Hamburg. Dass Hamburg-Mitte und Harburg stärker betroffen sind, ist für Experten kein Zufall. Aber die Debatte hat der Senat lange gescheut.

Sie heißen Heinsberg, Gütersloh, Greiz oder Tirschenreuth – wenn in einem deutschen Landkreis die Corona-Infektionszahlen durch die Decke gehen, blickt in der Regel schnell die ganze Republik hin. Auch Städte wie Flensburg haben das erlebt, als die britische Virusvariante sich dort ausbreitete.

Über Hamburg-Mitte oder Harburg spricht hingegen kaum jemand. Dabei sind auch in diesen beiden Bezirken der Hansestadt die Zahlen auffällig hoch. Aus den vom Senat am Dienstag ver­öffentlichten Daten ergab sich, dass die Sieben-Tage-Inzidenz in Harburg bei 181 lag – doppelt so hoch wie der seinerzeit stadtweite Wert von 90. Auch Hamburg-Mitte lag mit einer Inzidenz von 138 weit über dem Schnitt. Die Werte der Bezirke Eimsbüttel (56) und Hamburg-Nord (61) waren dagegen nur rund ein Drittel so hoch wie in Harburg.

Corona-Zahlen in Hamburg-Mitte und Harburg am höchsten

Eine Momentaufnahme? Mitnichten. Auch über ein ganzes Pandemie-Jahr betrachtet, ragen die beiden Bezirke heraus: In Hamburg-Mitte haben sich bislang 3998 Menschen pro 100.000 Einwohner mit Corona angesteckt und in Harburg 3359 – in Eimsbüttel dagegen nur 2290. Der Hamburger Durchschnitt liegt bei 2911. Eine Debatte wurde darüber jedoch nicht geführt.

Wer beim Senat nachfragte, woran das wohl liegen könnte, erntete bislang in der Regel schmallippige Antworten. „Diese Diskussion haben wir heute nicht geführt“, sagte die stellvertretende Senatssprecherin Julia Offen am Dienstag in der Landespressekonferenz und fügte hinzu: „Hamburg wird vom Senat als Einheitsgemeinde betrachtet.“

Auch im Bezirksamt Harburg ist die Bereitschaft, über das Thema Auskunft zu geben, nicht sonderlich ausgeprägt. Auf eine Anfrage des Abendblatts, ob es eine Erklärung für die aktuell hohe Inzidenz gebe, kam genau ein Satz zurück: „Nein, das Coronavirus ist in der Gesellschaft weit verbreitet.“ Dafür wurde der Fragesteller belehrt: „Es gibt nur einen Inzidenzwert, der sich auf das gesamte Stadtgebiet bezieht.“

Der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit ist doch eine Binse

Das wirkt wie Informationspolitik nach dem Prinzip der drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Denn erstens kann jeder Bürger, der einen Dreisatz beherrscht, die Inzidenzwerte für jedes beliebige Gebiet selbst errechnen, sofern er die Einwohner- und die Infektionszahlen kennt, und die sind für Hamburgs Bezirke öffentlich. Und zweitens stehen die Inzidenzwerte der Bezirke in den internen Lageberichten des Senats – wenn sie völlig nutzlos wären, würde man sie wohl kaum erheben.

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Falko Droßmann (SPD), Leiter des Bezirksamts Mitte, geht daher viel offener mit dem Thema um. „Der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit ist doch eine Binse“, sagte er dem Abendblatt. Das sei zigfach wissenschaftlich belegt, jüngst sogar durch das Robert-Koch-Institut (RKI), und gelte natürlich auch für Corona. Dass es in Stadtteilen wie Billstedt, Wilhelmsburg oder der Veddel mehr Infektionen gibt als im Rest seines Bezirks und erst recht als im Rest der Stadt, überrascht ihn daher nicht.

Wo Arbeitslosigkeit und die Zahl der Hartz-IV-Bezieher hoch sind, wo die Familien groß und die Wohnungen eher klein sind und die Menschen Berufe haben, in denen man sich nicht im Homeoffice verschanzen kann, da sei das Infektionsrisiko halt größer, sagt Droßmann. Als Bestätigung sieht er die Statistiken, wonach das private Umfeld derzeit als Hauptinfektionsquelle gilt.

Die Zusammenhänge zwischen Armut und Erkrankung sind vielfach untersucht

Die Erklärung für die auffällig hohen Corona-Zahlen in zwei Bezirken ist auch für viele andere Experten offenkundig. „Uns überrascht das nicht“, sagte etwa Klaus Wicher, Landesvorsitzender des Sozialverbands SoVD, im „Hamburg Journal“ des NDR. „Harburg und Hamburg-Mitte sind Bezirke, die viele ärmere Menschen beherbergen. Und die Zusammenhänge zwischen Armut und Erkrankung sind vielfach untersucht.“ Als Beispiel nannte er: „Die Menschen haben kein Geld, sie können sich die Masken und Tests nicht leisten.“ Dass jetzt kostenlose Tests zur Verfügung gestellt würden, sei gut, aber zu langsam geschehen. Generell habe Corona die soziale Spaltung der Stadt vertieft, so Wicher.

Oppositionsabgeordnete in der Bürgerschaft schätzen die Lage ähnlich ein. „Ganz klar gibt es einen Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und der Zahl der Corona-Infektionen“, sagt CDU-Sozialpolitiker Andreas Grutzeck. Während er dem rot-grünen Senat den Befund aber nicht zum Vorwurf macht, ist Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus kritischer: „Wer die Frage nach den unterschiedlich hohen Inzidenzen stellt, müsste sich mit der zunehmenden sozialen Spaltung der Stadt auseinandersetzen“, sagt sie. „Aber darüber spricht der rot-grüne Senat nicht so gern.“

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Der Zusammenhang zwischen Kontostand und Corona lässt sich übrigens auch umgekehrt belegen, wie man in Hamburg leidvoll erfahren hat. In der ersten Welle vor einem Jahr waren die Infektionszahlen in den Bezirken Altona, Eimsbüttel und Nord viel höher als in Harburg oder Mitte – weil die eher wohlsituierten Skifahrer das Virus aus den Alpen mit nach Hamburg brachten. „In der ersten Welle waren die Skifahrer betroffen, in der zweiten die Heimbewohner und jetzt sind es die Helden des Alltags“, bringt es Falko Droßmann auf den Punkt. Der Bezirksamtsleiter hält sich mit Kritik am Senat zurück, wünscht sich aber, dass über diese „unbequeme Wahrheit“ eine Debatte in Gang kommt.

Debatte über die „unbequeme Wahrheit“

Das könnte klappen. Am Freitag gingen Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) in der Pressekonferenz zur Corona-„Notbremse“ schon ausführlicher auf Fragen zu dem Thema ein. Tschentscher betonte, dass man in einer Großstadt nicht einzelne Bezirke abgrenzen könne, das funktioniere ja schon in Flächenländern kaum. Man blicke aber „gezielt auf Problemlagen“ und überlege, wie man dort tätig werden könne.

 Leonhard verwies auf Arbeitsschutzmaßnahmen und das Corona-Infomobil, mit dem Sozialarbeiter durch die Stadtteile fahren und sich um Aufklärung bemühen. Aus Sicht von Boeddinghaus und Grutzeck ist das der richtige Ansatz, aber es müsste viel mehr davon geben.

Sozialsenatorin Leonhard, die selbst im Bezirk Harburg wohnt, will die Debatte durchaus führen, sieht dabei aber die Gefahr einer Stigmatisierung einzelner Stadtteile: „Nur weil jemand in Harburg oder Billstedt wohnt, bedeutet das nicht, dass er sich dort angesteckt hat“, sagte sie dem Abendblatt.

Mitte und Harburg sind die mit Abstand jüngsten Bezirke

 „Die höheren Infektionszahlen in den Bezirken Harburg und Mitte haben nichts mit dem Wohnort der Menschen oder ihrem Bildungsgrad zu tun, sondern vor allem mit ihren Berufen, ihrer Wohnsituation und ihrem Alter. Große Familien in beengten Wohnverhältnissen haben ebenso ein höheres Infektionsrisiko wie Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiten können – weil sie in der Drogerie, im Paketzentrum oder als Busfahrer arbeiten.“

Zudem seien Mitte und Harburg die mit Abstand jüngsten Bezirke, und unter den 20- bis 39-Jährigen gebe es halt die höchsten Infektionszahlen, so die Senatorin, die zudem das Gerücht zurückwies, dass illegale Partys vor allem in „Problemstadtteilen“ stattfinden: „Wir hatten auch schon Pool-Partys in Blankenese oder Feiern in Eimsbüttler Studentenheimen.“