Hamburg. Zahl der gewaltbereiten Islamisten steigt. Bekämpfung hat Priorität. Was eine Spezialeinheit mit Cyberagenten bringen soll.
Vom Islamismus gehe zurzeit in Hamburg die größte Anschlagsbedrohung aus. Das sagt Torsten Voß, Chef des Landes-Verfassungsschutzes, dem Abendblatt. Er warnt vor gewalttätigen Islamisten, auch wenn aktuell keine konkreten Hinweise auf Planungen vorlägen.
Die Zahl der Islamisten in der Stadt hat sich seit 2014 von 955 um 1755 fast verdoppelt. Von den 1755 gelten 1450 als gewaltorientiert. Das heißt nicht unbedingt gewaltbereit oder gewalttätig. „Aber man akzeptiert zumindest Gewalt, um ideologische Ziele durchzusetzen.“ Unter den gewaltorientierten Islamisten seien auch Menschen in Hamburg, die den militanten Dschihad zumindest billigten und „mindestens mental auch den internationalen Terrorismus befürworten“, so Voß. Der Anstieg der Zahlen komme auch, weil man die Szene genau beobachte und das Dunkelfeld aufkläre, sagt der Verfassungsschutzchef.
Verfassungsschutz Hamburg: Bekämpfung des Islamismus ist derzeit prioritär
Wenn man die extremistischen Entwicklungen analysiere, sehe man im Bereich des Islamismus in den vergangenen Jahren die größten Steigerungszahlen, so Voß. Deshalb sei für den Hamburger Verfassungsschutz die Bekämpfung des Islamismus derzeit prioritär, sagt der Amtsleiter. Er verweist auf zwei in Hamburg geplante und erfolgreich vereitelte islamistische Anschläge. So hatten in diesem Frühjahr zwei Brüder aus Syrien einen islamistisch motivierten Sprengstoffanschlag geplant, zwei Jahre zuvor war es ein junger Deutsch-Marokkaner.
Der Verfassungsschutz hat auf den deutlichen Zulauf reagiert – und baut eine „Spezialeinheit Islamismus“ anlog zur „Spezialeinheit Rechtsextremismus“ auf. Seit Oktober 2022 sind die ersten Cyberagenten in der Behörde im Einsatz. Voraussichtlich im Herbst wird die Spezialeinheit personell komplett sein. Voß erwartet, mit ihr noch intensiver „wertige Informationen aus den Online-Aktivitäten islamistischer Organisationen, Bestrebungen oder entsprechend motivierter Einzelpersonen zu generieren“.
Rechtsextremismus aber weiterhin die größte Bedrohung für die Demokratie
Was dem Verfassungsschutz auch Sorge bereitet sind Frauen, die nach Jahren bei der Terrormiliz „Islamischer Staat“ wieder nach Hamburg zurückkehren. „Und mit ihnen kommen Kinder, die der deutschen Fürsorge und der gesamten demokratischen Sozialisation komplett entzogen worden waren. Diese Kinder sind in Kriegsgebieten sozialisiert und indoktriniert worden“, so Voß.
Während er explizit vor den Entwicklungen im Bereich des Islamismus warnt, sieht er die größte Bedrohung für die Demokratie insgesamt im Rechtsextremismus. „Und dabei geht es, weit vor Anschlägen, bereits um das Einsickern rechtsextremistischer Diskurse, Gedanken und Ideologien in die demokratische Mitte der Gesellschaft“, sagt Torsten Voß.
Verfassungsschutz Hamburg: Typus des Islamisten in Hamburg hat sich gewandelt
Der Typus des Islamisten in Hamburg hat sich gewandelt. Und dieser neue Typus bereitet dem Verfassungsschutz Sorge. „Die Vorstellung vom klassischen Islamisten, die viele Menschen haben und an ältere Männer mit weißen Bärten denken, ist nicht mehr real.“ Stattdessen, so Verfassungsschutzchef Torsten Voß, beobachte man vermehrt jüngere Menschen, „die so gar nicht den gängigen Klischees von Islamisten entsprechen. Und manche Prediger kann man durchaus als popkulturelle Influencer bezeichnen“, warnt Voß. So zeigten Videos, die die Organisation Muslim interaktiv als Werbung einstelle, jüngere Männer, die im teuren Sportwagen vorfahren.
Im Fokus des Verfassungsschutzes steht neben anderen das Al-Azhari-Institut in St. Georg. Die Menschen, die hierher zu Veranstaltungen kommen, sind nach Erkenntnissen des Dienstes zwischen 18 und 35 Jahre alt. Man versuche gezielt, thematisch und medial, junge Muslime anzusprechen, die in „unserer konsumorientierten Welt sozialisiert sind und – auch wenn das eigentlich ein Widerspruch zur Religion ist – diesen Konsum für sich beanspruchen“, sagt der Hamburger Verfassungsschutzchef.
„TikTokisierung“ des Islamismus nennen es die Berliner Kollegen
Voß erzählt davon, dass seine Berliner Kollegen von einer „TikTokisierung“ des Islamismus sprechen. „Diese Einschätzung teile ich ausdrücklich. Die Plattform ist ein wichtiger Kommunikationsort für Salafisten verschiedenster Altersgruppen – auch zur Selbstdarstellung. Und fast jede Szenegröße und wichtiger Prediger hat eigene Accounts in den sozialen Medien und Messenger-Diensten.“ Viele Botschaften würden auf der Plattform nur subtil angedeutet. „Es werden Codes verwendet – und alles im Gewand des jugendlichen Lifestyle“, warnt Voß vor der Entwicklung.
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Laut Verfassungsschutz ist die Mehrzahl der bekannten Hamburger Islamisten in Deutschland geboren und sozialisiert, und sie lebten auch unter unseren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, so Voß.
Der Nachrichtendienst beobachtet seit einigen Jahren einen starken Zulauf auch bei der verbotenen Hizb ut-Tahrir und bei der Furkan-Gemeinschaft. Die Organisationen strebten eine Gesellschaft unter anderem auf Basis der Scharia an. „Das ist mit unserer Demokratie absolut unvereinbar“, sagt Voß. Diese Islamisten versuchten anderen Muslimen „einzutriggern“, dass sie wegen ihres Glaubens in Hamburg einen gesellschaftlichen Nachteil haben, diskriminiert werden. „So hat übrigens auch der sogenannte Islamische Staat gearbeitet“, sagt Voß.
Verfassungsschutz Hamburg beobachtet zahlreiche Gruppierungen
Die islamistische Szene, insbesondere das salafistische Spektrum, gilt in Hamburg als sehr heterogen, Voß spricht von einer „Fragmentierung“. Viele Anhänger seien gar nicht organisatorisch strukturiert. „Wir kennen viele Einzelpersonen ohne den klassischen Zusammenschluss in einer Gruppe.“ Bei solchen unorganisierten Islamisten, die virtuell unterwegs seien und unterschiedliche Moscheen besuchten, sei es eine „große Herausforderung, sie zu detektieren“, sagt Voß.
Neben diesen Einzelfiguren hat der Verfassungsschutz Organisationen mit festeren Strukturen im Blick: die Furkan-Gemeinschaft, Hizb ut-Tahrir oder das Al-Azhari-Institut. Die sogenannte Da’wa-Arbeit, bei der Salafisten versuchten, ihre Ideologie durch intensive Propaganda zu verbreiten und sich weiter zu vernetzen, habe 2023 wieder zugenommen. „Gerade in diesem Jahr stellen wir eine Reihe von Veranstaltungen mit islamistischen Predigern in Hamburg fest. Im Al-Azhari-Institut kamen jeweils zwischen 50 und knapp 100 Menschen zusammen – darunter auch Menschen, die wir vorher nicht als Islamisten kannten. „Was uns Sorge bereitet: Hier gehen auch junge Leute hin, 18-, 19-, 20-Jährige, die aus unseren Erkenntnissen nicht zwingend in der islamistischen Szene verankert sind. Hier wird nach unserer Einschätzung geworben für islamistische und salafistische Ideologien, insofern für absolut demokratiefeindliche Werte. Es ist eine Ideologie, die unser Gesellschaftssystem ablehnt.“
Verfassungsschutz-Chef Voß rechnet mit weiter steigendem Potenzial
Durch die Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit des Verfassungsschutzes sei die Zahl der Islamisten in Hamburg sichtbarer geworden. „Wir klären das Dunkelfeld weiter auf. Ich rechne durchaus damit, und das beobachten wir natürlich sehr aufmerksam, dass das Potenzial noch weiter steigen könnte“, sagte Voß.
Verfassungsschutz und Sicherheitsbehörden würden den Islamismus „auch künftig mit aller Kraft beobachten und bekämpfen“, sagte Voß und verweist auf Erfolge. So habe Hamburg als erstes Bundesland überhaupt die salafistischen Koranverteilungsstände verboten, „maßgeblich mit unseren Erkenntnissen“. Gleiches gelte für das spätere bundesweite Verbot der „LIES“-Kampagne. „Es gab zahlreiche Festnahmen, Durchsuchungen und Verurteilungen, auch dank der Aufklärung durch den Verfassungsschutz. Ebenso Ausweisungen, wie die des stellvertretenden IZH-Leiters.“
Beim proiranischen Islamischen Zentrum Hamburg (IZH) mit der markanten blauen Moschee an der Außenalster handelt es sich laut Voß um iranische Islamisten schiitischer Prägung.
Der Verfassungsschutz arbeite in Hamburg sehr gut mit allen „Playern im Präventionsnetzwerk gegen religiös motivierten Extremismus zusammen. Ich möchte das Amt gern als Speerspitze bei der Bekämpfung des Islamismus bezeichnen“, sagt Verfassungsschutzchef Voß.