Hamburg/Frankfurt. Etwa 70.000 KZ-Häftlinge wurden als „asozial“ und „kriminell“ bezeichnet. Nachkommen haben einen „Verband für das Erinnern“ gegründet.
Sie sind die bislang vergessenen Opfer des Nationalsozialismus. Etwa 70.000 Menschen waren es, die die Nazis im Dritten Reich verfolgten und in die Konzentrationslager verschleppten, dort folterten und zum Teil töteten, weil sie angeblich „asozial“, verarmt und gewohnheitsmäßig kriminell gewesen seien. Jetzt hat diese so fälschlich stigmatisierte Opfergruppe erstmals ein Sprachrohr.
30 Angehörige und Nachfahren dieser NS-Opfer haben Ende Januar in Nürnberg den „Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ (VEVON) gegründet. Dieser soll helfen, diese bislang vernachlässigte Opfergruppe 78 Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors gesellschaftlich zu rehabilitieren, ihnen endlich eine Stimme in der Öffentlichkeit zu geben und sie wenn möglich im Nachhinein zu entschädigen.
Lediglich 288 der von den Nazis als „asozial“ sowie 46 als „kriminelle Berufsverbrecher“ abgestempelte Verfolgte sind bisher in der Bundesrepublik mit Geld entschädigt worden. Eine gesellschaftliche Anerkennung, die ihr Schicksal über einen finanziellen Beitrag hinaus gewürdigt hätte, hat es dagegen noch nicht gegeben.
Die vergessenen Opfer des Nazi-Regimes
„Lange Zeit wurde von den Nazis geleugnet, dass bestimmte Menschen überhaupt eine Würde besitzen“, begründet Frank Nonnenmacher (78) diese Initiative, die nun in die Gründung des Verbandes mündete, zu dessen Erstem Vorsitzenden er gewählt worden ist. Der emeritierte Professor für Sozialforschung an der Universität Frankfurt ist selbst ein betroffener Angehöriger und hatte mit einer Petition, die 20.000 Menschen unterzeichneten, den Bundestag vor drei Jahren zu der späten Anerkennung dieser ignorierten Nazi-Opfer bewegen können.
„,Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ wurden lange nicht als Opfer des Nationalsozialismus erkannt“, heißt es in dem Bundestagsbeschluss vom 13. Februar 2020, dem bis auf die AfD alle Fraktionen zustimmten. Bei den sogenannten „Asozialen“ griffen die Nationalsozialisten auf perfide Weise bereits bestehende Vorurteile und Abneigungen in der Bevölkerung gegenüber bestimmten Randgruppen auf. So wurden Menschen, die ohnehin zu den sozial Schwachen in der Gesellschaft zählten, wie Obdachlose, Bettler, Tagelöhner, Hausierer, Prostituierte, kinderreiche Familien und Menschen ohne festen Wohnsitz, stigmatisiert und bestraft. Sie wurden als „moralisch minderwertig“ und „arbeitsscheu“ beschuldigt und in den Konzentrationslagern durch schwarze Winkel, die sie an ihrer Kleidung zu tragen hatten, kenntlich gemacht.
Angebliche „Asoziale“ wurden lange nicht als Opfer anerkannt
Im Laufe der NS-Terrorherrschaft sei der Begriff des „Asozialen“ immer ausufernder verwendet worden, heißt es im Bundestagsbeschluss. „Damit hatten die Nationalsozialisten das Instrument, Andersdenkende, missliebige Personen zu inhaftieren.“ Als „Berufsverbrecher“ bezeichneten sie Personen, die bereits wegen Eigentumsdelikten oder Betruges zu Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Sie hatten also ihre Strafen schon verbüßt, als sie in die Konzentrationslager kamen. Im Lager mussten sie „grüne Winkel“ tragen.
Doch seit „dieser skandalös späten Rehabilitierung dieser Opfergruppe vor drei Jahren im Bundestag ist leider wenig passiert“, wunderte und ärgerte sich Frank Nonnenmacher. Lediglich eine Wanderausstellung zum Thema sei geplant. „Es ist eine Schande, dass dieser Bundestagsbeschluss in der Luft hängt und bisher nicht umgesetzt wurde“, klagt er.
In den betroffenen Familien waren die Erlebnisse Tabuthemen
Gemeinsam mit seiner Vorstandskollegin Ines Eichmüller aus Fürth rief er im Herbst 2022 über verschiedene Medien weitere Angehörige dazu auf, sich zu melden und diesen Verband mit zu gründen. Gemeinsames Ziel sollte es sein, ihren Eltern, Großmüttern und Urgroßvätern sowie Onkeln und Tanten, denen dieses Unrecht angetan wurde, endlich Gerechtigkeit zu verschaffen.
„Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet“, zitiert Nonnenmacher wörtlich den im Jahr 2020 verabschiedeten Bundestagsbeschluss der damaligen großen Regierungskoalition. „Es ist auch keiner im KZ gestorben. Diese Menschen sind alle ermordet worden“, betont Nonnenmacher. In den betroffenen Familien waren diese schlimmen Erlebnisse lange Zeit, teilweise über Generationen hinweg bis heute, ein absolutes Tabuthema. „Es wurde zu Hause darüber nie gesprochen“, berichten die Angehörigen. Wie bei Ines Eichmüller, wo es der Urgroßvater war, der als „Asozialer“ ins KZ Dachau kam und als „gebrochener Mann“ wieder entlassen wurde. In der Familie sei jahrzehntelang nicht darüber gesprochen worden, sagt sie.
„Das war immer ein blinder Fleck in unserer Familie“, sagt auch Annika Kleist aus Berlin, die nur einmal als Kind „die Gruselgeschichte“ über ihre Urgroßmutter Betty hörte, die im KZ Ravensbrück inhaftiert gewesen sein soll. „Die hat so lang in meinem Unterbewusstsein herumgegeistert“, sagt sie, ohne dass sie Einzelheiten wusste. Erst als sie jetzt von der Petition erfuhr, die diese verleugnete Opfergruppe rehabilitieren soll, „hat das für mich plötzlich Sinn ergeben“, berichtet sie. Manche Angehörige berührt die Beschäftigung mit dem Leiden so, dass es sie zu Tränen rührt. Oft erst in jüngster Zeit, meist nach deren Tod, haben sie die Wahrheit über das erlittene Schicksal ihrer Vorfahren nach jahrelanger Recherche in Archiven zusammentragen können.
Erna Lieskes Schicksal endete mit dem Tod in Auschwitz
Ein Beispiel dafür ist das Schicksal von Erna Lieske, die von den Nazis 1943 zwei Tage nach ihrem 43. Geburtstag im KZ Auschwitz ermordet wurde. Ihre Enkelin Liane Lieske hat ihr kurzes Leben in mühsamer Forschungsarbeit nachgezeichnet – als einzige in ihrer Familie. Die Hamburgerin geht damit offensiv um und hält inzwischen öffentliche Vorträge über das Leid, das ihrer verfolgten Großmutter im Nazi-Regime widerfuhr. So berichtete sie jüngst im „Centralcomitee“ am Steindamm auf Einladung des Auschwitz-Komitees, wie ihre Großmutter in die Mühle der Nazi-Verfolgung geriet und keinen Ausweg fand.
Als junge Frau kam Erna Lieske aus Posen in die Hansestadt, wo sie zur Untermiete in wohnte. Sie arbeitete bei einer Druckerei, deren Chef sie als „sehr fleißig“ beschrieb. Wenn sie keine Arbeit hatte, bekam sie sechs Reichsmark die Woche, die ihr zum Leben nicht reichten. Denn ihr Zimmer kostete 45 Reichsmark im Monat. Erna Lieske geriet wegen kleiner Diebstähle mit dem Gesetz in Konflikt. 1937 wurde sie erneut verhaftet, weil sie nun als „Berufsverbrecherin“ galt. Als sie ihre dreijährige Zuchthausstrafe abgesessen hatte, wurde sie in Sicherungsverwahrung genommen.
„Ihre Arbeit verrichtet sie mit Fleiß zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten“, schrieb 1940 der Anstaltsleiter im Frauenzuchthaus Cottbus. Aber wegen ihrer „süßlichen Art“, die Wärterinnen für sich zu gewinnen, dürfe die Sicherungsverwahrung wegen „dieser Charaktereigenschaft“ nicht aufgehoben werden, warnte er zugleich die NS-Behörden in Hamburg. „Sie hat also keine Chance, egal, was sie macht. Ist sie nett, ist sie bös‘, sie bleibt in Haft“, fasst Enkelin Lieske ihr Schicksal zusammen, das im April 1943 im KZ Auschwitz mit ihrem Tod endete.
Frank Nonnenmacher hat ein Buch über seinen Onkel geschrieben
Die Familie Nonnenmacher ist eine seltene Ausnahme, was die Aufarbeitung der Geschichte angeht. Sein Onkel Ernst war – vorbestraft wegen kleinerer Delikte – 1939 in die Fänge der Nazis geraten. Für zwei Jahre wurde er verhaftet. Danach aber nicht etwa entlassen, sondern ins KZ Flossenbürg gesteckt, weil so einer wie er nicht frei herumlaufen dürfe, entschieden die Nazi-Schergen. Dort musste er im Steinbruch Schwerstarbeit verrichten. Als ihn ein herunterfallender Fels am Körper traf, zog er sich ein lebenslanges Hüftleiden zu, erzählt sein Neffe Frank Nonnenmacher. „Mein Onkel hat das Glück gehabt, dass er sein Leben mit Lebenslust und Leidenschaft nach dem Krieg fortsetzen konnte“, sagt der Sozialforscher, der viele Jahre mit Ernst Nonnenmacher immer wieder über dessen Leidensgeschichte gesprochen und ein Buch darüber verfasst hat. Es heißt: „Du hattest es besser als ich“ und ist 2014 erschienen. Sein Onkel berichtete als Zeitzeuge auch in Schulen über diese NS-Vergangenheit – „damit es nie wieder passiert“.
In einigen Familien haben diese schweren Erlebnisse eine Art Immunität und inneren Widerstand gegen jedwedes faschistische Gedankengut ausgelöst, berichtet ein anderer Betroffener, dessen Großvater in NS-Gefangenschaft geriet. „Mein Opa war nicht umsonst im KZ“, sagt der Enkel, der nicht namentlich genannt werden möchte. „Das hat zu einer antifaschistischen Grundhaltung in unserer Familie geführt, die bis in die Genetik geht.“
Bei Alfons L. Ims war es die Stiefmutter. Der heute 73-Jährige ist das zehnte Kind einer kinderreichen Familie, die in einem sozialen Brennpunkt, dem „Kalkofen“ in Kaiserslautern, lebte und als „moralisch minderwertig“ galt. Zehn Jahre lang hat er recherchiert für sein biografisches Buch „Eine asoziale Pfälzer Familie“. Ihm gelang es, aus dem diskriminierenden Milieu dieses Elendsviertels herauszukommen. Er war der einzige in der Familie, der einen Berufsabschluss machte und studierte. Die Stiefmutter wurde zwangssterilisiert, die Kinder kamen ins Heim und entgingen nur durch Glück dem Tod durch Euthanasie.
Spektakulär war der „Heidelberger Hypnose-Prozess“
Den wohl spektakulärsten Fall über diese verleugneten NS-Opfer hat Irmgard Fuchs über ihren Vater Franz Walter, Jahrgang 1899, erfahren. Dieser schlug sich Anfang der 1930er-Jahre als reisender Vertreter für Tee, Hausschuhe, Krawatten und Hygieneartikel in Süddeutschland durch. Zechprellereien und ein Darlehen für Kleidungsstücke, das er aus Geldmangel nicht zurückzahlen konnte, brachten ihn mit dem Gesetz in Konflikt. Mitte 1934 musste er deshalb eine zweimonatige Haftstrafe absitzen.
Als Franz Walter wieder auf freiem Fuß kam, nahm sein Schicksal eine neue Wendung – in den Abgrund. Im September 1934 wird er von den Nazis verhaftet, verbringt zwei Jahre in Untersuchungshaft und wird im Juni 1936 nach einem Aufsehen erregenden Prozess in Heidelberg, zu dem mehr als 80 Zeugen geladen waren, zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Zudem wurden ihm die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt.
70.000 vergessene Opfer des Nazi-Regimes
Es handelte sich dabei um den später so berüchtigten „Heidelberger Hypnose-Prozess“, der bis in die 1960er- und 1970er-Jahre hinein als profundes Lehrstück zur Ausbildung von Kriminalpolizeibeamten in Köln, Stuttgart und Berlin genutzt wurde. Journalisten aus aller Welt begehrten Einsicht in die Akten, die die Staatsanwaltschaft lange unter Verschluss hielt. Es sind 56 volle Leitzordner im Staatsarchiv in Karlsruhe, wo sie seine Tochter Irmgard voriges Jahr zum ersten Mal eingesehen hat. Der Inhalt schockierte sie so sehr, dass sie sagt: „Welch ein verpfuschtes Leben haben die Nazis meinem Vater bereitet!“
Dabei beruhte die Anklage auf einem sehr konstruierten Fall. Eine verwirrte junge Frau mit dem Namen Alice E. behauptete, dass sie seit sieben Jahren, seit sie 16 Jahre alt war, ein Arzt behandelt und in Trance versetzt habe. Sie sei aber nicht gesünder, sondern immer kränker geworden und habe Schmerzen erlitten. Der Psychiater Ludwig Mayer aus Heidelberg wurde beauftragt, ihre Leidensgeschichte aufzuklären. Er hypnotisierte die Frau bis Anfang 1935 mehr als ein Dutzend Mal und brachte dabei Hunderte von Seiten mit immer abstruseren Behauptungen der 23-Jährigen zu Protokoll.
Darin beschuldigte sie schließlich Franz Walter, der „Arzt“ gewesen zu sein, der sie mit einem Fingerschnippen, Handauflegen und ein paar Worten zu einer willenlosen Frau gemacht habe. Dass sie sich dabei oft widersprach und erst auf gezielte Fragen des Psychiaters Mayer, der immer nur Franz Walter als angeblichen Täter im Visier hatte, an Einzelheiten erinnern konnte, spielte dabei keine Rolle. Alle Aussagen, die den Hypnose-Geschichten von Alice E. widersprachen, wurden von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht ignoriert und nicht zur Entlastung Walters zur Kenntnis genommen. Kein Zeuge hatte je gesehen, dass Walter irgendjemanden in Hypnose versetzt hätte.
Kinder, Enkel, Urenkel, Nichten und Neffen gründen „Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer"
Zudem befand sich Franz Walter in diesen sieben Jahren ihrer angeblichen „Behandlung“ als Vertreter oft ganz woanders auf Handlungsreisen. Er konnte also Alice E. nicht ständig getroffen haben, wie diese erzählte. Doch diese Fakten halfen ihm nicht: Schließlich wurde er vom Landgericht Heidelberg zu zehn Jahren Haft wegen Betruges und schwerer Körperverletzung verurteilt und musste von 1937 bis Mitte 1940 im KZ Esterwegen unter Zwang Torf stechen. Nach weiteren Zuchthausaufenthalten in Bremen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt wurde Walter schließlich im Juni 1943 an die Kriegsfront – das sogenannte „Kommando Nord“ – nach Norwegen geschickt.
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Alle seine Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens und seine Gnadengesuche werden in diesen Jahren abgelehnt – und das, obwohl die Hauptbelastungszeugin Alice E. in ihrem Scheidungsverfahren vom Richter als notorische Lügnerin entlarvt wurde. Zum Kriegsende kommt Walter zurück ins Deutsche Reich, wo er am 9. Mai, einen Tag nach Kriegsende, vom britischen Alliiertenkommando in Flensburg aus der Haft entlassen wird. Er bleibt frei, obwohl die Staatsanwaltschaft Heidelberg noch bis in die 1950er-Jahre hinein fordert, er müsse seine Reststrafe von eineinhalb Jahren noch absitzen.
NS-Opfer Franz Walter blieb nach dem Krieg bis zu seinem Tod in Norddeutschland wohnen. Seiner einzigen Tochter Irmgard erzählte er von dieser persönlichen Tragödie nur Bruchstücke. Bis diese jetzt im Karlsruher Staatsarchiv das ganze Leid erfuhr. Sie sagt: „Es grenzt an ein Wunder, dass er für mich ein so liebevoller Vater war und immer ein fröhlicher Mensch geblieben ist.“