Hamburg. Einige Bezirke sind stärker von der Pandemie betroffen. Wie Ärzte, Sozialarbeiter, Polizisten und Politiker das Phänomen erklären.

Die Geheimwaffe übergibt Zehra zuletzt. Sie hält den blauen Flyer hoch, zeigt auf die arabische Schrift, dann reicht sie ihn aus dem Küchenfenster. Die drei Kinder nicken und legen ihn in ihre prall bepackten Tüten. Auf Elmex-Zahnbürsten, Pfefferminztee und eine Packung Paprikacracker. „Die können sich jede Woche testen lassen. Sagt ihr das euren Eltern bitte, ja?“

Zehras Chefin Ann-Katrin Jobst, eine Frau mit lockigem Haar und festem Ton, lehnt hinter ihr am Tresen. „Wir müssen alles versuchen, um in die Blase unserer Klienten hineinzukommen“, sagt sie. Oft seien sie selbst „müde und fertig“. Aber ihre Mission ist wichtig. Für die ganze Stadt.

Harburg schon lange Corona-Hotspot in Hamburg

Das Kennedyhaus liegt auf einem Hügel im Harburger Phoenixviertel wie eine Festung. „Probleme gab es hier im Viertel ja schon immer reichlich“, sagt Ann-Katrin Jobst. Aber der Druck ist diesmal anders. Erst fiel ein Erzieher wochenlang mit Covid-19 aus. Dann traf es beide Eltern eines Jungen aus der Betreuung, sodass sie ihn ins Kinderschutzhaus bringen mussten. Die Inzidenz im Viertel stieg weiter.

Der Bezirk Harburg ist seit Langem ein Corona-Hotspot innerhalb Hamburgs, nur noch übertroffen vom Bezirk Mitte. Teilweise lag die Sieben-Tage-Inzidenz hier doppelt so hoch wie im Stadtdurchschnitt. Während die Fallzahlen aber auf St. Pauli und in den ländlichen Randgebieten Harburgs eher unauffällig blieben, explodierten sie in Stadtteilen wie Billstedt, Horn, in der Harburger City, in Wilhelmsburg und auf der Veddel. Wo viele Migranten leben, wo die Einkommen niedrig und der Hilfebedarf hoch ist.

Hat Hamburg die Corona-Hotspots ignoriert?

Die Bewohner dieser Viertel arbeiten in der Kupferhütte von Aurubis, im Discounter an der Kasse, oder sie schleppen Pakete in Eimsbütteler Altbauten. Aber in der Öffentlichkeit spielten sie lange kaum eine Rolle. Bis die hohen Infektionszahlen unter ihnen zu einem Problem für alle wurden.

Die hohe Zahl von Migranten auf den Intensivstationen sei ein „Tabu“, warnt Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), laut „Bild“ im Februar.

 „Die unbequeme Wahrheit über Corona in Hamburg“, titelt das Abendblatt Ende März.

Mitte April sagen leitende Intensivmediziner des AK Harburg im Abendblatt, man stehe „nah vor der Triage“. Ein Grund seien viele Patienten aus den Brennpunkten.

Ende April wundern sich die Mitarbeiter des Impfzentrums in den Messehallen über den noch immer geringen Anteil von Impflingen mit Migrationshintergrund.

Hamburger Senat sprach von „Einheitsgemeinde“

Der Kampf gegen die Pandemie entscheide sich in den Metropolen, sagt Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) gern. Für Hamburg müsste es heißen: Er entscheidet sich vor allem in Horn, Wilhelmsburg, auf der Veddel und in Harburg. Lange hatte sich der Senat gesträubt, die Stadt derart differenziert zu betrachten. Hamburg sei eine „Einheitsgemeinde“, hieß es auf Fragen nach den hohen Werten in einigen Bezirken stets. Doch inzwischen werden beinahe täglich neue Aktionen und Kampagnen vorgestellt, mit denen man das Geschehen besser in den Griff bekommen will.

Die Debatte über Corona-Hotspots ist häufig von Missverständnissen geprägt, sagen Ann-Katrin Jobst (r.) und Katharina Mittag am Kennedyhaus.
Die Debatte über Corona-Hotspots ist häufig von Missverständnissen geprägt, sagen Ann-Katrin Jobst (r.) und Katharina Mittag am Kennedyhaus. © FUNKE FOTO SERVICES | Mark Sandten

Dabei ist die Debatte noch oft von Missverständnissen und Vorurteilen geprägt, wie Ann-Katrin Jobst sagt. In Harburg etwa kennen sie die Vorurteile und die Sprüche, „südlich der Elbe fängt der Balkan an“, dass man sich in bestimmten Gegenden eben einfach nicht an die Regeln halten wolle. Wer sich aber auf Spurensuche begibt und die Menschen vor Ort im Kampf gegen die Pandemie begleitet, erlebt ein andere Realität.

„Es ist doch immer wieder die Bürokratie“

Ein bisschen Start-up-Atmosphäre, ein luftiges Büro mit schweren Holzbalken und gepflegte Halbordnung. Auf dem Tisch stehen Flaschen mit Melonenlimo. Tina Röthig und Jonas Fiedler brauchen nicht lange für eine Antwort auf die Frage, was eigentlich schiefläuft.

„Es ist doch immer wieder die Bürokratie“, sagt Röthig. Das mehrsprachige Infomaterial der Stadt, das nicht kommt. Der neue Rechner für die Schulkinder, der doch nicht richtig funktioniert. Auf Jahre werde man mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen haben, sagt sie. Röthig ist Sozialarbeiterin.

Menschen auf der Veddel schlechter geschützt

„Natürlich sind es zuerst die Bedingungen“, sagt Jonas Fiedler. Die Menschen auf der Veddel seien einfach schlechter vor Corona geschützt. Und auch die Ansprüche an sie so eine Sache. „Der Staat hat ihre Bedürfnisse jahrzehntelang einfach ignoriert. Und dann sagt er: Ihr müsst jetzt etwas tun, für uns alle.“ Fiedler ist studierter Arzt.

In der Poliklinik Veddel haben sie selbst ein Banner mit der Aufschrift „Solidarität“. Röthig, Fiedler und ihre Mitstreiter haben das Gesundheitszentrum aufgebaut, Preise und Förderung für das Projekt erhalten. Auf der Elbinsel gab es bis vor ein paar Jahren nicht einmal eine Apotheke und nur eine Hausärztin. Die Nahversorgung übernahm ein einziger Penny-Markt. Und der brannte im Dezember 2020 auch noch aus. Das Viertel ist von Migranten aus der Türkei und Albanien geprägt. Die Männer arbeiten oft bei Aurubis oder auf dem Bau. „Die Frauen sind im öffentlichen Raum oft wenig zu sehen, das macht auch die Ansprache schwerer“, sagt Röthig.

Corona-Abstand in Bussen unmöglich

Seit Beginn der Pandemie stemmt sich die Poliklinik allein gegen den Sturm, hat rund 1000 Veddeler getestet, impft nun 190 Bewohner pro Woche. Es könnten doppelt so viele sein, aber dafür bräuchte es mehr Dosen und weitere Mittel. Man befindet sich in Gesprächen. Aber streng genommen, sagte der Arzt Philipp Dickel von der Poliklinik zuletzt, müsste es im Rathaus einen Untersuchungsausschuss dazu geben, warum „die soziale Dimension beim Thema Corona (...) so lange ignoriert wurde.“

Wer sich ernsthaft wundere, wo sich die Menschen hier so zahlreich ansteckten, müsse sich etwa nur den HVV-Bus der Linie 13 nach Kirchdorf Süd ansehen, mit dem viele Veddeler zur Arbeit kommen. „Da ist morgens und nachmittags jeden Tag Party“, sagt Tina Röthig, Abstand halten unmöglich. Die Poliklinik hat bereits im Frühjahr 2020 ein Infotelefon und ein Angebot zur Nachbarschaftshilfe eingerichtet. „Das hat nicht so gezündet“, sagt Röthig. Die Veddeler helfen sich ohnehin gegenseitig. „Zwischen den Kulturen herrscht eine Toleranz, und die Menschen kennen sich“, sagt Röthig, das ist die Stärke des Viertels. Aber nun ein Problem im Kampf gegen ein Virus, das von Nähe lebt.

Ausbruch in Stadtteilschule auf der Veddel

Man brauche „Influencer“, sagt Röthig. Menschen aus dem Viertel, deren Wort Gewicht hat. Wie eine Mitarbeiterin der Poliklinik, die hier aufgewachsen ist. „Ich fühle mich noch wohl“, sagt die Frau, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Fragt man aber nach dem Verhalten ihrer Nachbarn, wird sie wütend. „Ich sehe Männer, von denen ich weiß, dass sie positiv sind, draußen dicht bei anderen sitzen“, sagt sie. „Das geht nicht und ist so bitter.“

Nach der Meinung von Jonas Fiedler (M.) von der Poliklinik Veddel hat die Stadt die Anliegen der Anwohner jahrzehntelang ignoriert.
Nach der Meinung von Jonas Fiedler (M.) von der Poliklinik Veddel hat die Stadt die Anliegen der Anwohner jahrzehntelang ignoriert. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Spätestens seit einem Ausbruch in der Stadtteilschule auf der Veddel mit mehr als 100 Infizierten wisse dabei das ganze Viertel, wie ernst die Lage ist. „Unsere Patienten, die in Quarantäne oder infiziert sind, verhalten sich auch weit überwiegend sehr gut“, sagt Philipp Dickel von der Poliklinik. An vielen schweren Verläufen könne man aber auch die Jahre der fehlenden gesundheitliche Betreuung und harte körperliche Arbeit ablesen, bevor das Virus kam.

„Glaubst du etwa an Corona?“

In der Poliklinik hängt eine Mitarbeiterin den ganzen Tag am Telefon und lädt Impflinge ein. An diesem Tag erhält die Veddelerin Hartun Ücgül ihre erste Spritze, Biontech, „das gute Zeug“, wie sie fröhlich sagt. Sie hat 28 Jahre lang in einem Pflegeheim in Eppendorf geackert, sie will gern endlich wieder in den Urlaub in die erste Heimat am Schwarzen Meer. „Gerade wenn es Zeit ist, auch mal zu genießen, kommt so ein Virus und will einen vernichten.“ Jeden Morgen treffe sie sich mit Nachbarn zum Kaffee, Hartun Ücgül trägt immer eine Maske. Andere nicht. Gestern habe einer gefragt: „Glaubst du etwa an Corona?“

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Ja, dort sei einer der kleinen Hotspots, sagt Torsten Selck. Der Himmel bricht etwas auf, und schon stehen einige Männer vor dem Café an der Veddeler Brückenstraße – nur etwa 50 Meter entfernt glimmt das „Goldene Haus von der Veddel“ auf, ein Kunstprojekt, das das Viertel einst in die Schlagzeilen brachte.

Der Stadtteil-Polizist auf der Hamburger Veddel

Die Männer mustern Torsten Selck und seine Uniform katzenhaft, aber sie halten die Abstände. „Moin!“, schmettert Selck und beginnt seine Runde. „Natürlich hat man immer die Möglichkeit, bei jedem Vergehen da durchzupflügen“, sagt der Polizist. „Aber das wäre für meine Aufgabe doch eher kontraproduktiv.“

Selck ist bürgernaher Beamter. Seit Mitte der 1990er ist auch die Veddel sein Revier. Ein guter Draht zu den Menschen auf der Veddel ist sein Kapital, damit sie auch zu ihm kommen, wenn ein Problem drückt. Von wild gegen die Auflagen rebellierenden Veddelern könne keine Rede sein, mit Beginn der Ausgangssperre ab 21 Uhr sei es auf der Veddel totenstill. Was aber hinter den Fassaden der Wohnhäuser passiere, sei schwer abzusehen, „da kommt man nicht ran.“

Nachfrage nach Corona-Tests gering

Spürbar sei im Viertel seit Langem das Gefühl, irgendwie abgehängt zu sein. „Drumherum passiert ständig etwas, jetzt gibt es bald einen Elbtower und Neubauten auf dem Grasbrook, aber hier hat man nichts davon“, sagt Selck. Wahrscheinlich bräuchten die Menschen keine Ansprachen mehr, sondern ein Signal. „Ein zweiter Supermarkt, etwas, das sagt: Wir haben euch nicht vergessen.“

Wenn man Torsten Selck fragt, ob abgesehen von der Polizeiarbeit schon etwas von der großen Aufklärungsoffensive der Stadt zu sehen sei, sagt er: „Nicht wirklich“. Dann zeigt er doch auf den roten Reisebus in der Ferne, von der Firma Aurubis, die ihn zur mobilen Teststation für die Veddeler umgebaut hat. Die Nachfrage ist aber, nach allem was man mitbekommt, eher bescheiden.

Der Bezirksamtsleiter Falko Droßmann

Am Café wird er an diesem Tag wohl auch wieder einschreiten müssen, es ist mühsam, aber Torsten Selck bleibt optimistisch. Seine Mutter hat sich im Winter mit Corona infiziert und versucht bis heute, wieder richtig auf die Füße zu kommen. „Wenn man das dann erzählt, aus eigener Erfahrung, macht das etwas mit dem Gegenüber“, sagt er. Zur Verabschiedung nickt er entschlossen.

Dem Mann, ohne den es diese Debatte in Hamburg wohl nicht geben würde, ist die militärische Vergangenheit noch anzumerken. Breite Schultern, akkurat gestutzte Kurzhaarfrisur, zackiges Auftreten – Falko Droßmann, 47 Jahre, Oberstleutnant der Luftwaffe, leitet seit fünf Jahre das Bezirksamt in Hamburg-Mitte. Als viele Beobachter noch rätselten, warum die Corona-Zahlen in den Bezirken Harburg und Mitte so viel höher sind als im Rest der Stadt, da sprach er längst Klartext: „Der Zusammenhang von Armut und Gesundheit ist doch eine Binse.“

Dass seine Genossen – Droßmann ist seit 20 Jahren Sozialdemokrat und mittlerweile auch SPD-Bundestagskandidat – in Senat und Bürgerschaft diese Erkenntnis lang nicht aufgegriffen haben, hat er zwar nie kritisiert. Aber er hat immer wieder eine Debatte darüber gefordert. Und die hat er nun.

Treffpunkt: Elternschule Horner Geest

Letztlich dreht sich die alles um die Fragen: Warum stecken sich Menschen in bestimmten Vierteln häufiger an? Was kann man dagegen tun? Droßmann schlägt als Treffpunkt die Elternschule Horner Geest vor. Ein rumpeliger Flachdachbau, umgeben von einem guten Dutzend Wohnklötzen, die in den 60er-Jahren am Spliedtring hochgezogen wurden, überragt nur noch von den mächtigen Hochhäusern an der Dannerallee – es gibt bevorzugtere Viertel in Hamburg.

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Die Horner Geest gehört zwar offiziell zum Stadtteil Billstedt, aber die Menschen fühlten sich hier als Horner, betonen Marianne Dotzek, seit 30 Jahren Leiterin der Elternschule, und Züleyha Celebi, die vor Ort das Projekt „Stadtteile ohne Partnergewalt“ (StoP) koordiniert. Was die Stadtteildaten angeht, macht das keinen großen Unterschied.

Marianne Dotzek und Züleyha Celebi, denen der Bezirkschef heute den Vortritt lässt, lassen dennoch nichts auf ihr Quartier kommen. Die Beschreibung „sozial schwach“ treffe auf die Menschen hier nicht zu, sagt Dotzek: „Die Menschen, die hier wohnen, kommen mit Armut klar, mit beengten Wohnverhältnissen, mit harten Jobs“, zählt sie auf. „Die sind sozial stark!“

„Viele Menschen arbeiten in Dienstleistungsberufen“

Aber warum hat es Corona hier leichter? „Viele Menschen hier arbeiten in Dienstleistungsberufen“, sagt Dotzek. „Die räumen bei Budni Regale ein, sitzen bei Aldi oder Lidl an der Kasse oder fahren Pakete aus – die haben Kontakte, Kontakte, Kontakte.“ Und dann die Hochhäuser: „Da wohnen 400 bis 450 Menschen in einem Haus“, sagt Celebi, „und es gibt nur zwei Fahrstühle.“ Entsprechend katastrophal seien die Auswirkungen gewesen, räumt Dotzek ein – zumal die Elternschule als zentraler Anlaufpunkt ihr Angebot pandemiebedingt auch massiv einschränken musste.

Dass Bildungsniveau und Sprachbarrieren die Corona-Problematik verstärken, sehe sie „eher nicht“ so, sagt Dotzek. Auf der anderen Seite schildern sie Beobachtungen, die dann doch zumindest auf einen Zusammenhang hindeuten. So würden sich die meisten Menschen im Quartier fast ausschließlich über „soziale“ Medien informieren.

Als etwa das Gerücht aufkam, Impfen würde unfruchtbar machen, „ging das hier rum wie ein Lauffeuer“, erinnert sich Dotzek. Überhaupt hätten gewisse Verschwörungstheorien irgendwann derart Überhand genommen, dass sie dem die Kampagne „Horner Energie“ entgegensetzte. Untertitel: „Gegen Verschwörungsmärchen, Hetze, Mecker und Fake News – für Zuversicht und gute Energie!“

Impf-Mobil könnte gegen Corona-Ausbreitung helfen

Von ihrer ersten Impfung habe sie den Menschen nur Gutes berichtet: Freundlich und schnell sei sie im Impfzentrum behandelt worden, Nebenwirkungen habe sie keine gespürt, sagt Dotzek, und man ahnt: Wenn eine Autorität im Quartier wie die langjährige Leiterin der Elternschule das berichtet, hat es vermutlich mehr Wirkung als jede Infokampagne der Stadt.

Würde es also helfen, wenn auch hier ein Impf-Mobil vorbei käme? „Ja, bitte!“, sagt Dotzek. Nur einen Fehler dürfe man dabei auf keinen Fall machen: Wenn die Botschaft laute „Wir impfen jetzt die sozialen Brennpunkte“, würden die Leute auf stur schalten, ist Dotzek überzeugt. „Die Bewohner der Horner Geest fühlen sich als Menschen zweiter Klasse“, bestätigt Züleyha Celebi, und sie muss es wissen: Sie wohnt selbst hier. Viele hätten einen Fluchthintergrund, ergänzt Dotzek. Zusammen mit dem Gefühl des Abgehängtseins resultiere daraus wohl „eine gewisse Bockigkeit“, so Dotzek. „Wenn immer mit dem Finger auf einen gezeigt wird, wird man bockig – und dann hält man sich halt nicht an Regeln und setzt die Maske nicht auf.“

Vorzeigeprojekt „Haus der Gesundheit im Park“

Und was bräuchte es, um noch besser gegen Corona und andere Probleme im Quartier vorgehen zu können? Marianne Dotzek legt ein Schild von der Pinnwand auf den Tisch: „Jede Elternschule braucht eine 2. Stelle!“ Auch Züleyha Celebi wünscht sich mehr als die halbe Stelle, für die das Geld bislang gerade reicht.

Falko Droßmann mit Marianne Dotzek (M.) und Züleyha Celebi.
Falko Droßmann mit Marianne Dotzek (M.) und Züleyha Celebi. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Der Bezirkschef denkt eine Nummer größer: Um die Ecke werde mit dem „Haus der Gesundheit im Park“ ein bundesweites Vorzeigeprojekt entstehen, sagt Droßmann. Und die Elternschule bekomme auch einen Neubau, 2023 solle der fertig sein. Für die Corona-Bekämpfung kommt das zu spät. Aber genug Probleme wird es auf der Horner Geest auch dann noch geben.

Das Kinderhaus in Harburg

Da stehen noch zwei Dutzend Tüten mit den Lebensmitteln und Flyern, bereit zur Ausgabe. Sie seien heilfroh, dass jetzt Schwung in die Offensive kommt, sagt Ann-Katrin Jobst vom Kennedyhaus. „An einige Menschen müssen wir aber erstmal überhaupt wieder rankommen.“

Obwohl das Kinderhaus geöffnet hat, kommen viele Familien nicht wie üblich. „Wenn die Menschen im Phoenixviertel die Gefahr durch Corona wirklich ignorieren würden, wäre das anders“, glaubt Jobst. Die Stimmung sei eindeutig. „Viele haben wirklich Angst.“

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An diesem Nachmittag ist auch eine Vertreterin des Bezirksamtes Harburg in das Kennedyhaus gekommen. Jobst und ihre Co-Leiterin Katharina Mittag sprechen mit ihr bei albanischem Gebäck darüber, wo es noch hakt. Der Kampf, den sie führen, gilt vor allem den Missverständnissen.

Das fängt dabei an, was man sich unter den „Migranten“ im Phoenixvierte vorstelle: Ältere und kaum integrierte Türken aus der Gastarbeitergeneration seien zum Beispiel kaum noch darunter. „Die sind von hier weggezogen“, sagt Jobst. Das Klientel sei ein anderes. Geflüchtete aus Syrien und arabische Großfamilien. Bulgaren, die Türkisch als Vermittlungssprache beherrschen.

Neue Flyer kein Wundermittel

Sie sind oft noch nicht lange in Deutschland, vor allem nicht angeschlossen an den Informationsfluss. „Da läuft dann etwa auch nur das Heimat-Fernsehen – und es wird befolgt, was dort gesagt wird, nicht was hier eigentlich gilt.“ Hinzu kämen die sozialen Medien mit all ihren Halbwahrheiten und Lügen, sagt Katharina Mittag.

„Und am Ende bleibt oft nur hängen, was noch mehr Angst macht“, sagt sie. Der neue Flyer werde allein kein Wundermittel sein, ebenso wenig das neue Impfzen­trum in Harburg. Aber es wird einen guten Schritt bedeuten, glaubt Ann-Katrin Jobst. „Und wir fangen so oft ganz vorn an, wie es nötig ist.“

Das Gesundheitsamt Harburg

Natürlich streikt jetzt die Technik, und die Ehrenamtlichen warten lange, bis der Vortrag von Dr. Atossa Beckmann beginnt. Die Ärztin des Gesundheitsamtes Harburg zitiert zuerst einen renommierten Kollegen. „Bis zu 90 Prozent der Dinge, die man immer wieder über das neuartige Coronavirus hört, sind falsch.“

Atossa Beckmann muss es wissen. Sie hat die ersten zehn Monate der Pandemie auf einer Intensivstation verbracht, in Zwölf-Stunden-Schichten, bis sie im Februar ins Gesundheitsamt wechselte. Sie ist eine fröhliche Medizinerin, schildert aber das Problem in scharfen Worten. Wie man oft „die Uhr nach stellen könnte“, dass sich der Zustand von Corona-Patienten nach einer Woche verschlechtert.

Gefahr von Corona in Hamburger Hotspots verdeutlichen

Wie Regulierungszellen versagen und die Immunzellen „Amok laufen“, die Lunge mit Wasser volläuft und die Organe versagen können, bis um Tod. Sie erzählt das Elternlotsen und anderen Ehrenamtlichen aus den Vierteln im Bezirk, die meisten selbst mit Migrationshintergrund. Die haben der Expertin schon vorher eine Reihe von Fragen gestellt. Sie soll ihnen Waffen an die Hand geben im Gespräch vor Ort, um die Gefahr noch einmal zu verdeutlichen, die Sinne zu schärfen. „Ich finde, das ist ein wirklich gutes Projekt. Weil dann spricht vor Ort da nicht mehr der ‘blöde Staat’, sondern die Nachbarn von nebenan.“

Wenn man Beckmann fragt, was sie seit ihrem Wechsel ins Gesundheitsamt am meisten überrascht hat, sagt sie: „Wie gut aufgestellt man doch tatsächlich ist. Harburg ist nicht nur hier besser als sein Ruf“, sagt die Medizinerin.

Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard

Wie es in den Bezirken Mitte und Harburg aussieht, wie die Menschen dort ticken, muss Melanie Leonhard niemand erzählen. Aufgewachsen in Wilhelmsburg und später nach Harburg ungezogen, wohnt die Sozialsenatorin bis heute im Süden der Stadt. Sie kennt die enormen Unterschiede zwischen dem Harburger Kerngebiet und den grünen Stadtteilen am Rand des Bezirks und weiß, wie sensibel die Menschen hier darauf reagieren, wenn nördlich der Elbe mal wieder Klischees gepflegt werden.

Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) vor dem Helms-Museum in Harburg.
Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) vor dem Helms-Museum in Harburg. © FUNKE FOTO SERVICES | Mark Sandten

Für das Gespräch hat sie daher nicht irgendeinen vermeintlichen Brennpunkt vorgeschlagen, sondern den Platz vor dem Helms-Museum, dem Hamburger Museum für Archäologie. Warum? „Dieser Platz ist repräsentativ für Harburg: grün und städtisch gleichermaßen“, sagt sie zur Begrüßung. Es nieselt.

Ansteckungsrisiko in gewissen Berufen höher

Also, Frau Senatorin, warum stecken sich nun in einigen Stadtteilen mehr Menschen mit Corona an als anderswo? „Das hat sehr viel mit der Lebens- und vor allem mit der Arbeitssituation der Menschen zu tun“, sagt die SPD-Politikerin. „Wir wissen inzwischen, dass in gewissen Berufen das Ansteckungsrisiko einfach höher ist. Die Menschen in diesen Berufen haben eher geringe bis mittlere Gehaltserwartungen, und daher wohnen sie häufig in Stadtteilen, in den die Mieten nicht so hoch sind.“

Beispiele hat sie reichlich parat: „Wir hatten allein im Bereich Paket- und Postdienste in den letzten drei Wochen drei Fälle, wo sich mehrere Mitarbeiter bei der Arbeit infiziert haben. Betroffen waren davon zwei Bezirke und drei Stadtteile.“ Harburg und Mitte? „Genau, überwiegend.“ Auch in einem technischen Büro und einer Lebensmittelproduktion gab es kleinere Ausbrüche. Man müsse hinter die Kulissen schauen und die Ursachen für Infektionen hinterfragen. „Aber dieses eine Hochhaus, in dem man nur mal eben was machen müsste, das haben wir eben nicht.“

Hamburgweite Kampagne gegen Corona

Doch warum hat der Senat die Debatte über einzelne Stadtteile oder Bevölkerungsgruppen so lange abgeblockt? „Es macht Sinn, genauer hinzuschauen“, räumt Leonhard ein. „Aber es macht wenig Sinn, es nur geografisch zu betrachten. Mit einer Maßnahme für einen Stadtteil verhindert man ja keine Ausbrüche am Arbeitsplatz. Wir haben eben eine stadtweite Mobilität“, sagt sie, während ein Bekannter vorbeigeht. Leonhard winkt zurück: „Hallo Uwe.“

Was ist also zu tun? „Intensive Vor-Ort-Aufklärung“ sei wichtig, sagt Leonhard. Dass die Stadt damit erst jetzt anfange, weist sie zurück: „Wir hatten das Material die ganz Zeit, in vielen verschiedenen Sprachen. Unser Corona-Infomobil ist damit unterwegs, überall dort, wo es Bedarf dafür gibt.“ Jetzt gebe es nur zusätzlich eine stadtweite Kampagne.

Diskussion über Sicherheit im Hamburger Senat

Wenn es so viele Infektionen im Job gibt, müsste die Stadt dann nicht stärker die Arbeitgeber in die Pflicht nehmen? „Ja, muss man, machen wir auch“, sagt Leonhard. „Aber wir diskutieren ja gerade sehr intensiv, dass wir Wirtschafts- und Berufstätigkeit wieder ermöglichen wollen. Die Kehrseite ist dann, dass die Sicherheits- und Rahmenbedingungen stimmen müssen.“ Genau diese Diskussion wird an diesem Freitag auch noch im Senat geführt. Bevor sie sich auf den Weg dorthin macht, stellt sie noch klar: „Dieses Virus duldet keine Lässigkeit.“