Hamburg. Siegerin des Hamburger Springderbys 2022 spricht über Lehren aus dem Triumph und ihre Gefühle vor der Rückkehr nach Klein Flottbek.

Geschichte hat sie geschrieben Ende Mai 2022. Mit ihrer Holsteiner Fuchsstute Dacara gewann Cassandra Orschel das 91. Deutsche Springderby. Als fünfte Frau, als erste Amazone seit der Britin Caroline Bradley 1975 – und als erste Hamburgerin in der Geschichte des traditionsreichen Pferdesportevents durfte sich die 30-Jährige, die auf Gut Ahlmann in Sehestedt (Landkreis Rendsburg-Eckernförde) lebt, vom Publikum feiern lassen. In der kommenden Woche nun versucht Cassandra Orschel in Klein Flottbek, den Triumph zu wiederholen. Aber nicht um jeden Preis, wie sie im Gespräch mit dem Abendblatt betont.

Hamburger Abendblatt: Frau Orschel, im vergangenen Jahr kamen Sie als nur Insidern bekannte Außenseiterin zu Ihrem ersten Springderby. In diesem Jahr sind Sie Titelverteidigerin. Mit welchen Gefühlen kehren Sie nach Klein Flottbek zurück?

Cassandra Orschel: Ich muss ehrlich gestehen, dass die Gefühle gemischt sind. Einerseits freue ich mich riesig darauf, wieder das Derby zu reiten, weil es ein wunderschönes Turnier ist, das mir im vergangenen Jahr viel Spaß bereitet hat. Andererseits spüre ich natürlich, dass der Druck und das Anspruchsdenken vor allem von außen hoch sind. Ich weiß noch nicht einzuschätzen, was mich erwartet und was das mit mir machen wird. Aber es überwiegt eindeutig die Vorfreude.

Sie sagen, dass der Druck vor allem von außen kommt. Wie viel Druck machen Sie sich denn selbst?

Orschel: Ich versuche, ihn auf das Mindestmaß zu beschränken. Ich weiß, dass ich eine gute Chance auf eine erneute Platzierung habe, wenn alles passt wie im vergangenen Jahr. Aber wir hatten in der Vorbereitung ein paar gesundheitliche Probleme, sowohl mein Pferd als auch ich. Wir trainieren auf das Derby hin, bereiten uns bestmöglich vor und sind super motiviert. Aber wenn es nicht klappt, dann klappt es eben nicht. Es wäre ein riesiger Erfolg, das Derby noch einmal zu gewinnen. Aber ich will das nicht mit Ach und Krach erzwingen.

Stellenwert des Derbys unterschätzt

Als wir im vergangenen Jahr zwei Wochen nach Ihrem Triumph ein langes Gespräch führten, sagten Sie, Sie seien noch mitten im Prozess des Verarbeitens. Was hat Sie rückblickend am meisten überrascht?

Orschel: Welchen Stellenwert das Derby in Deutschland und international hat. Das habe ich total unterschätzt. Die Dimensionen kann sich niemand vorstellen, der es nicht selber erlebt hat. Ich dachte, ich mache mir ein spaßiges Wochenende in Hamburg. Dass so etwas Wildes herauskommt, das konnte doch niemand ahnen.

Beschreiben Sie doch bitte, was Sie besonders überrollt hat.

Orschel: Das Medieninteresse war wirklich verrückt. Ich hatte in den Wochen danach so viele Anfragen, dass ich gar nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Das ist über das Jahr zwar weniger geworden, aber in den vergangenen Wochen war es wieder enorm viel. Ich bin zwar kein schüchterner Mensch, aber doch jemand, der lieber im Hintergrund bleibt. Das plötzliche Interesse an meiner Person und meinem Leben war sehr ungewohnt und ist es noch immer.

Keine Zeit, den Erfolg zu genießen

Gab es Momente, in denen Sie gedacht haben: Hätte ich doch bloß nicht gewonnen?

Orschel: In den Wochen danach gab es schon einige solcher Momente, ja. Ich wollte diesen Triumph genießen, aber es ging einfach nicht. Es blieb keine Zeit, das Erlebte zu verarbeiten, und ich musste erst lernen, mit dem gesteigerten Interesse umzugehen. Aber natürlich ist die Aufmerksamkeit auch etwas Schönes, weil sie eine Belohnung für das ist, was man geleistet hat.

Gab es Reaktionen, die Sie besonders gefreut oder auch geärgert haben?

Orschel: Nein, die allermeisten waren sehr wertschätzend und haben sich mit mir und für mich gefreut. Besonders schön fand ich, wie viele Menschen am Sonntagabend nach der Rückkehr vom Derby in Sehestedt auf mich gewartet haben. Da weiß man, wer die wahren Freunde sind. Diese Freunde und meine Familie halten mir auch jetzt den Rücken frei und nehmen mir sehr viel Last von den Schultern.

Menschen, die unerwartete Triumphe erleben, erzählen danach oft, dass sie alles wie in Trance erlebt hätten und sich kaum an Details erinnern. Wie ist das bei Ihnen?

Orschel: Die Siegerehrung erinnere ich auf jeden Fall, die vier Ehrenrunden und wie mein Team mich in den Wassergraben wirft. Auch die vielen Interviews danach habe ich noch vor Augen, das lange Warten am Einritt auf das TV-Interview, das viel länger dauerte als mein Ritt vorher. Aber es stimmt schon: Man hat kaum Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Ein Jahr danach kommt immer mal wieder der Gedanke: Ist das wirklich passiert? Manche Turniere reitet man jedes Jahr und gewinnt nie, und dann gewinne ich das Derby gleich bei meiner ersten Teilnahme! Ich glaube sogar, dass ich erst in diesem Jahr vollkommen realisieren werde, was mir im vergangenen Jahr gelungen ist. Wenn wir beim Einritt vom Publikum begrüßt werden, dann wird bestimmt alles noch mal so richtig hochkommen.

Aufzeichnung des Siegesritts macht gute Laune

Haben Sie Ihren Siegesritt danach noch einmal angeschaut?

Orschel: Natürlich, x-mal sogar, auch die Siegerehrung. Wenn ich mal einen schlechten Tag habe, dann schaue ich mir die Aufzeichnung an, und das hilft mir sehr. Das macht sofort gute Laune.

Wie fühlt es sich an zu wissen, dass es auf den Tribünen wahrscheinlich kaum jemanden geben wird, der Sie nicht kennt?

Orschel: Surreal, aber natürlich auch schön. Ich weiß schon, dass Dacara und ich ein Stück Geschichte geschrieben haben. Jeder von uns fährt auf Turniere, um ganz oben zu stehen. Jeder wünscht sich, einmal in seiner Laufbahn beim Derby zu gewinnen. Im vergangenen Jahr haben viele gesagt, ich sei verrückt, dass ich es überhaupt wage anzutreten. Jetzt erwarten einige schon, dass ich wieder gewinne. Das ist verrückt, aber es gehört wohl auch dazu.

Was hat der Derbysieg verändert?

Orschel: Da muss ich zweigeteilt antworten. Sportlich hat er vieles zum Positiven verändert. Ich durfte auf vielen Turnieren starten, zu denen ich sonst nicht eingeladen worden wäre. Dacara hatte eine tolle Saison, wir waren in einigen Großen Preisen platziert. Ansonsten aber habe ich mein Ding genauso durchgezogen wie vorher auch. Ich habe nicht den riesigen Sponsor dazugewonnen, ich suche weiterhin nicht die Öffentlichkeit, sondern halte mein Leben so normal wie möglich. Mein Leben basiert nicht auf dem Derbysieg.

Flaues Gefühl wegen des Großen Walls

Wenn man diesen Derbysieg einmal geschafft hat, weiß man immerhin, dass man es kann. Inwiefern hilft das für dieses Jahr?

Orschel: Das weiß ich noch nicht. Natürlich spielen sich im Kopf manche Prozesse anders ab, wenn man weiß, dass man es schon mal gewonnen hat. Letztes Jahr war der Start ja ziemlich holprig, trotzdem haben wir gewonnen. Das gibt Selbstvertrauen. Aber wenn ich jetzt daran denke, dass ich den Wall hinunterreiten muss, habe ich ein flaues Gefühl im Magen. Wahrscheinlich ist das normal und sogar gut so. Ich werde auf jeden Fall versuchen, den Fokus auf den Sport zu legen und mich so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit zeigen. Nicht, weil ich es nicht möchte, sondern weil ich weiß, dass es mir nicht gut täte.

Sehen Sie das Derby jetzt mit anderen Augen als im vergangenen Jahr?

Orschel: Ich spüre wahrscheinlich die Faszination noch ein bisschen mehr. Das Derby lebt davon, dass es oft Geschichten schreibt wie die von uns im vergangenen Jahr, und diese Geschichten müssen noch ganz oft geschrieben werden. Volker Wulff und sein Team machen eine tolle Arbeit, wir alle können stolz sein, ein solches Turnier in Norddeutschland zu haben. Ich freue mich riesig, dass das Starterfeld in diesem Jahr auch ohne die Global Tour so erstklassig besetzt ist. Das zeigt, dass es richtig ist, den Fokus auf den Sport zu legen.

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  • Gibt es rückblickend etwas, das Sie anders machen würden?

    Orschel: Nein, gar nichts. Ich bin mit allem zufrieden, wie es gelaufen ist, und glücklich mit dem, was ich erleben durfte und bekommen habe. Natürlich geht es immer besser, aber ich kann sagen, dass es aus meiner Sicht nicht besser hätte laufen können.

    Einziger Wunsch: besseres Wetter

    Haben Sie schon auf die Starterliste geschaut und können einschätzen, wer in diesem Jahr Derbyfavorit ist?

    Orschel: Nein. Es werden die üblichen Namen genannt werden, und wahrscheinlich wird auch meiner dabei sein. Aber es kann so viel passieren, deshalb möchte ich keine Einschätzung abgeben. Der oder die Beste wird gewinnen, und das ist gut so. Ich habe nur einen Wunsch: Dass das Wetter besser ist als im vergangenen Jahr.

    Sollten Sie nicht vorn landen, dann dürfte die Aufmerksamkeit deutlich geringer sein. Glauben Sie, dass Sie das stören würde, wo Sie nun wissen, wie sich der Ruhm anfühlt?

    Orschel: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Das Wichtigste ist, den Spaß am Sport nicht zu verlieren, und ich bin überzeugt davon, dass ich das hinkriege, egal wie ich abschneide. Aufmerksamkeit hin oder her: Für mich bleibt der Derbysieg für immer, und das ist ein sehr schönes Gefühl.