Hamburg. Zwei Schweden bringen neue Dynamik ins Spiel. Hamburgerinnen Svenja Müller/Cinja Tillmann am Sonntag im Halbfinale. Aus für Ludwig/Lippmann.
Sie sind beide 21 Jahre alt, U-21-Weltmeister, zweimalige Europameister, und wer im aufgeschütteten Sand des Tennisstadions am Hamburger Rothenbaum Jonatan Hellvig und Dawid Ahman Beachvolleyball spielen sieht, reibt sich die Augen.
Nicht das übliche Schema aus Annahme des gegnerischen Aufschlags, Zuspiel und Angriff prägt ihre Aktionen, mit den beiden Schweden geht alles viel schneller. Meist schon den zweiten Ball schlagen sie wuchtig übers Netz, stellen ihre Gegner vor kaum lösbare Probleme in Block und Abwehr, weil diese jetzt eine zusätzliche Option zu verteidigen haben. „Revolutionär“ nennt der ehemalige HSV-Volleyball-Nationalspieler Frank Mackerodt (60), mit seiner Agentur lokaler Partner des Elite-16-Turniers, diese Spielweise.
ETV-Duo Ehlers/Wickler diesmal gegen die Schweden chancenlos
Das deutsche Nationalteam Nils Ehlers (29)/Clemens Wickler (28) vom Eimsbütteler TV fand in seinem zweiten Gruppenspiel am Freitag, im Gegensatz zur knappen Niederlage vor zwei Wochen im EM-Viertelfinale in Wien, diesmal keine Lösung, verlor in zwei Sätzen 16:21, 13:21 – und hatte sich dennoch als Gruppendritter vorzeitig in die Zwischenrunde der Gruppenzweiten und -dritten am heutigen Sonnabend geschlagen. Dort standen ihnen die Brasilianer George Wanderley (26)/Andre Loyola Stein (29) gegenüber, Ehlers/Wickler verloren 17:21, 19:21, weil sie mehr Fehler machten und weniger Bälle in der Abwehr holten. Sie beendeten das Turnier als Neunte.
Henning/Winter verlieren im Viertelfinale gegen die Olympiasieger
Die ebenfalls am Bundesstützpunkt in Hamburg-Dulsberg trainierenden Paul Henning/Sven Winter (beide 25/TuSa Düsseldorf) folgten Ehlers/Wickler als Gruppendritte in die K.-o.-Runde – trotz einer 7:21, 23:25-Nieerlage gegen die Katarer Cherif Younousse Samba (28)/Ahmed Tijan (28). Ihre Gegner in der Zwischenrunde waren die erfahrenen Niederländer Alexander Brouwer (33)/Robert Meeuwsen (35). Das überraschende Ergebnis dank starker Abwehr: 21:18, 17:21, 15:11 für Henning/Winter, die mit dem Erreichen des Viertelfinales ihren bisher größten Erfolg auf der Welttour feierten. Gegen die norwegischen Weltmeister und Olympiasieger Anders Mol (26)/Christian Sörum (27) waren sie am Abend beim 14:21, 14:21 aber chancenlos, machten zu viele Fehler.
Zurück zu den Revolutionären: „Ahman/Hellvig spielen eine neue Art des Beachvolleyballs: sehr athletisch, sehr dynamisch, für das gegnerische Block-Abwehrsystem schwer auszurechnen“, sagt Raimund „Ray“ Wenning. Der 44 Jahre alte Stuttgarter ist Projektleiter Scouting/Spielanalyse des Deutschen Volleyball-Verbandes (DVV). Mit seinem Kollegen Ron Gödde (42) beobachtet er seit acht Jahren Beachvolleyballspiele rund um den Globus. Ihr Datenarchiv umfasst bis zu 2000 Videos und rund 1200 Teamanalysen pro Saison.
Mit Kameras und Laptops nehmen sie auf der Tribüne Platz, tippen jeden Spielzug in ihre Computer; am Rothenbaum und bei ausgewählten Topturnieren auch mal zu zweit. Wenning steuert das Projekt aus Deutschland, Gödde, seit 15 Jahren dabei, ist im Jahr mehr als 20 Wochen weltweit unterwegs.
Nur mit guten Aufschlägen sind die Schweden aus dem Konzept zu bringen
Wenning und Gödde haben Ahman/Hellvig, die seit 2018 zusammenspielen, ausgiebig analysiert, weil immer mehr Teams bei Männern und Frauen zumindest ansatzweise die Taktik der Schweden versuchen zu übernehmen.
„Du musst sie mit guten Aufschlägen unter Druck setzen, damit ihre Annahme an Genauigkeit verliert, ihre spektakulären Angriffe, mit dem zweiten Ball aus dem Sprung heraus, schwieriger werden“, sagt Wenning. Beide könnten allerdings mit ihrer Athletik auch unpräzise Pässe ausgleichen, dank ihrer schnellen Armzüge selbst aus körperlicher Rücklage effektiv angreifen.
„Zudem nutzen sie die gesamte Breite des Feldes. Dadurch kommt der gegnerische Blocker oft zu spät in eine gute Netzposition.“ Gelingt indes die Annahme, und beide sind Meister in diesem Grundelement, müssten die Gegner „nach Wahrscheinlichkeiten agieren“, empfiehlt Wenning, in Abwehr und Block auf die mögliche Richtung der Schläge spekulieren.
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Die Revolution entlässt inzwischen bereits ihre ersten Kinder, in Schweden spielen schon Zehnjährige dieses System, in Deutschland nutzt es bisher aber kaum ein Team. Dadurch fehle es im Training an den entsprechenden Partnern, um sich diesen Herausforderungen zu stellen, sagt Wenning. „Mit einem großen Blocker, der weniger beweglich ist, fällt es schwer, ein solches Spielkonzept umzusetzen.“
Ahman/Hellvig haben ideale körperliche Voraussetzungen für ihr Spielsystem
Ahman, 1,89 Meter, und Hellvig, 1,93 Meter, bringen die körperlichen Voraussetzungen dafür mit. Sie sind lang genug für den Block am Netz, anderseits ausgesprochen beweglich, um in der Abwehr Bälle im Hechtsprung vor dem Aufsetzen im Sand auszugraben. „Sie springen weit mehr als andere Teams, laufen mehr, ihre Spielweise ist sehr kraftraubend“, sagt Wenning, „das kann auf Dauer zu einem Faktor werden, im Turnier, aber auch für ihre Karriere, der gegen sie spricht.“
In der Weltrangliste sind Ahman/Hellvig derzeit Zweite hinter Anders Mol (26)/Christian Sörum (27) – und die spielen überwiegend noch den traditionellen Beachvolleyball.
Ludwig/Lippmann machen weiter große spielerische Fortschritte
Die EM-Dritten Laura Ludwig (37) und Louisa Lippmann (28) müssen momentan Systemfragen dieser Art nicht diskutieren. Das HSV-Duo bemüht sich weiter erfolgreich um den Anschluss an die Weltspitze, ihr Zwischenzeugnis vom Rothenbaum fällt positiv aus. Am Sonnabendvormittag besiegten sie in der ersten K.-o.-Runde Anastasija Samoilova (26)/Tina Graudina (25) aus Lettland mit 21:19 und 21:12, erreichten erstmals bei einem Elite-16-Turnier das Viertelfinale. Nur im ersten Satz hatten sie Probleme. Aufschläge und Abwehr entschieden die Partie.
In der Runde der letzten acht erwiesen sich die US-Amerikanerinnen Kristen Nuss (25)/Taryn Kloth (26), Nummer drei der Weltrangliste, als etwas cleverer, waren im Angriff und in der Abwehr einen Tick besser. Ludwig/Lippmann verloren in drei Sätzen mit 21:13, 15:21 und 11:15. Lohn für Platz fünf: 8000 US-Dollar und ein weiterer Schritt Richtung Olympische Sommerspiele 2024 in Paris.
Müller/Tillmann nach Sieg gegen Kanadierinnen im Halbfinale
Auch die WM-Dritten Svenja Müller (22/ETV)/Cinja Tillmann (32/TuSa Düsseldorf) schlugen sich ins Viertelfinale. Sie besiegten die Französinnen Lézana Placette (25)/Alexia Richard (27) mit 21:19 und 21:15. Im Spiel um den Einzug ins Halbfinale schalteten sie anschließend das kanadische Weltklasse-Duo Melissa Humana-Pavedes (30)/Brandie Wilkerson (31) aus. Die Hamburgerinnen siegten vor 6000 begeisterten Zuschauern dank einer überragenden Angriffsleistung mit 22:20 und 21:10. "Ich habe Svenja Müller noch nie so stark gesehen. Die beiden haben sich in einen Rausch gespielt", sagte Frank Mackerodt. Im Halbfinale treffen Müller/Tillmann am Sonntag um 11 Uhr auf Nuss/Kloth.
Für den finalen Sonntag sind 6000 Eintrittskarten verkauft
Karla Borger (34)/Sandra Ittlinger (29), beide TuSa Düsseldorf, mit einer Wildcard vom DVV fürs Hauptfeld gesetzt, waren dagegen nach drei Niederlagen und 1:6 Sätzen am Freitag schon in der Gruppenphase ausgeschieden.
Das Endspiel der Frauen wird am Sonntag um 18 Uhr ausgetragen, das Männerfinale eine Stunde später. 6000 Tickets sind für den letzten Turniertag verkauft. Am Sonntag sind von 10 Uhr an die Halbfinals, danach die Spiele um Platz drei vor den beiden Endspielen angesetzt.