Hamburg. Nalan Yanardag will ihren Mann und ihre Töchter zu sich nach Deutschland holen. Welche Hürden die 44-Jährige dabei nehmen muss.

Es ist 6 Uhr morgens, als Nalan Yanardag sich wie gewohnt auf den Weg macht zur Arbeit in einem Hamburger Altenheim. Doch an diesem Tag hört ihr Handy plötzlich nicht mehr auf zu klingeln. Im Sekundentakt gehen Nachrichten in der Whatsapp-Gruppe mit Lehrern und Eltern der Mitschüler ihrer sechsjährigen Tochter Remziye ein. „Geht’s euch allen gut?“ heißt es dort oder „Habt ihr die Nacht überstanden?“

Die Mutter bekommt Panik. Sie weiß in diesem Moment noch nicht, dass knapp 3500 Kilometer von Hamburg entfernt die Erde so stark gebebt hat wie seit 20 Jahren nicht mehr.

Erdbeben in der Türkei: Yanardag weint, wenn sie an ihre Familie denkt

Als Nalan Yanardag kurz darauf ihren Mann Ramazan in Adana im Südosten der Türkei anruft und erfährt, dass er und ihre beiden Töchter es gerade noch rechtzeitig aus ihrer Wohnung geschafft hatten, habe sie erst einmal weinen müssen, erzählt die 44-Jährige. Obwohl sie erleichtert war, überwog der Schock. Der Schock darüber, dass ihr Mann und ihre beiden Töchter – fünf und sechs Jahre alt – hätten tot sein können. So wie die rund 50.000 Menschen in der türkisch-syrischen Grenzregion, die laut Vereinten Nationen bei dem schweren Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion am 6. Februar ihr Leben verloren.

Nalan Yanardag möchte Verwandte aus dem türkischen Erdbebengebiet nach Deutschland holen und stößt auf bürokratische Hürden.
Nalan Yanardag möchte Verwandte aus dem türkischen Erdbebengebiet nach Deutschland holen und stößt auf bürokratische Hürden. © HA | Roland Magunia

Tausende Menschen starben entweder direkt unter den Trümmern ihrer einstürzenden Häuser, einige qualvoll ein paar Tage später, weil Rettungskräfte sie unter den Geröllmassen nicht finden und befreien konnten. Auch jetzt, knapp drei Wochen nach dem Beben, muss Yanardag weinen, wenn sie an ihre Familie denkt. „Es ist so schlimm, hier zu sitzen und nichts tun zu können“, sagt die Türkin.

Nalan Yanardag zog vor einem Jahr nach Hamburg

Obwohl ihre Familie inzwischen alle nötigen Unterlagen für ein Schengen­visum zur Einreise nach Deutschland eingereicht hat, weiß Yanardag noch nicht, wann sie ihren Mann und ihre zwei Töchter endlich wiedersehen kann. Dabei hatte die Bundesregierung zugesagt, dass das Visumverfahren, mit dem türkische oder syrische Familien ihre Angehörigen für insgesamt 90 Tage nach Deutschland holen können, nun „unbürokratisch“ und „einfacher“ als sonst sein soll.

Weil Nalan Yanardag noch einen Sohn aus erster Ehe mit einem Deutschen hat und auch ihr Sohn die deutsche Staats­bürgerschaft besitzt, hatte sich die Mutter vor knapp einem Jahr dazu entschieden, mit ihrem damals 17-jährigen Jungen nach Hamburg zu ziehen. Ihre beiden Töchter wollte die 44-Jährige mit einem Antrag auf Familiennachzug ebenfalls bald nach Hamburg holen. Doch wann das sein wird, weiß aktuell niemand.

Für das Visum musste der Vater 600 Kilometer nach Ankara reisen

Zwar hatte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) noch bei ihrem Besuch im Erdbebengebiet am 21. Februar versprochen: „Unser Mitgefühl erschöpft sich nicht in Worten.“ Und auf der Internetseite der Bundesregierung heißt es, weil die Visa-Stelle in der Stadt Gaziantep wegen der Erdbebenschäden vorüber­gehend geschlossen bleibe, habe ein mobiler Visa-Annahme-Bus bereits seine Arbeit aufgenommen. Doch dies half Ramazan Yanardag und seinen Töchtern nicht, ihre Unterlagen einzureichen.

Der Vater musste dafür in das knapp 600 Kilometer entfernte Ankara reisen. Da er seit einem Autounfall an einer Rückenverletzung leidet, habe Ramazan Yanardag dies nur geschafft, weil ein Freund ihn mit dem Auto hinfuhr, sagt seine Frau. Auch die beiden Töchter habe er während des Bebens wegen des Rückenleidens nur mit großer Mühe aus dem Haus tragen können.

Viele türkische Familien haben keine Unterlagen mehr

Nun liegt das Gebäude in Trümmern. Dass Ramazan Yanardag so geistesgegenwärtig gehandelt hat und nach Ankara gleich biometrische Passbilder aller Familienmitglieder sowie Pässe und den Nachweis über eine Krankenversicherung mitgenommen hat, die die 30.000 Euro für Kranken- und Rückführungskosten im Schengenraum abdeckt, grenzt fast an ein Wunder. All das und einen Wohnsitznachweis, Verwandtschaftsnachweis, eine schriftliche Schilderung der Notlage sowie 150 Euro Service-Entgelt musste Ramazan Yanardag nämlich bei der Annahmestelle einreichen, um überhaupt ein Visum beantragen zu können.

Dass er es konnte, war sein Glück. „Viele türkische Familien erzählen uns, dass sie gar keine Unterlagen mehr haben. Die meisten sind einfach so schnell wie möglich aus ihren Häusern rausgerannt, als die Erdbeben anfingen“, sagt Turgut Duman, Vorstandsmitglied in der Türkischen Gemeinde Hamburg. Die meisten Familien, so Duman, wüssten gar nicht, was sie jetzt machen sollen. Immer noch bebe es in der Region. Außerdem seien 90 Tage in Deutschland „einfach zu kurz“. Selbst wenn es schnell mit den Aufräumarbeiten vorangehe und die Erdbebenopfer tatsächlich, so wie von der türkischen Regierung angekündigt, für ihre verlorenen Häuser und Wohnungen entschädigt würden, sei auch in 90 Tagen noch nicht alles wieder aufgebaut. „Das ist utopisch. Wo sollen die Menschen denn dann hin?“

Die Lage ist trotz internationaler Hilfe kaum zu ertragen

Aktuell sei die Lage trotz der großen internationalen Hilfe für die Betroffenen kaum zu ertragen, sagt Nalan Yanardag. „Mein Mann und die Kinder schlafen in einer Turnhalle mit Hunderten anderen Betroffenen. Da ist an Schlaf kaum zu denken.“ Jeden Abend, so die gebürtige Türkin, rufe die Familie sich via Video an. „Meistens weinen wir dann einfach nur.“

Wie der „Tagesspiegel“ berichtet, wurden bis vergangenen Freitag insgesamt 528 deutsche Visa für die Erdbebenopfer ausgestellt. Bis zum Besuch von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am 21. Februar in der Türkei waren es laut „Tagesschau“ gerade einmal 100. Wie viele davon auf Hamburg entfallen, werde statistisch nicht erfasst, berichtet das Hamburger Amt für Migration. Auch werde nicht erfasst, wie viele türkischstämmige Hamburgerinnen und Hamburger bereits eine Verpflichtungserklärung für die Übernahme aller für die Einreise und den Aufenthalt entstehenden Kosten bei der Behörde eingereicht hätten. Diese kann in den bezirklichen Ausländerdienststellen, Kundenzentren sowie im Hamburg Welcome Center abgegeben werden.

Erdbeben in der Türkei: Yanardag hofft auf schnelles Wiedersehen

Ob das Auswärtige Amt eine „Globalzustimmung“ ähnlich wie in Berlin für Hamburg vorsieht, werde die Behörde noch in dieser Woche mitteilen, so das Hamburger Amt für Migration. Dies könne in Einzelfällen die Verfahrensdauer verkürzen: etwa wenn die Antragsteller sich zum Zeitpunkt des Erdbebens nachweislich in einem der betroffenen Gebiete wie etwa Adana oder Tartus aufhielten und zu ihrem Ehepartner oder minderjährigen Kind nach Deutschland ziehen wollen.

Oder wenn ihr Ehepartner oder minderjähriges Kind bereits länger in Hamburg wohnt und dort angemeldet ist, der Ehepartner oder das minderjährige Kind deutscher Staatsangehöriger ist oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt in der EU hat. Nalan Yanardag jedenfalls hofft auf ein schnelles Wiedersehen mit ihrer Familie. Zur Not will sie sich selbst auf den Weg in die Türkei machen. „Ich halte es nicht länger aus, meine Kinder beim Weinen nicht in den Arm nehmen zu können.“