Hamburg. Erste Konsequenzen aus der Tat bei den Zeugen Jehovas. Recherchen nach Hinweisen auf mögliche Gefährder werden professionalisiert.

Die Hamburger Polizei zieht erste Konsequenzen aus dem Amoklauf vor rund zehn Tagen, als ein 35-Jähriger sieben Menschen und dann sich selbst in einem Gebetshaus der Zeugen Jehovas an der Deelböge in Alsterdorf erschoss.

Eine Arbeitsgruppe aus zehn Experten – interne Ermittler und externe Gutachter – hat einen 5-Punkte-Plan entworfen. Demnach soll unter anderem nach anonymen Hinweisen auf psychische Störungen von Waffenbesitzern die Recherche durch Experten im LKA professionalisiert und standardisiert werden.

Der erhöhten Bedrohung durch „mutmaßlich psychisch erkrankte Personen“ will die Polizei zudem mit einer intensiveren Gefährdungsanalyse durch Psychologen begegnen. Das kündigte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt an.

Sein Ziel: „Mit dem 5 Punkte-Plan wollen wir das Risiko solcher Taten minimieren. Dafür optimieren und professionalisieren wir mittels Unterstützung durch die Kompetenzen im Landeskriminalamt die Arbeitsabläufe in der Waffenbehörde.“ Meyer sprach von einem „Früherkennungssystem“.

Polizei Hamburg fordert Änderung des Waffengesetzes

Meyer und die Hamburger Polizei sehen zudem „rechtlichen Handlungsbedarf“. Sie fordern Änderungen des Bundeswaffengesetzes. Demnach sollen künftig alle Menschen, die einen Waffenschein neu beantragen, auf eigene Kosten ihre psychologische Eignung nachweisen. Bislang müssen das nur Menschen tun, die jünger als 25 Jahre sind.

Auch soll die Hemmschwelle in Paragraf 6 des Waffengesetzes gesenkt werden. Bislang müssen die Waffenbehörden – nach anonymen Hinweisen – beweisen können, dass der Mensch mit Waffenschein nicht geeignet ist, eine Waffe zu besitzen. Nur dann dürfen sie einen psychologischen Eignungstest anordnen. Künftig sollen „tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür schon reichen.

Und zum Dritten fordert die Polizei von der Politik, dass mit der Waffe auch alle gekauften Magazine registriert werden müssen. Bislang hat die Behörde keinen Überblick, wie viele Magazine ein Waffenbesitzer sich zugelegt hat. So waren es bei dem Amokläufer von Alsterdorf 60 Magazine mit je 15 Patronen.

Mit ihren politischen Forderungen weiß sich die Polizei im Einvernehmen mit Innensenator Andy Grote. Der SPD-Politiker setzte sich schon unmittelbar nach dem Amoklauf im Abendblatt-Interview für eine Verschärfung des Waffenrechts ein.

Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (l.) und Innensenaator Andy Grote (SPD) wollen Lehren und Konsequenzen ziehen aus der Amoktat von Alsterdorf.
Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (l.) und Innensenator Andy Grote (SPD) wollen Lehren und Konsequenzen ziehen aus der Amoktat von Alsterdorf. © Picture Alliance

Gutachten sollen Tatmotiv von Philipp F. liefern

Nach dem Amoklauf hatten Polizei und Generalsstaatsanwaltschaft Hamburg zwei Gutachten in Auftrag gegeben. Beide Experten hatten dafür das Buch des Attentäters Philipp F. analysiert, das übersetzt heißt: „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan: Eine neue reflektierte Sicht von epochalen Dimensionen.“ Laut Meyer habe der Psychiater in dem Traktat aus dem Jahr 2022 „keine Gefährdung der Allgemeinheit“ ableiten können. Die Tat sei aus Sicht des psychologischen Gutachters nicht vorhersehbar gewesen.

Das zweite Gutachten hat der renommierte Terrorismusexperte Peter Neumann vom King’s College London erstellt. Auch er analysierte dafür das Buch des Amokläufers. Neumann kommt zum Ergebnis, dass sich der „Zorn von Philipp F.“ gegen christliche Religionsgemeinschaften richtete. In diesem Hass liege seiner Einschätzung nach die „stärkste und plausibelste Erklärung für das Tatmotiv. Auch ließe sich damit das Anschlagsziel – eine christliche Religionsgemeinschaft – schlüssig erklären“, so Neumann in seinem Gutachten. Hingegen finde er in F.s Buch keine ausreichenden Hinweise auf ein politisch-extremistisches Motiv des Amoklaufs.

„Hass auf christliche Religionsgemeinschaften“ sei das stärkste und plausibelste Motiv für die Tat“, schreibt Neumann in der elfseitigen Untersuchung vom 19. März, die dem Abendblatt vorliegt. Im Gespräch mit dem „Spiegel“ sagte der Terrorismusforscher, dass sich in dem Buch keine Hinweise auf einen bevorstehenden Amoklauf fänden. „Ohne die Ereignisse zu kennen, würde man nicht darauf kommen, dass er Zeugen Jehovas töten will“, so Neumann im „Spiegel“.

Philipp F. war Mitglied im Hanseatic Gun Club

Polizeipräsident Meyer räumte ein, dass – anders als zunächst angenommen – die Mitarbeiter der in der Rechtsabteilung der Polizei angesiedelten Waffenbehörde den kruden Titel des Buches durchaus gekannt hätten. „Aber selbst wenn sie es gelesen hätten, ein Waffeneinzug wäre mit der Begründung kaum möglich gewesen“, sagte Meyer. Aber möglicherweise hätte das Buch gereicht, um damit als Begründung ein fachpsychologisches Gutachten von F. fordern zu können, so der Polizeipräsident.

Die Hamburger Waffenbehörde hatte dem Mann nur wenige Monate vor dem Amoklauf einen Waffenbesitzschein zuerkannt. Philipp F. wurde Mitglied im Hanseatic Gun Club. Der wirbt für sich als „Schießstand mitten im Zentrum Hamburgs, der dir die Möglichkeit gibt, in seriösestem Umfeld diskret den Umgang mit Großkaliber-Kurzwaffen zu erlernen oder zu professionalisieren“.

So schaffte sich der spätere Amokläufer legal eine Pistole an. Mit dieser halbautomatischen Heckler+Koch P30 tötete er mit insgesamt 135 Schuss sechs Zeugen Jehovas und ein Mädchen im Mutterleib. Die Frau überlebte schwer verletzt nach einem Bauchschuss. Auch die anderen Verletzten sind inzwischen außer Lebensgefahr. F. hatte die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas rund eineinhalb Jahren zuvor im Unfrieden verlassen.

Kam anonymer Hinweisgeber aus F.s Familie?

Wochen vor der Tat war ein anonymer Warnhinweis bei der Polizei eingegangen. F. leide unter psychischen Zerstörungen. Er hasse seinen Arbeitgeber, die christlichen Kirchen und die Zeugen Jehovas, hieß es darin. Von F. könne Gefahr ausgehen, schrieb der anonyme Hinweisgeber, den die Polizei in der Familie von F. vermutet, mit Verweis auf die Waffe.

Nur: Die Behörde fand keinen Ansatz, den Waffenbesitzschein wieder einzuziehen. Zunächst hatte sie sich im LKA und beim Verfassungsschutz nach F. erkundigt und im Internet über den 35-Jährigen recherchiert. In einem nächsten Schritt überprüfte die Waffenbehörde die Wohnung von Philipp F. Doch der hatte die Waffe – und einige Magazine mit Patronen – vorschriftsmäßig im Safe verschlossen. Lediglich eine einzige Patrone, die auf dem Safe stand, brachte F. eine Rüge ein, mehr passierte aber nicht.

Polizeipräsident sieht Schießclubs in der Verantwortung

In der ersten Aufarbeitung des Amoklaufs hatte Innensenator Andy Grote im Hamburger Abendblatt ein härteres Waffenrecht gefordert. Der SPD-Politiker plädierte dafür, psychologische Eignungstests für alle verpflichtend zu machen, die einen Waffenschein beantragen. Und zwar auf deren Kosten.

Weiter als Grote ging unter anderem der Bund Deutscher Kriminalbeamter. Der Hamburger Landesvorsitzende, Jan Reinecke, forderte eine deutlichere Verschärfung des Waffenrechts. „Schusswaffen, die zu sportlichen Zwecken genutzt werden, sollten zentral, getrennt nach Munition und Waffen, an der Sportstätte gelagert werden“, sagte Reinecke. „Nur dort kann sie ein Sportschütze auch benutzen.“ Dabei sollten nach Ansicht von Reinecke wie bei der Bundeswehr die Waffen aus der Waffenkammer von einer berechtigten Person an den Sportschützen ausgegeben werden.

Hamburgs Polizeipräsident sieht solche Schießclubs in der Verantwortung. „Ich wünschte mir, dass sie sich bei einem Verdacht auf psychische Störungen bei einem ihrer Mitglieder meldeten und die Polizei informierten“, sagt Ralf Martin Meyer.

Amoklauf in Hamburg: Faeser bei Besuch vor Ort "tief bewegt"

weitere Videos