Hamburg. Bande entführt am 25. März 1996 Hamburger Millionär. Haupttäter längst aus Haft entlassen – aktuell steht er aber wieder vor Gericht.
Dieser Fall hatte alles, um deutschlandweit Schlagzeilen zu machen und später ein „Jahrhundertverbrechen“ genannt zu werden: die Entführung von Jan Philipp Reemtsma. Hier das Opfer: der wohlhabende Hamburger mit klangvollem Namen, der Literaturwissenschaften und Philosophie studiert und das Institut für Sozialforschung gründet hatte, der Abgeschiedenheit dem gesellschaftlichen Leben, das ihm offenstand, bis heute vorzieht. Da ein Mann an der Spitze einer Bande skrupelloser Entführer, der zurzeit in Köln mal wieder vor Gericht steht: Thomas Drach.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Reemtsma-Entführer aktuell vier Raubüberfälle auf Geld- und Werttransporter in Köln, Frankfurt am Main sowie im hessischen Limburg vor. Zudem ist der 63-Jährige wegen versuchten Mordes angeklagt, weil er auf zwei Geldboten geschossen haben soll. Der Prozess läuft seit Februar 2022, inzwischen wurden zahlreiche weitere Verhandlungstage bis Oktober angesetzt.
Das Hamburger Abendblatt blickt zurück auf das Jahr 1996 und zeichnet die Entführung des Hamburger Mäzens nach. 33 Tag lang hielten ihn die Kidnapper in einem Verlies gefangen. Das Martyrium endete am 26. April 1996, nachdem die Familie ein Lösegeld von 30 Millionen D-Mark gezahlt hatte.
Reemtsma-Entführung von langer Hand geplant
Es ist ein Montagabend, an dem die Entführer zuschlagen. Am 25. März 1996 verlässt der damals 43 Jahre alte Reemtsma gegen 20.30 Uhr noch kurz die Blankeneser Wohnung, um aus dem nahe gelegenen Arbeitshaus ein Buch zu holen. In der Dunkelheit schlagen die Entführer Reemtsma nieder, verschleppen ihn. „Die Entführung war von langer Hand geplant worden“, schreibt das Opfer später in seinem Buch „Im Keller“, in dem er – noch in damals geltender Rechtschreibung – die Entführung verarbeitet.
„Irgendwann hat man damit begonnen, meine Lebensumstände und -gewohnheiten auszuspähen... Ich wurde also vor der Tür des später so genannten Arbeitshauses niedergeschlagen, gefesselt, weggeführt und verschleppt. Meine Frau, erst ärgerlich, dann beunruhigt darüber, daß ich, entgegen meiner Gewohnheit, ohne dies vorher anzukündigen, lange (wie sie annahm) im Arbeitshaus blieb, sah gegen Mitternacht nach dem Rechten. Eine Statue, die vor dem Haus stand, war umgestürzt, auf einer Mauer lag, mit einer Handgranate beschwert, ein Erpresserbrief“, schildert Reemtsma in seinem Buch seine Entführung, um schließlich aus dem Schreiben zu zitieren: „Wir haben Herrn Reemtsma entführt. Wir fordern ein Lösegeld von 20.000.000 DM... Das Einschalten von Presse und Polizei bedeutet den Tod“, heißt es darin.
Reemtsma-Entführung: 200 Fachleute arbeiten in der Soko mit
Am Tatort findet die Polizei neben einer Handgranate und dem Schreiben der Entführer Blut. Die Verbrecher hatten den Kopf ihres Opfers gegen eine Mauer geschlagen. Innerhalb eines Tages hat die Polizei 200 Fachleute aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammengezogen – Spezialkräfte vom MEK, Psychologen, Kriminalisten, Spurensicherer, „Angehörigenbetreuer“, Profiler des BKA. Die Familie signalisiert den Entführern über eine Grußanzeige in der Hamburger Morgenpost Zahlungsbereitschaft. Man fordert von den rücksichtslosen und brutalen Entführern ein Lebenszeichen von Jan Philipp Reemtsma.
So kommt es zu dem Polaroidbild, das einen verletzten Mann im Trainingsanzug zeigt, der eine aktuelle Ausgabe der „Bild“-Zeitung hochhält, bedroht von einem Mann, von dem man nur die Kalaschnikow in den Händen sieht. Innerhalb weniger Stunden steht das Lösegeld bereit – 20 Millionen Mark. Reemtsmas Ehefrau Ann Kathrin Scheerer erlaubt der Polizei, das Geld zu präparieren – mit einem neuen, von Laien nicht feststellbaren Präparat, schreibt der Entführte später in seinem Buch.
Ferienhaus schon Monate zuvor angemietet
Während die Polizei Autos mit GPS überwacht und Telefone „anzapft“, kerkern die Entführer ihr Opfer in einem Monate zuvor angemieteten Ferienhaus in Garlstedt nördlich von Bremen ein. Reemtsma schreibt in seinen Erinnerungen von sich in der dritten Person, weil er so „Peinliches“ leichter habe sagen können: „Er machte die Augen wieder auf und sah am Boden eine Matratze, eine an der Wand befestigte Kette. Die Handschellen wurden aufgeschlossen und abgenommen. Man zog ihm Jacke, Pullover, Hemd und Hose aus ... Die Unterhose durfte er anbehalten. Man hatte nicht die Absicht, ihn zu demütigen ... Etwas wie ein Pullover und eine Hose wurden ihm übergestreift – später sah er, daß es sich um einen grauen Trainingsanzug mit rotem Aufdruck handelte. Er musste sich auf einen Stuhl setzen, die Kette wurde um seinen roten Fußknöchel geschlungen und mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert.“
Angekettet an eine Wand in einem gut zehn Quadratmeter großen Keller, ein Plastiktisch und -stuhl, Matratze, Campingtoilette und eine Plastikwanne mit Wasser – das muss Reemtsma gut einen Monat lang erleiden. Klopft es an der Tür zum Verlies, muss er eine Maske aufsetzen, bevor einer der Täter den Raum betritt. Ist es Drach, wird konsequent Englisch gesprochen, sodass Reemtsma ihn später im Buch den „Engländer“ nennen wird. Der Entführte bittet um Lektüre, um sich abzulenken, Drach überlässt ihm unter anderem die Bibel. Auch darf Reemtsma der Familie Briefe schreiben.
Was die Entführer ihrem Opfer zu essen gaben
Zu essen bringen ihm die Entführer Brote mit Marmelade, Schinken, Wurst oder Käse vorbei. Einmal gab es ein paniertes Schnitzel vom Imbiss, einmal ein halbes Hähnchen, zweimal versalzene Ravioli, zweimal Linsensuppe, zweimal Nudelsuppe – jeweils aufgewärmte Doseninhalte, erinnert sich Reemtsma später.
Die Strategie der Polizei ist, alles zu unterlassen, was das Leben des Entführungsopfers gefährden könnte, um zugleich aber herauszubekommen, mit welchen Typen von Tätern man es zu tun hat. In der „Mopo“ erscheinen die nächsten Anzeigen. Die erste Geldübergabe durch die Frau und einen befreundeten Anwalt scheitert Anfang April. Vermutlich konnten die Geldboten das enge Zeitfenster nicht einhalten, das die Entführer vorgegeben hatten.
„Am Morgen des 3. April kam der Engländer hörbar verärgert in den Keller. Wenn es so weitergehe, könne die Angelegenheit noch Monate dauern. Das war nicht nur niederschmetternd, weil er (Reemtsma) inständig gehofft hatte, es werde nun bald alles vorbei sein (aber stets mit dem Zweifel: bedeutet das die Freiheit oder den Tod?), sondern auch, weil er nicht verstand, was draußen vorging“, schildert das Opfer in dritter Person seine Verzweiflung.
Reemtsma-Entführung: Geldübergabe in Luxemburg scheitert
Die Stimmung auf allen Seiten verschlechtert sich. Reemtsma schreibt seiner Frau: „Liebe Kathrin – ich weiß nicht, was ihr tut, die Geldübergabe ist heute Nacht gescheitert, niemand ist gekommen. Ich habe Angst! Die Stimmung hat sich radikal verschlechtert, sie haben gedroht, das könne hier noch Monate weitergehen und sie würden mir einen Finger abschneiden. Ich halte das nicht für leere Drohungen. Bitte, Kathrin, glaub mir und hilf mir. Jetzt!“
Die Polizei lässt eine Legende streuen, um Nachfragen zum Verschwinden zumindest für eine Zeit lang zu unterbinden. Herr Reemtsma sei krank, informiert man unter anderem dessen Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung, das der Literatur- und Sozialwissenschaftler gegründet hat und damals auch leitet. Die nächste Geldübergabe steht an – und scheitert erneut. Dieses Mal, es ist inzwischen Mitte April, beordern die Entführer den Anwalt mit dem Lösegeld ins 600 Kilometer entfernte Luxemburg. Wieder, wie schon bei der ersten Geldübergabe, kann das enge Zeitfenster, das Drach und Co. vorgegeben haben, nicht eingehalten werden. Auf einem Autobahnparkplatz zwischen Luxemburg und Trier fliegen verpackte 20 Millionen D-Mark über einen Zaun – nur dass niemand sie in der Nacht noch abholt. Die Polizei sammelt das Geld morgens wieder ein.
Die Täter fordern jetzt 15 Millionen D-Mark und 12 Millionen Schweizer Franken
In den folgenden Tagen fordert die Polizei die Entführer immer wieder auf, „sinnfällige und positiv belegte Lebenszeichen“ (Polizeipsychologin Claudia Brockmann) ihres Opfers zu vermitteln: Antworten auf private Fragen, die aber auch nicht zu kompliziert oder zu weit zurückliegend sein dürfen – also für Reemtsma noch zu beantworten sind. Das Vorgehen soll die Täter zwingen, regelmäßig nach ihrem Opfer zu schauen und sicherzustellen, dass es dem Entführten, soweit das möglich ist, gut geht. Zugleich sollen die Fragen dem Opfer signalisieren: Du bist nicht vergessen, wir kümmern uns weiter um deine Freilassung. „Kommuniziert“ wird weiterhin vonseiten der Familie und Polizei über die Kleinanzeigen.
Die Täter fordern jetzt 15 Millionen D-Mark und 12 Millionen Schweizer Franken. Die Wartezeit wird für das Entführungsopfer und die Familie nahezu unerträglich. Reemtsma entscheidet sich aus seinem Verlies und gedrängt durch die Entführer für zwei gravierende Veränderungen: Er tauscht den Geldboten aus – und drängt darauf, dass sich die Polizei jetzt heraushält. Die Familie setzt die Polizei vor die Tür, was diese später als ihre „schwerste Stunde“ bezeichnen wird.
Geldboten werden ausgetauscht
Reemtsma denkt zunächst an den ehemaligen Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi als neuen Geldboten. „Zwar würde Dohnanyi, daran hatte er keinen Zweifel, sofort bereit sein, ihm zu helfen“, schreibt Reemtsma wieder in dritter Person, verwirft den Gedanken dann aber wieder, denn als Politiker werde Dohnanyi „gar nicht die Möglichkeit haben zu entscheiden, ohne Polizeibeobachtung zu agieren“. Wer also dann? Wer ist bekannt genug? Wer hat genug Autorität der Polizei gegenüber?„Sie (die Person) muss mich retten wollen“, schreibt Reemtsma und entscheidet sich für den Kieler Soziologen Lars Clausen und als zweiten Mann für Christian Arndt von der St.-Pauli-Gemeinde, wie Reemtsma ein Vermittler im damaligen Streit um die Hafenstraßenhäuser.
Es dauert noch etliche Tage, bis die Entführer erste Details zur nächsten Geldübergabe übermitteln. Die beiden neuen Geldboten brechen am 24. April mit zwei Reisetaschen voller Geld in einem Mietwagen auf. Es geht wieder Richtung Westdeutschland. Auf einem Feldweg bei Krefeld müssen die Boten das Auto verlassen, das Geld liegt im Kofferraum. Dieses Mal funktioniert die Geldübergabe. 43 Stunden später setzen die Entführer ihr Opfer kurz vor Mitternacht in einem Waldstück bei Harburg aus. Endlich frei nach 33 Tagen im Verlies.
Sehr gute Sprachaufnahme mit Entführer-Stimme
„Die Stunde der Ermittler schlägt nach der Freilassung. Während der Entführung geht es in allererster Linie darum, das Leben des Entführten zu retten“, sagt Dieter Langendörfer, damals Chef der Soko 96/2. Während die Entführung lief, hatte die Polizei allerdings schon versucht, Ermittlungsansätze zu sammeln. Um wie viele Täter handelt es sich eigentlich? Gibt es Hinweise auf ihre Herkunft? Einen Dialekt vielleicht? Jetzt, nach der Freilassung, versuchen Psychologen der Polizei, Reemtsmas Erinnerungen zu befördern. Dessen Gedächtnis ist phänomenal.
Dann stellen sich die ersten Erfolge ein. Nachdem eine frühe Geldübergabe auch an Verständigungsproblemen durch die extrem verzerrte Stimme der Entführer gescheitert war, konnte die Polizei in einem späteren Telefonat die Gangster überzeugen, den Stimmenverzerrer herunterzufahren. So kamen die Fahnder zu brauchbaren Sprachaufnahmen für eine Öffentlichkeitsfahndung. Die Profiler sind von der Aufnahme begeistert. „Die hatte die Qualität eines Fingerabdrucks“, sagt einer, der dabei war. Eine forensische Phonetikerin analysiert die wenigen klaren Sätze. Ihr Ergebnis: Der Anrufer ist älter als 50, kommt laut Sprachmelodie aus dem Rheinland und ist möglicherweise Handelsvertreter.
Reemtsma-Entführung: Wie die Soko gearbeitet hat
5000 Hinweise gehen nach der Freilassung bei der Polizei ein. Die Soko sortiert sie in drei imaginäre Körbe: „heiße Spur“, „halbschwanger“, „nichts dran“. Die große Schwierigkeit bei der Priorisierung ist die Masse der Hinweise. Womit beginnen? Worauf sich konzentrieren? Soko-Chef Dieter Langendörfer entwickelt eine These: Finden wir das Versteck, finden wir die Täter, lautet der nicht unumstrittene – aber dann erfolgreiche – Ansatz. Und dann der Durchbruch: Ein Anrufer ordnet die Stimme einem Herrn R. zu – ein Mann über 50, Handelsvertreter aus dem Rheinland. Von einer Maklerin kommt der Hinweis: Mieter eines Ferienhauses nördlich von Bremen – inklusive Namen und Anschrift. Der erste Täter geht der Polizei nach rund einem Monat ins Netz. Aber von Drach und dem Großteil des Geldes gibt es lange keine Spur.
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Der Drahtzieher der Entführung hat sich mit einem Teil der Beute nach Uruguay abgesetzt. Im Nobelbadeort Punta del Este führt er ein luxuriöses Leben, gejagt von der Polizei und einer Sicherheitsfirma, die Reemtsma eingeschaltet hat. Familie, Freunde, Ex-Knackis – zu wem könnte der Entführer vielleicht Kontakt aufnehmen? Mit wem telefonieren? Wem schreiben?
Und tatsächlich: Die Zeit macht Drach unvorsichtig. In einem Telefonat mit einem ehemaligen Mithäftling schwärmt Drach von der „größten Band der Welt“, die er bald sehen werde. Die größte Band der Welt? So viele gibt’s davon nicht. Die Rolling Stones spielen kurz darauf in Buenos Aires, findet die Polizei heraus. Parallel verfolgt sie den Anruf zurück in ein Hotel in der Hauptstadt Argentiniens. Hier endet schließlich 1998 Drachs Flucht mit einer Festnahme. Nach zwei Jahren in argentinischer Haft wird der Reemtsma-Entführer nach Deutschland überführt. Das Hamburger Landgericht verurteilt Drach 2001 zu vierzehneinhalb Jahren Haft. 2013 kommt er schließlich wieder frei.
Ein Jahr später stirbt einer seiner Mittäter. Der Mann stürzt in Portugal von einer Klippe in den Tod. War es ein Unfall? Selbstmord? Mord? Bis heute ist der Fall genauso wenig geklärt wie der Verbleib eines Teils der Beute.