Hamburg. 18 Jahre alte Schwestern halten sich offenbar für eine Mutprobe in den Gleisen am S-Bahnhof Allermöhe auf. Schlimme Reaktionen im Netz.
Es herrscht Trauer, es herrscht Fassungslosigkeit – und es gibt ganz furchtbare, brutale Kommentare in den sogenannten sozialen Netzwerken: Zwei 18 Jahre alte Zwillingsschwestern sind auf den Bahngleisen am Sophie-Schoop-Weg in Neuallermöhe von einem Regionalexpress erfasst worden. Eine der jungen Frauen starb. Die ermittelnde Bundespolizei vermutet, dass die Schwestern auf den Schienen ein Video für die Onlineplattform TikTok drehen wollten.
Der Unfall ereignete sich gegen 19.30 Uhr am Dienstagabend. Der Regionalexpress 1 war auf dem Weg von Hamburg über Büchen nach Schwerin, der nächste Halt wäre Bergedorf gewesen. In den Doppelstock-Wagen saßen rund 200 Fahrgäste, als kurz hinter dem S-Bahnhof Allermöhe der Zug die beiden jungen Frauen erfasste. Der Aufprall war so stark, dass der schwere Triebwagen dadurch beschädigt wurde.
Bahnunfall Allermöhe: Zwillingsschwester stirbt
Ein Großaufgebot an Rettern und der Polizei eilte an den Unfallort. Mithilfe eines handgezogenen Schienenwagens wurden die beiden 18-Jährigen von der schwer zugänglichen Stelle des Bahndamms in den S-Bahnhof Allermöhe gebracht.
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Trotz aller Rettungsversuche starb eine der beiden jungen Frauen noch vor Ort. Ihre Zwillingsschwester wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen in eine Klinik gebracht und notoperiert. Nach Angaben der Polizei am Mittwoch befindet sie sich in einem stabilen Zustand.
Tödlicher Unfall: Zugstrecke und Straße gesperrt
Die Bahnreisenden mussten mehrere Stunden in dem Regionalexpress ausharren. Sie wurden schließlich von der Feuerwehr mithilfe von Leitern aus dem Zug geholt und mit Bussen und Taxis weiterbefördert. Ein EC musste wegen des Rettungseinsatzes über Wittenberge zum Hamburger Hauptbahnhof umgeleitet werden, so eine Bahnsprecherin.
Auch der Regionalverkehr sowie die S 21 zwischen Billwerder und Bergedorf konnten am Dienstagabend über mehrere Stunden nicht fahren. Es gab einen Schienenersatzverkehr. Der Sophie-Schoop-Weg war für den Autoverkehr zeitweise gesperrt.
Wollten Schwestern ein Video für TikTok drehen?
Noch am Unfallabend kursierten Gerüchte, wonach die Schwestern auf den Gleisen ein Video aufnehmen wollten. Ein Sprecher der Bundespolizei erklärte am Mittwoch dazu, der Fall könnte im Zusammenhang mit dem Dreh von Videos für Social-Media-Plattformen wie etwa TikTok stehen, in dem es beispielsweise darum gegangen sein könnte, kurz vor der Bahn beiseite zu springen.
Er berichtete, dass die Zwillinge der Bundespolizei und der Landespolizei bekannt waren wegen „niedrigschwelliger Delikte“. „Auch unerlaubten Aufenthalt in Gleisen gab es schon“, sagte er. Man habe in Kontakt mit den Eltern gestanden.
Zwillingsschwester stirbt: Gehässige Kommentare
Wie sich die Eltern fühlen mögen, die eine Tochter verloren haben und um die andere bangen, können Außenstehende nur ahnen. Und hoffen, dass sie nie die Kommentare lesen werden, die in den sogenannten sozialen Medien im Internet geteilt werden.
Es sind Hunderte, und sie sind überwiegend brutal, nicht nur verständnis-, sondern vorwiegend mitleidlos. „Selber schuld“, „natürliche Auslese“ sind einige der gehässigen Äußerungen, mit denen der Unfall auf den Bahngleisen und das mutmaßliche Verhalten der beiden 18-jährigen Zwillingsschwestern kommentiert werden.
TikTok: Tausende Videos über Selbstverletzungen
Die Frage aber stellt sich, was treibt junge Menschen dazu, sich in gefährliche Situationen zu begeben, dies zu filmen und die Videos auf Plattformen wie TikTok einzustellen? Allein dort finden sich Tausende Videos über Depression, Selbstverletzung oder Suizid.
Die jugendlichen Produzenten sprechen über psychische Probleme, zeigen die Narben von Verletzungen, die sie sich selbst zugefügt haben, äußern Suizidgedanken. Einige Videos, so berichtete zuletzt auch die „Tagesschau“, wurden millionenfach angesehen und geliket.
TikTok selbst untersagt es in seinen Richtlinien, Inhalte zu posten, „in denen Suizid oder Selbstverletzung beworben, gefördert, als normal verharmlost oder verherrlicht werden“. Das Unternehmen will allein im letzten Quartal 2021 weltweit über 85 Millionen Videos gelöscht haben. Bei sechs Millionen der Videos gab TikTok als Grund „Suizid, Selbstverletzung und gefährliche Handlungen“ an.
Jugendliche erhoffen sich Popularität durch TikTok
„Die Challenges über TikTok sind sehr stark verbreitet“, sagt Hanna Klimpe, Social-Media-Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW): „TikTok verspricht schon Account-Startern eine große Popularität, was durch viele Hashtags forciert wird. Die Jugendlichen haben sich wahrscheinlich schon Hunderte Clips zuvor angeschaut und wollen noch extremer sein als ihre Vorgänger“, so die Expertin am Department für Information: „Da es offensichtlich schon viele Videos gegeben hat, bei denen das funktioniert hat, wird die reale Gefahr einfach ausgeblendet.“
Klimpe erinnert solche Wettbewerbe etwa aus Italien, wo sich Jugendliche bis kurz vor der Ohnmacht gewürgt hatten. Vor genau zwei Jahren, im Januar 2021, kam bei einer solchen „Blackout Challenge“ ein zehnjähriges Mädchen ums Leben.
TikTok-Videos: Eltern als schlechte Vorbilder?
Man will zur Peergroup gehören, cool sein, anerkannt werden – das war schon immer so bei Mutproben unter Jugendlichen. „Jetzt passiert das Ganze eben online, mit zeitversetzten Zuschauern“, so die HAW-Professorin.
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Sie gibt zu bedenken, dass sich zu wenige Eltern mit den sozialen Medien auskennen, mit ihren Kindern nicht über solche Gefahren sprechen können: „Die haben meist keine Ahnung und sind selbst kein gutes Vorbild. Denn viele Eltern fotografieren ihre Kinder und posten diese Bilder im Netz. Dabei wissen sie doch, dass so etwas auch in die Hände von Pädophilen gelangen kann.“
Psychotherapeut entsetzt über TikTok-Mutproben
Regelrecht entsetzt zeigt sich Heribert Krönker, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut aus Boberg: „Was ist das für eine Welt, die so massiv medial unter Druck setzt? Da gibt es selbstgefährdende Dynamiken, dass ich mich mit einem Thrill präsentieren muss. Das ist eine gnadenlose Zurschaustellung von allem, unglaublich destruktiv.“
Er sieht einen großen Anlass zur gesellschaftlichen Sorge. Zwar habe es immer schon Mutproben gegeben, etwa das gefährliche S-Bahn-Surfen. „Aber inzwischen geht alles Eins-zu-Eins ins Netz und wird nicht mehr sozial korrigiert. Da gibt es in der Lebenswelt keine Rahmung mehr, die Sicherheit und Halt gibt. So wie es im Elternhaus, im Sportverein und in der Schule üblich sein sollte.“
Die Kinder- und Jugendarbeit sei wichtiger denn je. „Wir müssen in den Jugendclubs dringend das Thema Social Media stärker aufgreifen, uns mit den Kids auch über TikTok auseinandersetzen“, so Krönker.