Hamburg. Kindheit zwischen Luden und Ganoven: Charly Carstens erzählt von den Jahren, in denen sein Vater groß im Geschäft war.

Seinen Klassenkameraden am Schulkamp im vornehmen Nienstedten sollte Charly bloß nichts davon erzählen. Baten die Eltern. Dass unter dem Bett eine abgesägte Schrotflinte lag. Und auf dem Nachttisch ein geladener Revolver. Auch von Vaters Marotte, bei der Heimkehr fette, mit einem Gummiband zusammengehaltene Geldbündel aufs Fensterbrett daheim zu schmeißen, musste nicht jeder erfahren. Die Geschäfte liefen wie geschmiert auf St. Pauli. Dennoch sollte Uwe Carstens Sohn behütet und bürgerlich aufwachsen.

Soweit das möglich ist, wenn der Vater von aller (Unter)Welt „Dakota-Uwe“ gerufen wurde und auf dem Kiez ein berüchtigter Boss war. Der gelernte Kfz-Mechaniker und Vollmatrose floh bei Kriegsende von Stralsund nach Wedel. In der „Dakota-Bar“, einer Spelunke am Hans-Albers-Platz, hatte sich der muskelbepackte Mecklenburger zum Barchef hochmalocht. Als der Rotlichtbaron Anfang der 1980er-Jahre inhaftiert wurde, war die Sprachregelung für Sohn Charly: „Papa ist zur Kur.“ Und als „Dakota-Uwe“ am 1. Juli 1998 Selbstmord beging, verschuldet, verzweifelt, verloren, übernahm Charly Carstens die Eckkneipe des Vaters vis-à-vis der S-Bahnstation Othmarschen. Daran hat sich seit 32 Jahren nichts geändert.

Buch über Hamburger Kiez-Größe "Dakota Uwe"

Im Lütt Döns, übersetzt heißt das so etwas wie kleine, kultivierte Stube, wird am morgigen Dienstag ein Buch mit einer besonderen Hamburger Geschichte vorgestellt. Nicht nur das Ende ist bitter. Und der Titel ist Programm: „Der Kleine von Dakota-Uwe“. So wurde Charly Carstens während seiner Kindheit genannt. In Vaters Revier auf St. Pauli und von den Besuchern daheim in der Jugendstilvilla am Bockhorst 50 in Iserbrook. Die Herren mit den zu schicken Anzügen, den oft ausgebeulten Jacketts und den originellen Spitznamen waren nicht geizig. Sie brachten dem Lütten mal eine Luftpistole, Zwillen oder Pistaziensäcke, meist jedoch Schokolade und Geldscheine mit oft hohen Zahlen darauf mit.

„Frieda“ Schulz, Dakota-Uwe und Schauspieler Horst Frank.
„Frieda“ Schulz, Dakota-Uwe und Schauspieler Horst Frank. © HA | Charly Carstens

Einer der Kumpels hieß „Frieda“. Fahnder der auch seinetwegen gegründeten Fachgruppe Organisierte Kriminalität hielten Wilfried Schulz für den Bevollmächtigten der Mafia in der Hansestadt, für den Paten von St. Pauli. In seinem Fahrwasser war „Dakota-Uwe“ erst groß rausgekommen – bevor er letztlich im Morast versank.

Charly Carstens beschreibt Kindheit auf der Reeperbahn

Gemeinsam mit dem Autoren Harald Stutte, einem Politikwissenschaftler und Journalisten, beschreibt Charly Carstens seine Kindheit im Bannkreis von Großer Freiheit und Reeperbahn. Unverblümt kommt das Duo zur Sache. Reiz gewinnt das Buch aus dem Rowohlt-Verlag durch Lokalkolorit, das Hautgout der Unterwelt und durch den Spagat zwischen knallharten Geschäften auf dem Kiez und der bürgerlichen Scheinwelt in den Elbvororten. Teile der hanseatischen Gesellschaft empfanden das schummrige Rotlicht im kriminellen Nebel als kitzelig und sexy. Stubenrein war gar nichts.

Charly Carstens als kleiner Junge auf der Reeperbahn.
Charly Carstens als kleiner Junge auf der Reeperbahn. © HA | Charly Carstens

Uwe Carstens empfahl seinem Sohn Charly, dessen richtige Vornamen Uwe Marcel kaum jemand kennt, als väterlichen Beruf Kasinobesitzer anzugeben. Gelogen war das nicht. Dass es sich um konzessioniertes Glücksspiel drehte, im wahrsten Sinn des Wortes, sollte nicht jeder wissen. „Frieda“ Schulz, Mitstreiter „Dakota-Uwe“ & Co lebten in den 1970er-Jahren wie im Goldrausch. Carstens besaß ein Stundenhotel mit Damen in der Silbersackstraße, gemeinsam mit einer Type namens „Spaghetti Ossi“ hatte er Beteiligungen an weiteren Bordellen, betätigte sich als Geldverleiher und Inkassobüro. Wenn „Dakota-Uwe“ bei säumigen Zahlern vorstellig wurde, brauchte er selten ans Äußerste zu gehen.

Carstens kümmerte sich liebevoll um seinen Sohn

„Er bevorzugte meist die sanfte Tour“, sagt Charly Carstens bei Kaffee und Brötchen im gediegenen Sommergarten des Lütt Döns. Vor allem war Carstens sen. gerissen. Er hatte einen exquisiten Riecher für Bargeld. So deponierte er bei den Toilettenfrauen im Fünfsternehotel Interconti, damals Herberge der Spielbank Hamburg, haufenweise Scheine. Ein gut getarntes Kreditbüro. Als ein Gast in der „Dakota-Bar“, (heute der Pub „The Academy“) mit in den Mantelärmeln eingenähten Geldsäckchen prahlte, schickte Carstens einen Kumpel zum Hähnchenimbiss um die Ecke. Mit einer geliehenen Geflügelschere wurde der Mann diskret erleichtert. In der Kaschemme „Golden Nugget“ lernte „Dakota-Uwe“ seine Gabi kennen, eine Tänzerin.

Lesen Sie auch:

Nach Jahren in Bremerhaven lebt Charly Carstens Mutter heutzutage wieder in Hamburg. Auf seine Eltern lässt der Gastronom nichts kommen. So raubeinig der Vater geschäftlich war, so liebevoll kümmerte er sich um seinen einzigen Sohn. Der trotz aller Tücken seinen Weg machte: Das Lokal an der Reventlowstraße in Othmarschen genießt einen erstklassigen Ruf. Mit Ehefrau Karina lebt der ehrbare Gastronom seit 28 Jahren zusammen – in einer Mietwohnung in Ottensen. Sohn Niklas absolviert eine Klempnerausbildung.

„Oft fühlte ich mich wie ein Mensch zweiter Klasse“

Das Buch von Charly Carstens und Harald Stutte wird morgen im „Lütt Döns“ vorgestellt. Das Buch von Charly Carstens und Harald Stutte wird morgen im „Lütt Döns“ vorgestellt.
Das Buch von Charly Carstens und Harald Stutte wird morgen im „Lütt Döns“ vorgestellt. Das Buch von Charly Carstens und Harald Stutte wird morgen im „Lütt Döns“ vorgestellt. © HA | Charly Carstens

Charly Carstens hat Koch gelernt, mit Stationen im Fischereihafen Restaurant sowie im Landhaus Dill. Die Abkehr des Vaters in den bürgerlichen Alltag scheiterte krachend. Als „Dakota-Uwe“ 1998 aus dem Leben schied, war sein „Kleiner“ 27 Jahre alt. Um die dezimierte Familie wirtschaftlich über Wasser zu halten, übernahm er das Lokal. Bittere Zeiten. Wie schon zuvor, als der Vater auf der Anklagebank saß, von der Boulevardpresse groß präsentiert, und jahrelang inhaftiert war. „Das ging schwer an die Nieren“, sagt der Junior heute. „Oft fühlte ich mich wie ein Mensch zweiter Klasse.“

Kindheit und Jugend zwischen Abzockern, Künstlern, Ganoven und Elbchaussee sind Vergangenheit. Ebenso wie Schoten um Kredithaie, Zinksärge, Geldumschläge, auf krummen Wegen er-gaunerte Bratwurstbuden im Volksparkstadion. Ein Mafioso im Bettkasten, das erste Mal richtig Sex (gesponsert) in einem Etablissement abseits des Lokals Zur Ritze, eine gescheiterte Entführung des kleinen Charly oder ein Coup in Travemünde runden die Kapitel ab. Unter dem Strich hat Charly Carstens geschafft, wonach sein Vater zeitlebens vergeblich strebte: Er führt ein bürgerliches, herrlich normales Leben.