Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über die (großen) Themen unserer Zeit.
In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, was die Inklusion an Schulen gebracht hat.
Lars Haider: „Lieber Herr Lenzen, Sie sind ja eigentlich und vor allem Pädagoge, und deshalb würde ich heute gern mit Ihnen über einen Begriff sprechen, der viel diskutiert wird, gerade im Zusammenhang mit Schulen. Es geht um Inklusion und die Frage, was sie den Schulen gebracht hat. Bevor wir aber darüber sprechen, müssen wir einmal definieren, was genau mit Inklusion gemeint ist.“
Dieter Lenzen: „Der Inklusionsgedanke ist vonseiten der Vereinten Nationen mit dem Gedanken verbunden, dass es keine Menschen geben soll, zum Beispiel Behinderte, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, weil die Gesellschaft nicht in der Lage ist, auf sie einzugehen. Das wirkt sich in allen möglichen Lebensbereichen aus, auch in den Schulen. Die Frage ist, ob der Zweck von Schule für die Betroffenen und für die, die Inklusion leisten sollen, erreicht werden kann.“
„Und man muss unterscheiden zwischen Integration und Inklusion.“
„Richtig. Die Integration ist eine Maßnahme, die im Schulwesen bis in die 1980er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreicht. Damals hat man gesagt, dass man auf Dauer nicht alle auffälligen, auch verhaltensauffälligen Kinder aus dem normalen Schulbetrieb ausgliedern kann.
Genau diese Tendenz gab es nämlich, weil Lehrerinnen und Lehrer in Klassen, in denen alle Kinder zusammen unterrichtet wurden, immer wieder vor der Frage standen, auf wen sie jetzt Rücksicht nehmen sollten: auf die besonders guten und schnellen Schüler, oder auf die, die aus welchen Gründen auch immer Schwierigkeiten mit dem Lernen haben. Man neigte in den 1980er-Jahren dazu, die auffälligen Kindern an eigenen Schulen, den Sonderschulen, zu betreuen.“
„Ganz früher gab es sogar Hilfsschulen.“
„Die mit vielen unfreundlichen Attributen versehen wurden. In meiner Kindheit sagte man zu jemandem, der auf so eine Schule ging, dass er auf dem Brettergymnasium sei, was hieß, dass er danach nur Bretter schleppen konnte. Das hat sich zum Glück überlebt, und genauso wichtig war es, dass man in den 1990er-Jahren erkannte, dass eine Absonderung von Kindern, die von der Norm abwichen, nicht die Lösung sein konnte.
Die Integration war der Versuch, solche Kinder massiv zu fördern und ihnen so die Möglichkeit zu geben, doch an dem herkömmlichen Unterricht teilzunehmen. Ich habe selbst bei einem meiner Kinder erlebt, dass die Integration sehr wirkungsvoll sein kann. Das war für uns ein Segen.“
„Nach der Integration kam die Inklusion und damit die Idee, grundsätzlich alle Kinder gemeinsam zu unterrichten, ganz gleich, welche Probleme oder Auffälligkeiten sie haben, damit die einen von den anderen lernen können und umgekehrt. Wo ist der Unterschied zur Integration?“
„Die Vereinten Nationen haben Inklusion als Norm gesetzt, es den einzelnen Staaten aber natürlich überlassen, wie sie diese ausfüllen. In Deutschland traf der Inklusions-Gedanke auf das Integrationssystem, das es zumindest in einigen Bundesländern bereits gab, und den konnte man auch falsch deuten. So nach dem Motto: Um der Inklusions-Idee gerecht zu werden, reicht es, alle Kinder in eine Klasse zu setzen.
Das ist natürlich nicht so. Wenn es zusätzliche Fördermaßnahmen und zusätzliches Personal für die Kinder nicht gibt, die einen größeren Betreuungsbedarf haben, werden die Lehrerinnen und Lehrer mit Inklusionsklassen allein gelassen. Und das ist, im Vergleich zur Integration, ein Rückschritt für alle Beteiligten.“
„Etwa so, wie in einer Klasse, von der mir eine Lehrerin erzählt hat, und in der zwei Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht worden waren, die aber parallel keinen Deutschunterricht hatten. Weil die Lehrerin nicht wusste, was sie mit den beiden machen sollte, hat sie ihnen im Klassenzimmer eine Spielecke eingerichtet, die wiederum aber die anderen Kinder abgelenkt hat. Und am Ende waren alle unzufrieden.“
„Das ist ein gutes Beispiel, denn auch historische Beeinträchtigungen von Schülerinnen und Schülern können im Rahmen der Inklusion für Probleme sorgen. Die ukrainischen Kinder, die zu uns vor dem Krieg geflohen sind, brauchen selbstverständlich einen intensiven Sprachunterricht, weil sie sonst nicht am normalen Unterricht teilnehmen können.“
„Was halten Sie in diesem Zusammenhang von den Schulbegleitern? Ich habe Klassen erlebt, in denen zwei, drei Kinder eine eigene Betreuungsperson an ihrer Seite haben, die sich allein um sie kümmert. Können diese Schulbegleiter, die auch in Hamburg in diesem Jahr sehr gesucht waren, eine Hilfe auf dem Weg zu einer gelingenden Inklusion sein?“
„Man muss immer sehen, was überhaupt machbar ist. Wenn in der besten aller Welten genügend professionelle Pädagoginnen und Pädagogen zur Verfügung stünden, wären Schulbegleiter eine sehr gute zusätzliche Hilfe. Aber ich befürchte, dass wir es angesichts des zusätzlichen Förderbedarfs und der demografischen Entwicklung schwer genug haben werden, überhaupt alle frei werdenden Lehrerstellen zu besetzen. Vielleicht kann die Arbeit als Schulbegleiter aber auch für einige Menschen der Einstieg in das professionelle pädagogische Arbeiten werden, das wäre sehr gut.“
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„Es gibt einige Schulen, die sich beklagen, dass die große Aufgabe der Inklusion ungerecht verteilt ist, weil es in bestimmten Stadtteilen mehr Schülerinnen und Schüler gibt, die gefördert werden müssen, als in anderen.“
„Wir müssen natürlich ein Maximum an Gerechtigkeit schaffen, aber das wird nicht dadurch erreicht, dass wir die Schüler gleichmäßig verteilen, was allein aufgrund der Größe Hamburgs auch praktisch gar nicht funktionieren würde. Wir müssen dort, wo mehr Bedarf besteht, einfach auch mehr intervenieren. Das lässt sich nicht vereinheitlichen. Wir müssen die Menschen, die unterrichten können, nicht die Schüler, dorthin schaffen, wo sie gebraucht werden.“
„Sie haben es eben angesprochen, auch die Schulen werden darunter leiden, dass in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen und zu wenige Lehrerinnen und Lehrer nachwachsen. Wie kann man das auffangen? Indem die Klassen wieder größer werden, was die Inklusion genauso erschweren würde wie ein weiterer Ausbau des digitalen Unterrichts?“
„Ich arbeite seit den 1970er-Jahren in der Erziehungswissenschaft und kann sagen, dass keine der Prognosen, die seither in Bezug auf den Lehrerbedarf gemacht wurde, wirklich zutraf, weil es immer neue epochale, nicht vorhergesehene Ereignisse gab wie z. B. die Migration. Der Bedarf ist aber tatsächlich riesig, wobei es große Unterschiede von Bundesland zu Bundesland gibt. Hamburg steht deswegen gut da, weil es erstens eine attraktive Stadt ist und weil die Schulbehörde sehr früh dafür gesorgt hat, Beamtenverhältnisse von Lehrerinnen und Lehrern zum Normalfall zu machen. Auch das lockt junge Pädagogen an.
So oder so müssen sich die Bundesländer etwas einfallen lassen, dass der Beruf attraktiv bleibt, und da ist neben der Bezahlung die Größe der Klassen ein wesentlicher Punkt. Je mehr Schüler in einer Klasse sind, desto unattraktiver ist die Arbeit für die einzelnen Lehrkräfte, gerade angesichts der Anforderungen der Inklusion. Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass wir in zehn bis 15 Jahren die nächste große Bildungskrise erleben, weil es zu wenig Lehrerinnen und Lehrer gibt.“
„Und wir müssen alles dafür tun, dass die Lehrer, die jetzt schon im Job sind, so viel Spaß wie möglich an ihrer Arbeit haben, damit sie möglichst spät in den Ruhestand gehen.“
„So ist es.“