Hamburg. Ansteckendere britische Corona-Mutante ist in Hamburg bei 80 Prozent. UKE-Virologin: AHA-Regeln sind auch im Freien wichtig.

Schutzmaske unter der Nase, Unterhaltungen ohne Sicherheitsabstand – das ist nun noch riskanter, sagt die Virologin Prof. Nicole Fischer vom Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Auch im Freien sollten wir die Corona-Regeln unbedingt einhalten, um uns nicht mit dem Coronavirus und ansteckenderen Varianten zu infizieren.

Im Abendblatt-Interview erklärt die Forscherin, wie sich insbesondere die britische Mutante auf den Verlauf der Pandemie auswirken könnte und warum sie Lockerungen nicht für vertretbar hält.

Nach Ansicht von Experten hat sich deutschlandweit eine dritte Corona-Welle aufgebaut, angetrieben vor allem durch die zuerst in Großbritannien nachgewiesene, ansteckendere Virusvariante B.1.1.7. Wie verbreitet ist diese Mutante in Hamburg?

Nicole Fischer Wir überprüfen am UKE in Zusammenarbeit mit dem Heinrich-Pette-Institut seit Dezember des vergangenen Jahres repräsentativ ausgewählte Corona-Proben aus Hamburg auf Mutanten wie die britische Variante. Unsere jüngsten Daten stammen aus der neunten Kalenderwoche, also von Anfang März. In dieser Zeit war B.1.1.7 für rund 80 Prozent von 200 untersuchten Neuinfektionen verantwortlich.

Zum Vergleich: In der fünften Kalenderwoche, also Anfang Februar, hatte der Anteil noch bei 20 Prozent gelegen, bis Ende Februar stieg er auf 60 Prozent. Wie andernorts dominiert B.1.1.7 also inzwischen auch bei uns das Infektionsgeschehen. Die Mutante ist bis zu 60 Prozent ansteckender. Kontaktverfolgungsdaten und weitere epidemiologische Daten in England zeigten: Im Schnitt steckt ein Infizierter etwa 1,5 andere Menschen an.

Warum ist die britische Mutante ansteckender?

Es gibt mehrere Vermutungen. Ein möglicher Faktor hängt mit der Struktur des Virus zusammen. Sars-CoV-2 nutzt keulenartige Strukturen auf seiner Oberfläche, sogenannte Spike-Proteine, um in menschliche Zellen einzudringen. Bei der britischen Variante sind diese Strukturen gegenüber dem ursprünglichen Virustyp an acht Stellen verändert – zum Vorteil der Mutante.

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Das kann man sich vorstellen wie einen Schlüssel, der besser in das Schloss an der Eintrittspforte der Zelle passt. Damit kann das Virus leichter in Zellen eindringen. Forschende diskutieren außerdem, ob mit B.1.1.7 infizierte Menschen das Virus länger über ihre Atemwege ausscheiden und somit mehr Zeit haben, das Virus zu verbreiten, und ob die Infizierten eine höhere Viruslast haben. All das trägt zu einer effizienteren Übertragung bei.

Sind bestimmte Altersgruppen, etwa Kinder, anfälliger für eine Infektion mit B.1.1.7?

Was die Infektiosität des Erregers angeht, besteht für alle Altersgruppen in etwa das gleiche Ansteckungsrisiko. In England war zwar zunächst diskutiert worden, ob B.1.1.7 infektiöser für Kinder sein könnte. Der Anlass für diese Vermutung war, dass bei einem vergleichsweise hohen Anteil von Kindern B.1.1.7 nachgewiesen wurde.

Das hing allerdings damit zusammen, dass dort während des Lockdowns Kitas geöffnet blieben und damit vergleichsweise viele Kinder dem Infektionsgeschehen ausgesetzt waren und die Mutante verbreiten konnten. Auch bei uns waren Kitas trotz Lockdown gut ausgelastet. Das könnte zu den erhöhten Inzidenzen bei Kindern – wie vom Robert-Koch-Institut schon berichtet – beigetragen haben.

Kitas und Schulen werden wieder in den Fokus rücken. Sinnvolle Teststrategien müssen daher schnell umgesetzt werden, solange Kitas und Schulen geöffnet bleiben.

Begünstigt die britische Variante schwere Verläufe und erhöht sie das Sterberisiko?

Ja. Eine dänische Studie deutet darauf hin, dass B.1.1.7 häufiger zu schweren Verläufen der Erkrankung Covid-19 führt, wobei dies in einem relevanten Maße für Menschen über 55 gilt und insbesondere für die über 70-Jährigen.

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Britische Forscher haben untersucht, wie hoch das Risiko ist, innerhalb von 28 Tagen nach einem positiven PCR-Test infolge einer Infektion mit B.1.1.7 zu sterben. Dieser Studie zufolge erhöht sich das Sterberisiko durch die britische Mutante im Vergleich zu einer Infektion mit dem ursprünglichen Virustyp deutlich.

In absoluten Zahlen ausgedrückt: Bei 35- bis 55-Jährigen steigt das Sterberisiko statistisch von 0,09 auf 0,14 Prozent, bei 55- bis 70-Jährigen von 0,6 Prozent auf 0,9 Prozent, bei 70- bis 84-Jährigen von 4,7 auf 7,2 Prozent und bei den über
85-Jährigen von 16,7 auf 24,3 Prozent. Das gibt Anlass zur Sorge. Für die unter 35-Jährigen gab es nicht genügend Daten, um Aussagen über ein etwaiges erhöhtes Sterberisiko treffen zu können.

Reichen die geltenden Corona-Schutzmaßnahmen aus, um sich vor der anstecken­deren britischen Mutante zu schützen?

Die Situation in anderen Ländern wie Portugal hat gezeigt, dass ein strikter Lockdown hohe Infektionszahlen wieder senken kann. Klar ist allerdings: Es ist jetzt noch wichtiger als ohnehin schon, die geltenden Schutzmaßnahmen, also die AHA+L-Regeln, einzuhalten. Die Fehler, die man jetzt macht – zum Beispiel wenn die Maske unter der Nase sitzt oder man zu nah beieinandersteht – nutzt die britische Mutante leichter aus.

Auch beim Einkaufen gilt es, mindestens 1,5 Meter Abstand zu anderen Menschen zu halten. Man sollte möglichst vermeiden, zu Stoßzeiten einkaufen zu gehen. Die Schutzmaske sollte um Mund und Nase herum gut abschließen. Auch im Freien müssen wir weiterhin vorsichtig sein, etwa beim Spazierengehen den Sicherheitsabstand zu wahren und wenn man zu zweit auf einer Parkbank sitzt. Wer zu dicht neben anderen geht oder sitzt, kann sich auch im Freien mit dem Virus anstecken.

Man steckt sich da an­…

… wo man sich zu sicher fühlt. Im Freundeskreis, im Privaten. Schon während der ersten Corona-Welle hörte ich von Leuten das Argument: „Ich kenne doch die Menschen, mit denen ich mich treffe.“ Das bedeutet natürlich keine Sicherheit. Dem Virus sind persönliche Beziehungen egal.

Der Hamburger Senat hat am Freitag die jüngsten Lockerungen wieder zurückgenommen. Gut so?

Ja. Es ist richtig, die Notbremse zu ziehen. Ich halte Lockerungen angesichts der gegenwärtigen Lage nicht für vertretbar. Wegen der Ausbreitung der britischen Mutante müssen wir mit einem weiteren Anstieg der Inzidenz in Hamburg rechnen.

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die aktuellen Zahlen abbilden, wie viele Menschen sich vor zehn bis 14 Tagen infiziert haben. Nach Ostern könnten wir in Hamburg eine Situation wie um Weihnachten herum bekommen, allerdings mit deutlich höheren Fallzahlen.

Wirken die zugelassenen Corona-Impfstoffe gegen die britische Mutante?

Bisher deutet alles darauf hin, dass die Vakzine von Biontech, Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson nahezu genauso gut gegen B.1.1.7 wirken wie gegen den Wildtyp. Allerdings gibt es Hinweise, dass diese Impfstoffe weniger Schutz gegen andere Corona-Mutanten bieten wie gegen die südafrikanische und die brasilianische Variante.

Diese Varianten sind in Hamburg zwar noch nicht verbreitet. Sie sind aber in anderen Bundesländern schon vermehrt nachgewiesen worden. Wir werden in den nächsten Monaten weitere Veränderungen des Virus sehen, die durch die zunehmende Immunität in der Bevölkerung geprägt werden.

In vereinzelten Fällen treten einige der für die südafrikanischen und brasilianischen Varianten typischen Mutationen auch schon unabhängig von diesen Linien auf, also in weiteren Virusvarianten. Impfstoffe werden zukünftig an solche Mutationen angepasst werden müssen.