Hamburg. Ein Wohnzimmer für eine Stadttaube, Rettungsaktionen in der Ukraine und sein Leben mit ADHS: Zierden überrascht mit anders sein.
Wenn er die Nachbarn im Hausflur seiner Hamburger Wohnung hört, traut sich Malte Zierden nicht vor die Tür. Zu groß ist die Angst, er könnte angesprochen werden. Dass derselbe Malte scheinbar ungehemmt in seine Handykamera redet und dabei über eine Million Menschen auf der Social-Media-Plattform TikTok erreicht – der Großteil seiner Fans kommt aus Hamburg und Berlin – klingt surreal.
Fände das Abendblatt-Interview im echten Leben statt, also nicht über eine Laptop-Kamera via Internetanruf, hätte er großen Respekt vor dem Ganzen, erzählt der 34-Jährige. Malte wurde eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, diagnostiziert. Hinzu kommen Unsicherheiten in Bezug auf die eigene Person und eine Angststörung. Im Interview steht er plötzlich auf und muss das Fenster schließen – zu viel Ablenkung für ein Gespräch.
Dabei hat Malte einiges zu sagen. Dazu, wie er sich mit dem Begriff „Influencer“ nur schwer anfreunden kann. Wieso er einer Hamburger Stadttaube auf dem Brett vor seinem Badezimmerfenster ein Wohnzimmer im Miniaturformat gebaut hat und warum er trotz traumatischer Erlebnisse immer wieder zum Helfen in die Krisengebiete der Ukraine reist.
Hamburger Influencer Malte Zierden: Taube Oßkar sorgt für Begeisterung bei TikTok
Die große Rockstar-Karriere liegt bereits hinter ihm, als der gebürtige Ostfriese nach Hamburg kommt. Der 34-Jährige ist einige Jahre als Berufsmusiker mit eigener Indie-Rock-Band (Hurricane Dean) europaweit auf Tour, zieht dann nach Vechta und studiert Sozial- und Erziehungswissenschaften. Sein Leben finanziert er sich mit Gastro-Jobs. Das Thema „Soziale Medien“ passiert damals noch nebenher statt hauptberuflich.
Durch einen glücklichen Zufall – sein Tätowierer bietet ihm in der Corona-Pandemie seine Wohnung zur Nachmiete an – geht es für Malte nach Hamburg. Fast gleichzeitig mit seinem Umzug erfolgt der große Durchbruch im Internet, an dem auch Taube Oßkar nicht ganz unbeteiligt ist.
Und das kommt so: Weil ihn regelmäßig eine Taube an seinem Badezimmerfenster besucht, fängt Malte an, sich mit diesen Tieren ausführlicher zu beschäftigen. Aus einem x-beliebigen Vogel wird plötzlich Oßkar, für den der Wahl-Hamburger so richtig kreativ wird. Er baut ihm auf dem Fensterbrett ein eigenes Wohnzimmer. Mit Kronleuchter und Fischgrätenparkett, Topfpflanzen und eigens für ihn gemalten Bildern aus der Hand des Hamburger Künstlers Bobbie Serrano. Auf die Frage, wie er darauf gekommen ist, sagt Malte: „Ich glaube, das habe ich meiner Liebe zu Tieren und meinem ADHS-Hirn zu verdanken.“
Während Malte bei seinem Publikum im Internet für Begeisterung sorgt und sein Plan von mehr Akzeptanz für Stadttauben aufzugehen scheint, zeigt sich sein Vermieter nur wenig angetan von dem tierischen Untermieter. „Ich habe schon die eine oder andere Abmahnung gekriegt.“ Glücklich macht ihn die Situation zwar nicht, Zierden ist aber davon überzeugt: „Unter Tierschutzaspekten sind Tauben richtig missverstandene Lebewesen und deshalb gebe ich lieber meiner Taube einen Namen und somit vielleicht ganz vielen anderen Tauben eine Lobby, als dass ich einen glücklichen Vermieter habe.“
TikTok-Star Malte Zierden setzt in Hamburger Wohnung auf Bescheidenheit
Einblicke in seine Wohnung gibt Malte Zierden regelmäßig in seinen Videos. Hier zeigt sich dann auch: Der materielle Luxus fehlt. Im Interview erklärt der 34-Jährige, seine Einnahmen kommen primär vom eigenen Online-Shop. Den hat er ein halbes Jahr nach dem Umzug nach Hamburg eröffnet. Hier verkauft er Klamotten aus ausgewählten Materialien mit lustigen Sprüchen.
Regelmäßige Kooperationen sind bei ihm Mangelware. Diese riesige Werbewelt verstehe er nicht so sehr, so Zierden, der sich damit deutlich von den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen in der Branche unterscheidet. „Ich verkaufe Dinge, aber das sind vor allem eigene Dinge – und immer nur solche Produkte, hinter denen ich stehen kann.“
Dennoch kann er sagen: „Auch ich habe Reichweite, auch ich verdiene Geld damit – und auch nicht zu wenig. Es ist einfach ein großes Privileg.“ Und das möchte er nutzen, indem er sich über seine Taube hinaus im Tierschutz engagiert.
Mit TikTok Gutes tun: Malte Zierden baut Tierheim in der Ukraine
Dafür geht er nicht selten auch über seine persönlichen Grenzen hinaus. Sein wohl bisher größtes Projekt: Ein Tierheim im ukrainischen Grenzgebiet. Das Unterfangen überhaupt möglich gemacht hatten die Fans der Internet-Bekanntheit mit mehr als 200.000 Euro Spendengeldern, die nach einem Aufruf im Internet zusammengekommen waren. In Partnerschaft mit anderen Unterstützenden der Hilfsorganisation Notpfote baut Malte das Tierheim aber nicht nur vor Ort auf, sondern reist auch selbst regelmäßig dort hin, um auch aus den Krisengebieten Tiere zu retten. Dabei erlebt er nicht selten Traumatisches.
„Man funktioniert vor Ort einfach nur. Man sieht und hört ganz schlimme Dinge, der Puls geht hoch. Du siehst auf einmal Leute mit Maschinengewehren vor dir. Überall sind diese Panzersperren, die du eigentlich nur aus Kriegsfilmen kennst. Gleichzeitig sind da diese seit anderthalb Jahren vom Krieg geplagten Menschen, die mit Schlappen laufen. Das sind so absurde Bilder, die du gar nicht wahrnehmen kannst, weil diese Gefahr, die da eigentlich zehn, fünfzehn Kilometer passiert, so versteckt ist.“ Ist die Momentaufnahme vorbei, muss das Gesehene erst einmal verarbeitet werden. „Der eigentliche Hammer kommt immer, wenn man wieder raus ist und anfängt, darüber nachzudenken.“
Zurück zu Hause in Hamburg hat Malte oft schwer damit zu kämpfen, was er erlebt hat. „Ich falle in solche Löcher, habe viel schlechtere Laune, bin emotional angegriffen und einfach nicht ich selbst.“ Das bekommt auch sein Umfeld zu spüren, allen voran Freundin Phia. Die 24-Jährige ist selbst im Internet und als Tierschützerin aktiv, außerdem arbeitet sie als Model.
ADHS und Social Anxiety: Malte Zierden steht mit seinem Job oft im Konflikt
Während sie offen über ihre schwere Form der Migräne spricht, redet er über Social Anxiety (Soziale Phobie). Die macht ihm das Leben als Internet-Bekanntheit alles andere als einfach. Oft verkrieche er sich lieber, anstatt sich draußen aufzuhalten, so Zierden. Besonders schwierig wird es für ihn bei Großveranstaltungen, bei denen er sich nicht „in der Masse verstecken“ kann. Während sich andere nach der öffentlichen Aufmerksamkeit sehnen, hält sich Malte lieber bedeckt, auch, wenn das im Alltag oft schwer möglich ist. „Ich werde wirklich ständig angesprochen. Innerlich sterbe ich dann immer ein bisschen, versuche mich dann aber zusammenzureißen.“
Wenn Menschen ihn im öffentlichen Raum erkennen, auf ihn zeigen und dann plötzlich ansprechen, ist das „für mich unfassbar unangenehm, weil ich dieses Gefühl habe, dass ich in diesem Mittelpunkt stehe, in dem ich draußen, in der Öffentlichkeit gar nicht stattfinden möchte.“ Dass er dafür selbst verantwortlich ist, ist Malte allerdings bewusst. „Dann stehst du in diesem Zwiespalt, du möchtest für dich sein, aber es ist auch so wertschätzend, wenn dieser Mensch dir sagt, wie toll er findet, was du tust.“
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Kein Wunder also, dass er sich mit der Berufsbezeichnung „Influencer“ nicht wirklich anfreunden kann und stattdessen vor allem gerne als Tierschützer gesehen werden würde. Da passt es nur, dass auch sein Lebenstraum so gar nichts mit der Social-Media-Welt zu tun hat. Raus aus der Stadt, in einer Windmühle leben und „irgendwo mit ganz vielen Tieren“ seinen Alltag gestalten, diesem Gedanken hängt der Wahl-Hamburger nach.
Aktuell muss er sich allerdings eingestehen, findet sein Leben viel online statt. „Aber das eine schließt das andere nicht aus und dem muss man ehrlich ins Auge schauen.“ Immerhin kann er voller Überzeugung über sein bisheriges Engagement sagen: „Ich habe endlich etwas gefunden, was mich so richtig erfüllt.“