Hamburg. Zwei Jugendliche tauschten sich in Chatgruppen über Attentate und Enthauptungen aus. Wen sie als Ziel im Visier hatten.

Die beiden Jugendlichen, die um kurz nach 11 Uhr der Reihe nach Saal 288 am Hanseatischen Oberlandesgericht am Sievekingplatz betreten, sehen wie ganz normale Teenager aus. Der eine: Jeans, T-Shirt, schwarze, lange Haare, ein leichter Oberlippenflaum. Der andere: Brille, Dreitagebart, weißes Polo-Shirt, Jeans. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, dass sich die beiden Heranwachsenden zum Netflix-Gucken oder Computerspielen verabredet haben.

Haben sie aber nicht. Schamsudin M. (18) und Etrit P. (16) sollen Islamisten und Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sein. So lautet jedenfalls die Anklage im Staatsschutzverfahren, die beim Auftakt der Hauptverhandlung am Freitagvormittag verlesen wurde. Computer haben die beiden Jugendlichen nicht gespielt – im virtuellen Raum haben sie sich aber dennoch getroffen. Um Videos von Enthauptungen, Verbrennungen bei lebendigem Leib und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszutauschen. Und um einen Anschlag zu planen.

Prozess Hamburg: IS-Jugendliche wollten bei Anschlag Polizisten ermorden

Als der Vertreter der Generalbundesanwaltschaft am Vormittag eine Dreiviertelstunde lang die Anklage vorträgt, erhalten die Zuhörer einen schnellen Eindruck davon, wie rasant sich junge Menschen mitten in Deutschland radikalisieren. So soll der 18-jährige Schamsudin M. aus Bremerhaven erstmals im Januar 2022 mit islamistischen Gedankengut in Berührung gekommen sein, ehe er sich bereits im März mit den Anschauungen identifizieren konnte.

Es dauerte noch mal vier Monate, ehe der gebürtige Russe aus Tschetschenien in einem Telegram-Chat mit anderen Gleichgesinnten einen Zusammenschnitt einer Enthauptung im Irak mit dem Kommentar „mein Lieblingsvideo“ und die Verbrennung von vier „Ungläubigen“ bei lebendigem Leib mit der Frage „Wollt ihr hier verbrannte Chicken sehen?“ verbreitete.

In der gleichen geschlossenen Chatgruppe, die bereits im Sommer 34 Teilnehmer umfasste, trafen Schamsudin M. und Etrit P. erstmals aufeinander. Der 18-jährige M. nannte sich da schon Emir von Deutschland, hatte Kontakte zu hochrangigen IS-Kämpfern in Afghanistan und im Irak und soll in nur fünf Tagen Ende Juni 80 zum Großteil verstörende Propagandavideos verbreitet haben.

In einer Telegram-Chatgruppe wurden Anschlagspläne geschmiedet

Der zwei Jahre jüngere Etrit P., neben dem seine Eltern Platz genommen haben, hört aufmerksam zu, als all die Details verlesen werden. Der Deutsch-Kosovare soll im Juli in der Chatgruppe von einem Anschlag auf eine Polizeiwache in Iserlohn geträumt und M. bei den schwierigen Plänen um Hilfe gebeten haben.

Im Juristendeutsch lauten die Vorwürfe gegen M.: Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und ein Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz. Dem jüngeren Angeklagten werden die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland und die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat vorgeworfen.

Am Montag hatte Innensenator Grote vor Islamisten gewarnt

Wenn man so will, dann ist das, was am Freitagvormittag im Oberlandesgericht verlesen wird, wie die Praxis zur Theorie, die am Montagvormittag nur wenige Kilometer weiter am Johanniswall vorgestellt wurde. Da hatten Innensenator Andy Grote und Verfassungsschutzchef Torsten Voß den Jahresbericht des Verfassungsschutzes präsentiert – und explizit vor einem Anwachsen der islamistischen Szene auch in Hamburg gewarnt.

2022 mussten 1755 Personen in der Hansestadt dem Islamismus zugeordnet werden, 1450 davon gelten als gewaltorientiert. Aufgrund der Gefahrenlage wurde nun sogar eine neue „Internet-Spezialeinheit“ im Kampf gegen den Islamismus beim Hamburger Verfassungsschutz gegründet. „82 Prozent aller Islamisten gelten in Hamburg als gewaltorientiert“, sagte Verfassungsschutzchef Voß, der bereits erste Erfolge für seine Behörde verbuchen kann.

Erst in der vergangenen Woche waren bei einer bundesweiten Razzia sieben mutmaßliche IS-Unterstützer festgenommen worden. In die Ermittlungen waren offenbar auch Erkenntnisse des Hamburger Verfassungsschutzes eingeflossen. Zudem wurden gerade erst zwei Brüder in einer konzertierten Aktion überführt. In St. Georg verhaften Spezialkräfte Anas K. (28), wenig später wurde dessen 24-jähriger Bruder in Kempten im Allgäu dingfest gemacht. Der Vorwurf: Die Brüder wollten einen Sprengstoffgürtel bauen. . Die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg erklärte: „Nach aktuellen Erkenntnissen hatten die Beschuldigten als Anschlagsziel eine nicht näher konkretisierte Kirche in Schweden ins Auge gefasst, in der sich zur betreffenden Zeit Menschen hätten befinden sollen.“

Islamismus: Im Internet schon zu Gebeten aufgerufen

Möglichst viele Menschen wollten wohl auch die beiden jetzt vor Gericht stehenden Teenager M. und P. treffen. Weil der Bau einer Bombe offenbar zu kompliziert war, schlug der Jüngere von den beiden, P., vor, dass er auf Polizisten mit einem Messer losgehen könne. Der Ältere von den beiden, M., willigte ein und rief in der Telegram-Chatgruppe bereits zu Gebeten für P. auf. Letztendlich kam es nicht mehr zum Attentat, weil Sicherheitskräfte rechtzeitig eingriffen.

Warum und wie sich M. und P. in so schneller Zeit im vergangenen Jahr radikalisierten, wollen sie bereits am zweiten Prozesstag am kommenden Montag sagen. Ihre Anwälte kündigten jeweils Einlassungen an. Insgesamt ist die Hauptverhandlung auf elf Termine anberaumt. Vorerst bleiben die beiden Jugendlichen also zunächst einmal in Untersuchungshaft – ohne Netflix und ohne Computerspiele.