernt hat Odin Janoske-Kizildag den Glauben an eine Wende zum Guten verloren. Der Kiezgastronom in dritter Generation strebt nun in die Politik. Er will als parteiloser Direktkandidat in den Bundestag. Die Zeit hat er, seine Bar 99 Cent an der Ger­hardstraße ist seit Ende Oktober 2020 geschlossen und öffnete nur als Hauptquartier für die Proteste der Kiezwirte.

 „Dieses Jahr mache ich wohl nicht mehr auf“, sagt er. Seine Bar bietet alle Getränke für 99 Cent an – „das war wichtig für die Jungen wie die Alten, die keine Kohle haben“. Seit 19 Jahren habe er nichts an den Preisen geändert – ob es noch ein 20. Jahr gibt, er weiß es nicht. Um Geld zu verdienen, handelt er nun mit Autos.

Kiezgastronom Janoske-Kizildag: „Die Wut ist überall“

Zunächst protestierte er mit Leidensgenossen, organisierte Demos, bevor diese aufgrund der Ausgangssperre verboten wurden, dann verklagte er die Stadt. „Irgendwann sagten die Leute: Geh doch in die Politik.“ Nun hat der Klassenkamerad des Bundestagsabgeordneten Marcus Weinberg Unterschriften gesammelt und will der erste parteilose Direktkandidat werden.

Janoske-Kizildag, der früher immer SPD wählte, glaubt an 35.000 Stimmen: „Die Politik hat den Kiez vergessen, die Barbesitzer, die Künstler, aber auch die Schulen. Peter Tschentscher weiß nicht, wie die Stimmung hier in den Straßen ist. Die Wut ist überall.“ Seine Kandidatur versteht er als Ausrufezeichen: „Wir sterben immer noch.“

Irgendwann kommt ein alter Mann in die Bar 99 Cent, in der wir sitzen. „Ich brauche etwas zum Anlehnen“, sagt er mit kritischem Blick auf die lehnenlose Bänke. „Wir haben nicht einmal auf“, entgegnet der Chef. „Nichts hat hier auf!“ Traurig schlendert der alte Mann davon. Wer ein Wohnzimmer mit Großbildschirm, Streamingdienst und vollem Kühlschrank sein eigen nennt, kann Corona besser überdauern. Wer kein Wohnzimmer hat, wird heimatlos.

Masken sind die Kippen des 21. Jahrhunderts

St. Pauli ist das Opfer der Pandemie – zum einen, weil hier viele Arme wohnen, die Corona besonders trifft, zum anderen, weil das Geschäftsmodell des Kiezes nicht mehr funktioniert. Dort feierten die Menschen über Jahrhunderte das Leben – nun fürchten die Menschen den Tod. Alkoholverbote, Sperrstunde, Ausgangssperre haben ein ganzes Viertel verändert. „Wir werden den Kiez nach Corona nicht wiedererkennen“, sagt Janoske-Kizildag. „Gerade die alten Kneipen mit Herzblut und Kiezgeist werden wir verlieren.“

Verlorene oder weggeworfene Masken sind die Kippen des 21. Jahrhunderts – überall liegen sie auf Hamburgs Straßen und Wegen herum.
Verlorene oder weggeworfene Masken sind die Kippen des 21. Jahrhunderts – überall liegen sie auf Hamburgs Straßen und Wegen herum. © Unbekannt | Matthias Iken

Auf der Reeperbahn spürt man diese Weltuntergangsstimmung nicht, es ist eher ein Siechtum: Manche Rollläden sind heruntergelassen, obwohl die Läden eigentlich geöffnet sein müssten, Souvenirs mit Hamburg-Logo werden verramscht, Kneipen sind geschlossen, Baustellen ruhen. Die Meile benötigt ein neues Adjektiv – geil ist hier nichts mehr. Auf den Straßen liegen abgestreifte, verlorene, vergessene Mund-Nasen-Schutze: Masken sind die Kippen des 21. Jahrhunderts.

Plakate mit Gedichten von Semra Ertan

Auf der Detlev-Bremer-Straße vermag ein Plakat den Wanderer ins Nachdenken zu bringen. Dort haben Unbekannte Gedichte von Semra Ertan plakatiert: Eines heißt „Mein Name ist Ausländer“:

Mein Name ist Ausländer,
Ich arbeite hier,
Ich weiß, wie ich arbeite,
Ob die Deutschen es auch wissen?
Meine Arbeit ist schwer,
Meine Arbeit ist schmutzig.
Das gefällt mir nicht, sage ich.
,Wenn dir die Arbeit nicht gefällt,
geh in deine Heimat’, sagen sie. (...)

Semra Ertan war 1971 mit 14 Jahren nach Deutschland gekommen, ihre Eltern suchten ein besseres Leben. Elf Jahre später verbrannte sie sich aus Protest gegen die wachsende Ausländerfeindlichkeit an der Simon-von-Utrecht-Straße.

Corona-Impfstoff gibt Hoffnung auf Normalität

Zur selben Zeit, als Semra Ertan nach Deutschland zog, kamen zwei andere Türken als Kleinkinder ins Land: Uğur Şahin und Özlem Türeci. Sie waren die ersten, die weltweit einen Corona-Impfstoff entwickelten. Dieser Impfstoff ist es, der Hoffnung macht. Im Stadion des FC St. Pauli fand am vergangenen Sonntag das erste Saisonspiel vor fast 10.000 Zuschauern statt. Der ganz große Ansturm auf die Karten blieb aus – lag es an der Ferienzeit, der Vorsicht oder doch an der fatalen Anziehungskraft der Couch? Macht die Pandemie ein Volk zu Stubenhockern?

Auf dem Heiligengeistfeld, dem das Stadion zu Füßen liegt, eröffnet nun der Sommerdom. Es ist der erste Rummel seit dem Winterdom 2019 – alle Veranstaltungen danach sagte die Stadt ab und schickte die Schausteller in ein Tal der Tränen.

Corona-Pandemie belastet Schausteller besonders

Schaustellerin Martina Rasch hofft auf die Dom-Besucher.
Schaustellerin Martina Rasch hofft auf die Dom-Besucher. © Unbekannt | Matthias Iken

„Wir waren 16 Monate stillgelegt“, erzählt Martina Rasch von der Mandelbude, die Nüsse, Liebesäpfel, gebrannte Mandeln feilbietet. „Wir sind seit Generationen Schausteller“, erzählt sie. Schon als Kind sei sie mitgereist, habe bestimmt 20 Schulen besucht; ihre Mutter habe noch mit 89 im Verkaufswagen gestanden. Sie sind Schausteller mit Stammbaum: „Aber das haben wir noch nicht erlebt. Corona war psychisch ex­trem belastend – finanziell sowieso.“

Der Dom ist nun der Neustart, für Rasch eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Keiner weiß, wie viele Menschen kommen: Die Besucher müssen sich vorher anmelden, Maske tragen und einen Negativtest vorlegen. „Da fürchte ich um unsere Laufkundschaft“, sagt Rasch. „Ich hoffe, dass die Bürger zu würdigen wissen, was wir machen, und zu uns kommen“, sagt sie. Die Behörde habe zwar die Standgebühr erlassen – dafür hat sich der Strompreis von 200 auf 730 Euro fast vervierfacht. „Wir versuchen alles, wir geben nicht auf.“

Corona-Teststation
Die Corona-Teststation am Zentralen Omnibus-Busbahnhof ist besser besucht als viele andere Stellen in der Stadt. Von hier fahren die Busse in alle Himmelsrichtungen. © Unbekannt | Matthias Iken

Die Stadt sieht seit Corona ein wenig schmuddeliger aus

Auf dem Weg in die Stadt passiere ich zahlreiche Teststationen – an der Laeisz­halle steht eine Glühwein-Bude, eingezwängt in einen Bauzaun mit schrillen lilafarbenen Aufstellern und Planen, die für Corona-Schnelltests werben. Die Pandemie ist nicht nur eine Herausforderung für das Gesundheitssystem, sondern auch für das ästhetische Empfinden. Überhaupt sieht die Stadt ein wenig schmuddeliger aus – nicht dreckig oder verwahrlost, aber ein bisschen ungepflegt.

Abgestelltes Fahrzeug an der Alster
Unter den Linden parken – keine gute Idee. Dieses Fahrzeug genießt den Alsterblick schon seit Wochen, übrigens kostenfrei. © Unbekannt | Matthias Iken

Corona hat das Stadtbild mitgenommen: Wird mehr gesprayt oder weniger gesäubert? Mehr achtlos weggeworfen oder weniger gereinigt? Selbst an der Alstertreppe unterhalb des Rathausmarktes wuchert Unkraut wanderschuhhoch. Dabei putzt sich der Einzelhandel gerade zum Neustart heraus: Am 8. August ist der erste verkaufsoffene Sonntag seit Monaten, die Grundeigentümer haben in ihren „Business Improvement Districts“ Sommergärten angelegt.

Weniger Leerstand als befürchtet in der City

Die Innenstadt hatte unter dem Herunterfahren des Lebens doppelt gelitten: Läden zu, Büros geschlossen, Kultur stillgelegt, Gastronomie dicht – warum noch hinfahren? Das Herz der Stadt, es stand still. Und während die Bezirke schon wieder pulsieren wie früher, hinkt die City hinterher. Nun rächt sich, dass Hamburgs Innenstadt vieles hat – nur von einem zu wenig: Bewohner.

Brigitte Engler vom City Management hat eine harte Zeit hinter sich: „Wir haben viele Katastrophen im Netzwerk erlebt, viele Bekümmernisse“, sagt sie. „Aber jetzt wollen wir nach vorne schauen.“ Ihre Zuversicht ist mehr als Berufsoptimismus. „Leerstand ist weniger ein Problem geworden als befürchtet. Manche Passagen wie das Levantehaus sind vollvermietet.“ Immerhin 33 Neuvermietungen kamen zustande, der Branchenmix ist sogar breiter geworden.

Mönckebergstraße ohne Berufsverkehr?

„Es läuft deutlich besser als nach dem Lockdown 2020“, sagt sie. Trotzdem läge die Frequenz in der Innenstadt noch 40 Prozent niedriger als im Vergleichszeitraum 2019, der Umsatz ist weniger gefallen. Für die beiden Sorgenkinder - die Kaufhäuser von Karstadt Sports und Kaufhof – gibt es zumindest Bewegung: So könnte C&A nach dem Abriss in das Karstadt-Gebäude ziehen; Gedankenspiele ranken sich auch um den Kaufhof, der dem neuen Naturkundemuseum oder dem „Haus der digitalen Welt“ eine Heimat geben könnte. „Es wird nicht so wie früher“, weiß Engler. Aber wer sagt, dass es schlechter werden muss?

Die Stadt ergrünt: City-Management-Chefin Brigitte Engler vor einem der temporären „Sommergärten“ am Alten Wall.
Die Stadt ergrünt: City-Management-Chefin Brigitte Engler vor einem der temporären „Sommergärten“ am Alten Wall. © Unbekannt | Matthias Iken

Ihr schwebt eine Mö vor, die vom Busverkehr befreit ist und über eine autonom fahrende City-Line bedient wird, eine Einkaufsmeile, die eine hohe Aufenthaltsqualität bietet, mehr Außengastronomie und Anwohner hat. „Ein tolles Stadtbild haben wir schon jetzt.“ Übrigens eines, das sich noch herausputzt: Der Alte Wall und die Stadthöfe sind fertig – das neue Hamburg haben nur manche noch nicht gesehen. Da erinnert die Innenstadt an die gute Stube von einst: Auch die wurde nur selten genutzt, an Feier- und Festtagen.

Wenige Kunde, aber Rabatte überall

An der Europa Passage steht eine Corona-Ampel – auf Grün, weil sich an diesem Montag nur wenige zum Einkaufen herverirren: Jedes Geschäft hat angeschlagen, wie viele Kunden zeitgleich eintreten dürfen. Aber egal ob sechs oder 32, überall ist viel Luft nach oben. Die Markierungen für die Schlangen wirken sehr optimistisch. Gut besucht sind nur die Toiletten – bessere und sauberere wird man in der Stadt auch kaum finden.

Zahlen schreien den Passanten in der Mö förmlich an: 30 Prozent. 50 Prozent. 70 Prozent. Wer bietet mehr? Einen auffälligen Wettbewerb gibt es angesichts der Pride Week auch in Sachen Haltung: Ob Handelskammer, Haspa, Rathaus oder Kaufhaus, alle haben ihre Regenbogenfahne in den Wind gehängt.

Kleine Fluchten aus dem Corona-Alltag

Ich passiere den Hauptbahnhof, diese Kathedrale der Ingenieurskunst und des Fernwehs zugleich, und wandere weiter zum Busbahnhof, der ersten ­Adresse für kleine Fluchten für den kleinen Geldbeutel. Für den obligatorischen Corona-Test stehen die Rucksackreisenden Schlange, doch viele Busse warten nicht auf sie: Der N881 steuert nach Za­greb und Wien, N1386 nach Rotterdam, N613 nach Oslo.

Auf der anderen Seite fahren die HVV-Busse nur nach Altengamme und zur Rentenversicherung Nord. Ich versuche mein Glück beim Flixbusfahrer und dem Chauffeur nach Pristina, aber scheitere mal an Kurzsilbigkeit, dann an Sprachbarrieren. Schade! Jetzt eine Prise Relotius, dann gäbe es vielleicht einen Journalistenpreis ...

Steindamm hat sich durch Corona wenig verändert

Aber schweigen ist besser. Zu erzählen gibt es auch so genug: Vom Bus Port Hamburg – so heißt er wirklich – bedient eine Linie das Warenverteilzentrum von Amazon in Kaltenkirchen. So können Hamburger bis 24 Uhr bestellen und am nächsten Tag beliefert werden. Die Kunde ist König, seine Ansprüche sind hoch; die Löhne für die Arbeitsbienen der schönen neuen Warenwelt sind es nicht.

Der Steindamm, Hamburgs internationalstes Viertel, hat sich durch Corona wenig verändert: Die Straßen sind voll, die Geschäfte überbordend gefüllt, die Spielhalle sucht per Aushang freundliches Servicepersonal. Ein älterer Pfandsammler kramt im Mülleimer nach Flaschen und Dosen, zwei junge Männer betteln am Straßenrand. Es gibt den Bollywood-Shop, den Ali-Baba-Markt und persische Spezialitäten – das Hansa-Theater hingegen musste im Herbst sein großes Varieté-Programm wegen Corona absagen und hofft nun auf den Neustart ab 23. November. Die Multikultur auf dem Steindamm braucht die Kultur.

Frühschoppen auf dem Hansaplatz

Frühschoppen erlaubt am Hansaplatz
Saufen verboten, Frühschoppen erlaubt: Schild auf dem Hansaplatz. © Unbekannt | Matthias Iken

Ich schlendere weiter zum Hansaplatz, wo ein Schild aus Schilda auf das gültige Alkoholverbot hinweist – es gilt montags bis freitags von 0 bis 6 und 14 bis 24 Uhr, am Wochenende ganztags. Oder, um es kurz zu machen: Werktags zwischen 6 und 14 Uhr ist ein Frühschoppen drin …

St. Georg ist ein Stadtteil der Gegensätze, ein Viertel der Gestrauchelten und der Aufsteiger, der Tristesse und des Regenbogens, der Weitgereisten und der Zu-kurz-Gekommenen. Ein wichtiger Anlaufpunkt ist das Integrations- und Familienzentrum IFZ an der Rostocker Straße. Es ist Stadtteilzentrum, Beratungsstelle, Jugendtreff in einem – und trotz Corona ein offenes Haus.

Corona ist eine Herausforderung für Sozialarbeiter

Kleine Pfeile weisen den coronagerechten Weg durchs Treppenhaus: Im ersten Stockwerk desinfiziert Thomas Lienau-Becker gerade die Tische – bis eben hatte die Aids-Seelsorge „Positiv leben und lieben“ zum Frühstück geladen. Als Aids ausbrach, war die Aufregung groß, die Angst gigantisch. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

Corona-Treppenhaus
Wegen Corona mit aufgeklebten Laufpfeilen und Wartezone: das Treppenhaus im Sozialzentrum St. Georg. © Unbekannt | Matthias Iken

Heute muss er Sozialarbeit unter Pandemiebedingungen leisten: Die Tische sind auf Abstand gestellt, Anmeldungen obligatorisch, das belegte Brötchen wird mit der Servierzange gereicht. Kamen einst 20  Gäste zum Aids-Frühstück, sind es nun acht. „Niedrigschwellig ist das nicht mehr“, sagt Lienau-Becker, Pastor des evangelisch-lutherischen Kirchenkreisverbandes. „Es ist schwierig geworden, die Betroffenen zu erreichen.“

„Da war die Pandemie ganz nah“

Ähnlich fällt die Bestandsaufnahme im Schorsch aus, der Stadtteileinrichtung für Integration und Bildung. Petra Thiel und ihr Stellvertreter Tilman Krüger sitzen zur Dienstbesprechung zusammen. „Kinder, Jugendliche und Familien sind in der Pandemie sehr auf sich zurückgeworfen worden“, sagt Thiel. Um die Menschen nicht zu verlieren, waren die Sozialarbeiter viel im Stadtteil unterwegs, besuchten die Menschen mit dem Bollerwagen, boten Hilfe an, luden zu Spielaktionen ein. Zugleich blieb das Schorsch geöffnet. „Wir können ja nicht ins Homeoffice – wir müssen zu den Menschen“, sagt Thiel.

Im Herbst brach Corona im Schorsch aus, 30 Jugendliche und acht Mitarbeiter mussten in Quarantäne. „Da war die Pandemie ganz nah“, erinnert sich Thiel. Inzwischen sind alle Mitarbeiten geimpft. Trotzdem erschwert die Pandemie die Arbeit weiterhin, das Angebot bleibt reduziert: „Wir werden gebraucht wie selten und können unter Corona-Bedingungen nicht so viel leisten, wie wir wollen.“

Mehr Verständnis für die junge Generation

Beide fürchten, dass sie Menschen in der Pandemie verlieren, gerade die Familien leiden. Viele ziehen sich zurück, die geschlossenen Schulen sind für die Kinder verheerend, ihre Leistungen stürzen ab, soziale Kompetenz geht verloren, das Miteinander zerbröselt.

„Gerade Jugendliche müssen sich ausprobieren, ausloten, ihre Identität entwickeln – für sie ist es wichtig, sich zu treffen, etwas zu unternehmen“, sagt Krüger. „Das geht nicht per Zoom-Konferenz.“ Eindringlich werben sie für mehr Verständnis für die junge Generation, die sich alles in allem sehr gut an die Regeln gehalten habe. Ihr Resümee klingt bitter. „Die Gesellschaft hat die Jugendlichen vergessen.“

Die Gesellschaft hat die Jugendlichen vergessen

Ein Satz, der nachhallt, als ich weiter zur Alster laufe. Hamburgs prägender Fluss stand in den vergangenen Monaten wie der Stadtpark im Mittelpunkt als Corona-Party-Hotspot – egal ob am Winterhuder Kai oder auf den Alsterwiesen. So manches Brandloch von Einweggrills erinnert an die Feiern. In manchen Sommernächten trafen sich Hunderte, ja Tausende Jugendliche und junge Erwachsene, um zusammen zu sein, zusammen zu feiern, zusammen zu trinken, zusammen über die Stränge zu schlagen. Manche Party eskalierte, Polizeieinsätze, Hubschrauber, mediale Empörung.

Corona-Brandlöcher am Schwanenwik
Corona-Brandlöcher im Alsterpark am Schwanenwik: In den Sommermonaten der Pandemie hat sich der Rasen zu einer Partyzone für Jugendliche und junge Erwachsene entwickelt, ebenso der Stadtpark. © Unbekannt | Matthias Iken

Es ist Fakt, dass Deutschland immer älter wird – inzwischen muss man auch annehmen, dass Deutschland niemals jung war. Wohin sollen die jungen Leute denn gehen? Kneipen und Diskotheken sind geschlossen, Privatfeiern verboten, Konzerte abgesagt, Festivals ausgefallen. Und geimpft wurden sie als Letzte. Ja, wir haben die Jugendlichen vergessen.

Paddeln auf der Alster beliebt wie nie

An der Spanischen Treppe, einer gemütlichen Tapas-Bar in den Kasematten der Mundsburger Brücke, kann man am Rande der Sonnenterrasse Stand-up-Paddling-Boards entleihen. Seit 2016 vermietet Hossein Jacoby als Teil des Familienbetriebs die Bretter und bietet Kurse für Einsteiger an. „Der Boom begann im vergangenen Jahr“, sagt er. „Die Leute konnten nicht wegfahren, nicht ins Schwimmbad, nicht ins Fitnessstudio.“ Zudem hätten Bau- und Supermärkte mit Billigbrettern alles noch angeheizt. „Die SUP-Paddler halten sich aber an die Regeln.“

Hossein Jacoby, SUP-Verleiher an der Mundsburger Brücke
Hossein Jacoby vermietet SUP-Boards an der Mundsburger Brücke. © Unbekannt | Matthias Iken

Ein Dorn im Auge sind ihm aber die Schlauchboote. „Bis 2019 gab es die eigentlich nicht auf der Alster – und nun ist hier an Wochenenden der Teufel los.“ Kürzlich sei ein ganzer Schlauchboot-Korso vorbeigefahren, mit Grill, kistenweise Alkohol und Musikanlage. „Viele kennen die Regeln nicht und unterschätzen die Gefahren der Alster.“ Jacoby liebt das Gewässer, aber fürchtet die Ballermannisierung und fordert ein Verbot der Schlauchboote – so wie auch das Surfen dort seit Langem verboten ist. „Die Alster gehört nicht nur denen, die hier wohnen, sondern allen. Das setzt Rücksicht voraus.“

Die Alster ist Sehnsuchtsort für Hamburger

Hamburg kann sich glücklich schätzen. Corona hat manche Metropole von einem Hoffnungsort in einen Käfig verwandelt. Die Hansestadt verfügt über einen öffentlichen Raum, um den engen Wohnungen und dem engen Denken gleichermaßen zu entfliehen. Schon der Blick über die 164 Hektar große Außenalster schenkt ein 164 Hektar großes Hamburg-Gefühl: Die Weite des Raums öffnet dem Denken die Weite.

Die Alster ist Sehnsuchtsort, Naherholungsraum und immer mehr auch Sport- und Auslauffläche. Seit dem Aufstauen im Jahr 1190 war der See vielleicht noch niemals so wichtig. Es wäre ein bitterer Treppenwitz der Geschichte, wenn ausgerechnet die Pandemie ihn nun beschädigt.