Hamburg. Attacken auf die Initiatorin der Volksinitiative gegen das Gendern stellen die Diskussionskultur infrage – und die Volksgesetzgebung.
„Euer Trans-Hass gegen unsere Sprache“, „Schützt die deutsche Sprache vor LGBTIQ+Hass“ und „Euer Volksbegehren ist für den Ar***!“ Plötzlich klebten die Zettel am Sprinkenhof-Gebäude an der Behringstraße. „Es geht nicht um Sprache, es geht um LGBTIQ+Rechte“, war dort zu lesen. Und für internationale Gäste: „It’s not about language.“
Viele Passanten werden sich gewundert haben, warum diese Parolen plötzlich in Ottensen hingen. Die Auflösung: Dort arbeitet Sabine Mertens, die Initiatorin der Anti-Gendern-Volksinitiative. Und spätestens seit ihren törichten Aussagen im Abendblatt („Wenn wir jetzt alle schwul, lesbisch und trans werden sollen, dann ist die Evolution zu Ende.“) das Feindbild einer aktivistischen Szene.
Gender-Streit: Es geht um mehr als um den Stern
Nun hat Gendern zweifellos relativ wenig mit dem weiteren Gelingen der Evolution zu tun, aber es zeigt die Fallhöhe des Konflikts. Die Geister scheiden sich, ob Schulen, Behörden und städtische Unternehmen fortan von Bürger*innen oder doch lieber wie bisher von Bürgern und Bürgerinnen schreiben dürfen. Als habe die Republik keine anderen Probleme, geht es mit viel Wut und Verve zur Sache.
Auf der einen Seite steht die Kunsttherapeutin Sabine Mertens, die beseelt bis besessen vom Kampf gegen den Gender-Stern ist, auf der anderen Seite die versammelte woke Welt, die sich gleich doppelt empört – einerseits über die Unverfrorenheit, das Mittel der direkten Demokratie auch für konservative Positionen zu nutzen, zum anderen über die Unverschämtheit, die LGBTIQ-Bewegung und das Gendern infrage zu stellen. Zugleich kämpft eine sehr laute Minderheit, so zeigen alle Umfragen, gegen eine meist schweigsame Mehrheit.
Gender-Streit: Ein Shitstorm gegen die Initiatorin
Und so wie die direkte Demokratie alle Fragen auf ein Ja und Nein, ein Schwarz und Weiß, ein Gut und Böse reduziert, reduziert sich auch die Debatte. Wer heute den Namen „Sabine Mertens“ bei Google eingibt, dem schlägt der Suchalgorithmus automatisch die AfD als Ergänzung vor. Zwar unterstützten die Rechtspopulisten das Anliegen der Hamburgerin, Mertens aber hatte sich schnell vom Beifall aus der rechten Ecke distanziert.
Doch Zwischentöne sind längst nicht mehr gefragt. Die Linkspartei schubst die gesamte Volksinitiative in die radikale Ecke und spricht von „rechten Queerfeinden“. Der Beweis seien Mertens Evolutionszitate: „Mit diesen Äußerungen werden die tatsächlichen Absichten dieser Volksinitiative deutlich: Hier geht es gegen Rechte von Frauen und queeren Menschen – über den Kampf gegen eine geschlechtersensible Sprache soll eine rechte, reaktionäre Agenda für Hamburg umgesetzt werden.“
Gender-Streit: Politik distanziert sich
Fortan ging es nicht mehr um den Austausch von Argumenten, sondern um das In-den-Senkel-Stellen des Andersdenkenden. „Mit den queerfeindlichen Aussagen von Sprecherin Sabine Mertens hat die Volksinitiative schnell ihr wahres Gesicht gezeigt“, sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Jenny Jasberg, bei der SPD war die Rede von „queerfeindlichen Äußerungen“. Die Initiative habe hier eine rote Linie überschritten.
Dass diese Aussagen nicht hilfreich und klug waren, dürfte unumstritten sein. Aber sind sie queerfeindlich? Fragen wir Menschen, die sich damit auskennen: „Ihre Äußerungen stellen sich strafrechtlich nicht als Beleidigung dar und sind in jeder Hinsicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sind. Da gibt es für die Staatsanwaltschaft nichts zu ermitteln“, sagt beispielsweise der renommierte Jurist Gerhard Strate dem Abendblatt.
Gender-Streit: Eine Strafanzeige mit Kalkül
Trotzdem hat ein Bürger sich derart an den Aussagen gestoßen, dass er Anzeige wegen Beleidigung erstattet hat. Oder wollte er sich daran stoßen? „Der Satz von Frau Mertens ist meines Erachtens keine Beleidigung, weil ihm bereits der ehrverletzende Charakter fehlt und er sich zudem auch nicht an eine abgegrenzte Gruppe oder gar an den konkreten Antragsteller richtet“, sagt ein bekannter Hamburger Rechtsanwalt.
„Es fällt schon auf, dass die Toleranz für deftige Ausdrucksweisen immer dann groß ist, wenn es den politischen Gegner trifft. Dabei verweist er auf „All Cops Are Bastards“ oder das „Ziegenficker“-Gedicht von Jan Böhmermann über Erdogan.
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„Satire darf dann alles, und es wird zu Recht auf die Meinungsfreiheit verwiesen. Fühlen sich dieselben Menschen aber selbst von einer Äußerung betroffen, gilt das nicht mehr, und die Grenzen werden extrem in die andere Richtung verschoben. Dann wird eine Aussage schlimmstmöglich und möglichst individuell verletzend ausgelegt, um daraus eine Beleidigung zu konstruieren.“
Im Fußball entspräche das eine Schwalbe im Strafraum, um einen Elfmeter herauszuholen, obwohl es allenfalls eine leichte Berührung gegeben hat. „Gut, dass im Strafrecht alle Menschen gleich behandelt werden, ohne politische Ansichten zu berücksichtigen. Und nicht binnen einer Sekunde entschieden werden muss.“
Gender-Streit: Was darf Satire?
Weiter sagt der Jurist: „Ist die Äußerung von Frau Mertens homophob? Meines Erachtens nicht, richtet sie sich doch gerade nicht gegen Homosexualität als solches und ist auch nicht feindselig, mag sie auch überspitzt und damit unlogisch sein.
Wäre ein solcher Satz auf der Bühne von Dieter Nuhr oder mit natürlich anderer Zielrichtung von Jan Böhmermann gefallen, hätten einige gelacht und einige das dämlich gefunden, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, einen Strafantrag wegen Beleidigung zu stellen.“
Gender-Streit: Anzeige kursierte sofort im Internet
Zusätzliche Brisanz erhält die Anzeigedadurch, dass sie online gestellt wurde, um dann sofort diverse Medien – darunter auch das Hamburger Abendblatt – in Kenntnis zu setzen. Damit kursierten bald die Meldungen in Netz, wonach die Polizei gegen Sabine Mertens ermittelt.
Das war faktisch richtig, wird aber von Nichtjuristen wahrscheinlich anders verstanden – nach dem Motto: Wo Rauch ist, ist auch Feuer! Ermittlungen aber werden immer aufgenommen, wenn ein Strafantrag gestellt wird, unabhängig davon, wie unsinnig und offensichtlich unbegründet dieser Antrag auch sein mag. Die Staatsanwaltschaft hatte den Strafantrag auf Rückfrage der Medien bestätigt und ihn damit veröffentlichungsfähig gemacht.
Gender-Streit: Jurist kritisiert Staatsanwaltschaft
Doch die Bestätigung bekommt ein Geschmäckle, kritisieren Juristen: „Der Staatsanwaltschaft wird klar gewesen sein, dass dieser Strafantrag wegen Beleidigung in Anbetracht des Sachverhalts unbegründet ist und das Verfahren eingestellt werden wird.“ Zudem habe sie wissen müssen, „dass die Tatsache, dass der Strafantrag gestellt wurde, allein deshalb aktiv der Presse vom Antragsteller selbst zugeleitet wurde mit dem offensichtlichen Ziel, eine entsprechende Presseberichterstattung zu veranlassen. Und deren Zweck war, Frau Mertens als Straftäterin bloßzustellen.“
Das Hamburgische Pressegesetz regelt den Informationsanspruch der Medien. Dieser wird nicht uneingeschränkt gewährt. Vielmehr heißt es in § 4 Absatz 2 Nummer 3: „Auskünfte können verweigert werden, soweit sonst ein überwiegendes öffentliches oder schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde.“
Die Interessen des Einzelnen können also schwerer wiegen als das Interesse der Medien und der Öffentlichkeit an schneller Berichterstattung. Dies gilt vor allem dann, wenn eine Straftat mit größter Wahrscheinlichkeit gar nicht begangen worden ist und das Verfahren deshalb absehbar eingestellt wird. Die vom Gesetz vorgeschriebene Abwägung fällt nach Einschätzung des Juristen klar zugunsten der schutzwürdigen Interessen von Frau Mertens aus. Sein Resümee: „Die Staatsanwaltschaft hätte die Ermittlungen daher in diesem Fall nicht bestätigen dürfen.“
Gender-Streit: Mertens sieht sich als Opfer einer Kampagne
Sabine Mertens erfuhr aus den Medien von der Anzeige – und fühlt sich längst als Opfer einer Kampagne. „Da wird Strafanzeige erstattet, und ich weiß von nichts.“ Nach ihren eigenen Worten ist ein wichtiger Auftraggeber nach den durchgestochenen Ermittlungen abgesprungen. Bei Amazon werden ihre Bücher plötzlich schlechtestmöglich bewertet, mit dem Verweis auf die Volksinitiative und ihre Aussagen „Ich fühle mich wie nach einem Überfall. Sich aus einer Fremdzuschreibung zu befreien ist relativ schwierig. Ich erkenne mich da gar nicht drin. Und permanente Rechtfertigung vergiftet die Atmosphäre.“
Ihrer eigenen Initiative gegen des Gendern hat sie mit ihren Aussagen dennoch eine Bärendienst erwiesen. „Die CDU, einer unserer ersten Unterstützer, hat sich spontan von den Äußerungen distanziert, Unentschiedene waren sicher irritiert“, sagt Mertens. „Die CDU steht aber weiterhin hinter der Volksinitiative, und ich bin mir sicher, die Mehrheit der Bürger auch. Wir wollten auch andere Institutionen ansprechen, inhaltlich war die Offenheit da, aber niemand will sich freiwillig in die Schusslinie stellen“, sagt Mertens.
Sie fühlt sich in ein falsches Licht gerückt, sieht in mancher Berichterstattung den Willen zum Missverständnis. „Jetzt bin ich frauenfeindlich, homophob und rechts. Gilt das dann auch für zwei Drittel der Deutschen, die gegen das Gendern sind? “
Gender-Streit: Umstrittene Aufsätze
Die Kunsttherapeutin verweist auf ein verheiratetes schwules Paar in der eigenen Familie und mehrere homosexuelle Freunde. In Berlin habe sie mit einem Transsexuellen zusammengewohnt. „Geschlecht oder sexuelle Ausrichtung spielen für mich keine Rolle.“ Bei der Volksinitiative gehe es ohnehin ausschließlich um die Sprache. Auf der konservativen Webseite „Die Achse des Guten“ hat sie indes Texte veröffentlicht, die das Gendern sehr viel grundsätzlicher kritisieren. Dort schreibt sie, „die Forderungen nach „nicht sexistischer“ Sprache zielen auf nichts Geringeres als die zentralen, gewachsenen Kulturtechniken einer jeden Sprachgemeinschaft.“
Bei aller verständlichen Kritik an Mertens Aussagen – der Konflikt um die Initiative zeigt längst etwas viel Grundsätzlicheres als den Streit um Gender-Sterne, Unterstriche und Sprechpausen. Deutlich wird, wie politische Fragen der direkten Demokratie inzwischen auf einer persönlichen Ebene ohne Rücksicht auf Verluste ausgetragen werden. Die Maßstäbe, die zu Recht an professionelle Politiker angelegt werden dürfen, gelten nun für Volksinitiativen, die meist von privatem Engagement leben. Fehler werden unnachgiebig verfolgt. Während sie bei Berufspolitikern Teil des Berufsrisikos ist, werden sie hier zu einem beruflichen Risiko.
Gender-Streit: Was wird aus der direkten Demokratie?
Ganz neu ist das zwar nicht, auch Netzrückkauf-Aktivist Manfred Braasch wurde beim Referendum 2013 persönlich unfair und hart angegangen, obwohl es nicht um ihn, sondern Energiepolitik ging. Nun aber ist eine Dimension erreicht, die mittelfristig das Funktionieren von direkter Demografie infrage stellt. Wenn Bürger, die eine Volksinitiative starten, mit Anzeigen, Attacken und Auftragsentzug bestraft werden, wird Bürgerbeteiligung bald nicht mehr funktionieren. „Euer Trans-Hass gegen unsere Sprache“, stand auf einem der Zettel an ihrem Büro. Das übrigens dürfte den Tatbestand der Verleumdung erfüllen. Es stört nur niemanden.