Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi im Gespräch. Heute über die Reaktion auf die Vertreibung der Armenier in Bergkarabach.
Jede Woche stellt sich der frühere Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des Abendblatts.
Matthias Iken: In Aserbaidschan spielt sich ein neues Drama ab – nach dem Angriff auf Bergkarabach fliehen die Menschen aus ihrer Heimat. Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?
Klaus von Dohnanyi: Zunächst möchte ich betonen, warum das ferne Bergkarabach für uns bedeutsam ist. Diese christlich-armenische Enklave liegt inmitten des muslimischen Staates Aserbaidschan und geht noch auf eine Ansiedlung des russischen Zarenreichs zurück. Als der Völkermord der Türkei an den armenischen Nachbarn im Ersten Weltkrieg begann, flohen Armenier auch nach Bergkarabach. Das Deutsche Reich war damals mit der Türkei verbündet, und wir schauten dem Genozid mehr oder weniger teilnahmslos zu. Und wieder müssen Armenier fliehen, und Russland muss Schutz gewähren. Aserbaidschan aber ist mit dem Westen und der Nato verbandelt, der Westen hätte sich also energisch humanitär einmischen können. Warum taten wir es nicht? War uns die strategische Bedeutung Aserbaidschans wichtiger?
„Flüchtlingskrisen sind auch eine politische Sicherheitsfrage“
Iken: Wie ließe sich ein solcher ethnischer Konflikt entschärfen?
Dohnanyi: Selbstbestimmung, oder auch Autonomie, ist ein Menschenrecht. Es ist der Ursprung jeder demokratischen Bewegung und die Kraft, die auch den Kolonialismus zu Fall brachte. Wir verlangen Selbstbestimmung für die koptischen Christen in Ägypten oder für die Frauen im Iran, für die Ukrainer gegenüber Putin oder die Uiguren in der Volksrepublik China. Auf diesem Menschenrecht beharrten auch die christlichen Armenier in Bergkarabach! Nun werden sie vertrieben, und die internationale Presse kommentiert, „wie die Untätigkeit des Westens Aserbaidschan dazu ermutigt!“ Ich finde es beschämend, dass unsere Regierung in der ganzen Welt herumreist und anderen Völkern Moral predigt, wir aber für die armenischen Christen in Aserbaidschan nur Worte des Mitleids haben. Was ist das für eine Außenpolitik?
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Iken: Wer aber soll die Autonomie durchsetzen?
Dohnanyi: Europa hat für solche innerstaatlichen Konflikte friedensstiftende Lösungen gefunden: Selbstverwaltung statt gewaltsamer Auseinandersetzungen oder Separatismus. Beispiele gibt es viele: das Baskenland, Südtirol, Schottland oder zuletzt auch Nordirland. Das bleibt nicht ohne Konflikte, wie wir vor Kurzem im Streit zwischen Barcelona und der Zentralregierung in Madrid erlebten, aber es befriedet. Autonomie statt separatistischer Gewalt war auch das Konzept, das Bundeskanzlerin Merkel für den Donbas unter dem Stichwort „Minsk 2“ verhandelt hatte, aber Kiew wies diesen Weg zurück! Die Uno sollte die europäische Erfahrung praktizierter Autonomie zu einem strategischen Teil der Friedenspolitik machen.