Hamburg. Laut Hamburger Kammerchef fehlen 900 bis 1000 Medikamente. Jede zweite Versorgung ist problematisch. Wie sich Arztpraxen behelfen.
Als Kai-Peter Siemsen im Gespräch mit dem Abendblatt plötzlich husten muss, gibt er sofort Entwarnung. „Keine Sorge, ich habe mich nur verschluckt“, sagt der Chef der Apothekerkammer Hamburg, der ansonsten jede Menge Gründe hat, alarmiert zu sein. So würden derzeit 900 bis 1000 Arzneimittel in Deutschland fehlen. „In Hamburg ist aktuell jede zweite ärztliche Versorgung ein Problem“, sagt Siemsen.
Das überrascht insofern, als der extreme Engpass bei Kinderarzneimitteln im Winter mit Beginn des Frühlings nicht mehr ganz so angespannt schien. „Die Lage hat sich entspannt, weil die Nachfrage geringer geworden ist“, bestätigt Siemsen, der daran erinnert, dass im Winter die gleichzeitigen Corona-, Grippe- und normalen Erkältungswellen in Verbindung mit RS-Viren bei Kindern zu großen Sorgen geführt hätten: „Da war ein besonders hoher Bedarf bei einem besonders niedrigen Angebot. Das hat zu massiven Schwierigkeiten geführt.“
Trotz Entspannung bei Kinderarzneien: Medikamentenengpass in Hamburg gravierend
Diese Extremlage habe man überstanden, von einer wirklichen Entspannung könne man aber nicht reden. „Wir haben aktuell einen massiven Antibiotikamangel“, sagt Siemsen. Auch die teureren Ausweichantibiotika würde man kaum noch bekommen. Die Lieferengpässe seien gravierend. Auch chronische Arzneimittel wie Krebsmittel oder Blutdrucksenker gebe es kaum noch. „Wir müssen teilweise mit den Ärzten zusammen die Therapien ändern.“
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Der Politik ist sich der Situation bewusst. „Der Sozialbehörde ist die Lage bekannt. Wir sind hierzu im Austausch mit den relevanten Akteuren, unter anderem der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft und der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg“, sagt Wolfgang Arnhold, der Sprecher der Hamburger Sozialbehörde, die auch für den Bereich Gesundheit zuständig ist.
Medikamentenmangel: Apothekenchef nimmt die Bundespolitik in die Pflicht
Aus Siemsens Sicht kann die Hamburger Politik am Istzustand allerdings nur wenig ändern. Er nimmt die Bundespolitik in die Pflicht. „Wir haben aus dem System zu viel Geld gespart. Immer weniger Hersteller stellen in Deutschland Arzneimittel her. Die Bezahlung hierzulande ist einfach zu schlecht“, sagt er. „Das ist kein neues Phänomen. Wir warnen davor seit fast zwei Jahrzehnten. Doch nun ist die Lage wirklich dramatisch.“
Das sieht Charlotte Schulz, Sprecherin des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte, ähnlich. Die Arznei-Krise habe anhaltende Auswirkungen auf die Gesundheit Hamburger Kinder. Fiebersäfte seien glücklicherweise wieder verfügbar, sagt Schulz. Jedoch machen ihr wie auch Siemsen die nach wie vor fehlenden Antibiotika große Sorgen. „Die Infektwelle bei den Kindern hält an. Die Lage um die Antibiotika spitzt sich zu.“
Eltern bekommen oft drei Rezepte mit
Es gehe darum, bei der Vielzahl an eitrigen Mandelentzündungen und Mittelohrentzündungen oder Scharlach die passgenauen Medikamente und Antibiotika zu verschreiben, falls das nötig sei. Penicillin sei oft das erste Mittel der Wahl, dann Amoxicillin. Schulz sagt, ihre Praxis telefoniere jeden Tag Apotheken ab, ob wieder Antibiotika verfügbar seien.
Den Eltern ihrer kleinen Patienten würden oft drei Rezepte mitgegeben, damit sie es in mehreren Apotheken versuchen könnten. Und wenn ein Medikament nicht da sei, dann habe man gleich das richtige Rezept für das vielleicht vorhandene Antibiotikum und müsse nicht extra zurück in die Praxis.
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Die Antibiotika würden grundsätzlich zurückhaltend verschrieben. Vor allem müsse man vermeiden, dass man aus Knappheitsgründen einfach Breitbandantibiotika verschreibe und so Resistenzen schon bei den Kindern fördere. „Wir wollen die Kinder mit der optimalen Therapie versorgen“, so Schulz. „In dieser Situation bei den fehlenden Antibiotika bleibt das schwierig.“ Sie hoffe darauf, dass der Frühling dazu führe, dass auch die Infektionen wieder zurückgingen.
Kai-Peter Siemsen weiß genau, wovon Charlotte Schulz spricht. Auch für sein Enkelkind habe er im Winter vergeblich nach Hustensaft gefahndet. Nicht mal Vitamin B konnte in diesem Fall helfen. Die gute Nachricht: Dem Enkelkind gehe es längst wieder gut – ganz im Gegenteil zur Situation in den Apotheken.