Hamburg. Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten. Heute: Das Match zwischen Boris Becker und Michael Stich 1992.
Irgendwas ist ja immer, über das man sich ärgern kann. Mal kommt der Aufschlag nicht, dann rutscht die Vorhand ein Stückchen zu weit hinter die Grundlinie, oder der Volley bleibt an der Netzkante hängen. Tennisspieler, die es in die Weltelite schaffen, sind zumeist Perfektionisten, und wahrscheinlich sind sie auch ganz froh, auf der Suche nach dem Haar in der Suppe stets fündig zu werden. Denn was soll noch kommen, wenn man das perfekte Match gespielt hat?
Näher als Michael Stich am 10. Mai 1992 ist am Rothenbaum wohl niemand diesem Prädikat gekommen. Seit 1892 wird das traditionsreichste deutsche Herrentennisturnier in Hamburg ausgespielt, seit 1924 auf dem Gelände der heutigen Anlage zwischen Hallerstraße, Hansastraße, Mittelweg und Rothenbaumchaussee. Aber weder vor noch nach dem 10. Mai 1992 war so häufig von „perfektem Tennis“ die Rede wie an jenem Halbfinaltag, als der gebürtige Elmshorner Stich bei seinem Heimturnier seinem ewigen Rivalen Boris Becker eine Lektion erteilte, die auf ewig ihren Platz in den Geschichtsbüchern des deutschen Tennissports behalten wird.
Tennis am Rothenbaum: Das Bild wurde zum „Sportfoto des Jahres“
Michael Stich sitzt auf der kleinen Terrasse im Garten des Büros an der Heilwigstraße, wo er mit seiner 1994 gegründeten Stiftung residiert, die sich in der Unterstützung HIV-infizierter Menschen engagiert. Die Sonne, die sich an diesem typischen Hamburger Schmuddelsommertag nur schwer ihren Weg durch die Wolken bahnt, blendet ihn. Doch das ikonische Foto, das Becker, die Hände zu einer bittenden Geste gefaltet und Stich auf der gegenüberliegenden Seite am Netz kniend zeigt, hat er so klar vor Augen, dass ihm die Erinnerung daran ein verschmitztes Lächeln ins Gesicht legt.
Geschossen hat dieses Foto ein ehemaliger Abendblatt-Fotograf. Jochen Körner, der bis 1988 zehn Jahre für das Abendblatt tätig war und vor zwei Jahren im Alter von 77 Jahren verstarb, hatte sich auf der Suche nach „neuen Perspektiven“ auf dem Dach der Südtribüne platziert. Als die beiden Heroen auf die Knie gingen, löste Körner, damals Fotochef des „Tennis Magazins“, aus – und produzierte damit das „Sportfoto des Jahres“.
Die beiden deutschen Tennis-Legenden waren Rivalen
„Immer wenn ich dieses Foto betrachte, kommen die Emotionen zurück, die ich damals hatte“, sagt Michael Stich. Der 54-Jährige ist beileibe kein Mensch, der in der Vergangenheit schwelgt. Vieles von dem, was er in seiner Karriere erlebt hat, ist verblasst, er ist keiner, der Spielergebnisse parat hat oder sich gar an einzelne Punkte erinnert wie andere Tennisprofis. Aber dieses Halbfinale, diese 6:1,-6:1-Machtdemonstration, für die er lediglich 71 Spielminuten benötigte – „das war schon verrückt“, sagt er. „Boris vor heimischem Publikum so dominiert zu haben, das war ein schöner Erfolg und ein wichtiger Teil meiner Rothenbaum-Geschichte.“
Um die Bedeutung dieses Matches zu verstehen, muss man um die Rivalität wissen, die zwischen den beiden deutschen Tennis-Legenden herrschte. Michael Stich, geboren am 18. Oktober 1968, galt als das größere Talent, er war gesegnet mit einem Ballgefühl, das seinesgleichen suchte. Der Leimener Becker, elf Monate älter als sein Dauerrivale, hatte sich jedoch als 17-Jähriger mit dem Triumph in Wimbledon 1985 in die Herzen der deutschen Fans gehechtet, sein Siegeswille beeindruckte viele nachhaltig.
Stich wollte das Match unbedingt gewinnen
Zwölfmal trafen die auch charakterlich so unterschiedlichen Rivalen zwischen 1990 und 1996 auf der Profitour aufeinander, achtmal siegte Becker. Doch die wichtigsten beiden Duelle gewann Stich: 1991 im Wimbledon-Finale in Beckers „Wohnzimmer“ mit 6:4, 7:6 (7:4) und 6:4 – und an jenem 10. Mai 1992 bei seinem Heimturnier, das er unbedingt gewinnen wollte. „Für mich war der Rothenbaum von meiner Kindheit an etwas ganz Besonderes, dort den Titel zu holen, das stand auf meiner Wunschliste sehr weit oben.“
Und von Boris Becker, der während der gesamten Karriere mit dem Platzbelag Sand im Allgemeinen und dem Hamburger Turnier im Besonderen fremdelte, wollte er sich schon gar nicht aufhalten lassen. Das Wetter hatte im Jahr 1992 den Turnierplan gehörig durcheinandergeworfen. Der Center-Court hatte zu jener Zeit noch kein Dach – das wurde erst fünf Jahre später installiert –, und so hatte Becker am Halbfinaltag zunächst noch sein Viertelfinalmatch gegen den Tschechen Karel Novacek zu beenden, ehe der Showdown mit Stich feststand.
Stich entzauberte den hilflos und überfordert wirkenden Becker
Doch was von den Tennisfans auf dem ausverkauften Center-Court mit Hochspannung erwartet wurde, entpuppte sich als einseitigstes der zwölf Duelle der beiden. Mit seinem schnellen und intelligenten Spiel entzauberte Stich den hilflos und überfordert wirkenden Becker. „Ich habe während des Matches gehofft, dass er irgendwann wenigstens mal normal spielen würde, aber das passierte leider nicht“, sagte der konsternierte Verlierer.
Es gehört zu den Eigenheiten von Leistungssportlern, dass sie keine Zeit haben, Erfolge auszukosten, weil sofort das nächste Match, der nächste Wettkampf wartet. Im Rückblick hat Michael Stich die Lehrstunde als „fast normales Match, das ich halt gewonnen habe“ abgespeichert. „Lange gezehrt habe ich davon nicht, zumal ich ja in dem Jahr das Turnier nicht gewinnen konnte“, sagt er. Im Finale unterlag er dem Schweden Stefan Edberg mit 7:5, 4:6 und 1:6. Erst im Jahr darauf krönte er sich mit einem 6:3, 6:7 (1:7), 7:6 (9:7), 6:4 über den Russen Andrej Tschesnokow zum Rothenbaum-Champion – und blieb 30 Jahre lang der letzte deutsche Sieger, bis am vergangenen Sonntag Alexander Zverev seine Nachfolge antrat.
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Tennis am Rothenbaum: Freunde wurden Becker und Stich nie
Mit Boris Becker, der als bestes Hamburg-Resultat den Finaleinzug 1990 vorzuweisen hat, blieb eine Rivalität bestehen, die bis heute in einem Nicht-Verhältnis anhält. Zwar gewannen sie knapp drei Monate nach dem epischen Rothenbaum-Halbfinale bei den Olympischen Spielen in Barcelona gemeinsam Gold im Doppel, Freunde jedoch wurden sie nie. Während Stich nach seiner Karriere auch geschäftlich reüssierte, ist Tennis in Beckers Leben weiterhin das Einzige, was er wirklich beherrscht.
Als der sechsfache Grand-Slam-Sieger 2022 wegen Insolvenzbetrugs für 231 Tage in Haft saß, schrieb Stich ihm jedoch – handschriftlich, wie es sich für einen Vertreter der alten Schule gehört – einen langen Brief, „um ihm zu zeigen, dass wir gemeinsam eine wichtige Zeit hatten, die ich nicht vergesse“. Becker machte die private Geste öffentlich, was Stich ihm zu Recht übel nahm. Einander vor Publikum vorzuführen, dafür waren die Center-Courts dieser Welt die einzig passende Bühne.