Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über die (großen) Themen unserer Zeit.
In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um Kitas, die nur noch vegetarische Kost anbieten, und die Frage, ob Kinder Fleisch brauchen.
Lars Haider: „Ich bin seit rund 30 Jahren Vegetarier, und ich bin das nicht aus Überzeugung geworden, sondern weil mir Fleisch und Fisch nicht wirklich geschmeckt haben. Wie ist das bei Ihnen, Herr Lenzen?“
Dieter Lenzen: „Ich lege mir keine Beschränkungen auf, weil ich weiß, dass sich aus soziologischer Sicht gleich die Frage stellen würde, von wem ich mich denn unterscheiden möchte. Das ist eigentlich der Kern: Es ist kein medizinisches Thema, vielleicht ein bisschen, sondern vor allem eines aus soziologischer Sicht. Sind sie denn ein militanter Vegetarier?“
„Nein, das bin ich nicht, aber darum soll es heute auch nicht gehen. Wir wollen darüber sprechen, ob Kinder eigentlich Fleisch brauchen. Hintergrund ist unter anderem, dass die Kitas in Freiburg nur noch vegetarische Kost anbieten und dass auch in Hamburg hier und da entsprechende Diskussionen laufen.
Und ich glaube wie Sie, dass es nicht in erster Linie eine medizinische, sondern eine gesellschaftliche Frage ist, in der es aus meiner Sicht aber weder um Abgrenzung noch um eine bestimmte Ideologie gehen darf.“
„Einen Augenblick müssen wir aber noch darauf verwenden, uns mit den medizinischen Fragen zu beschäftigen. Es gibt zumindest Studien, die darauf hinweisen, dass ein Teil der vegetarisch ernährten Kinder kleiner und schmaler bleibt als die, die Fleisch und Fisch gegessen haben, weil bestimmte Substanzen fehlen. Außerdem sind tierisches Eiweiß und Eisen offenbar in einem kindlichen Körper besser verwertbar. Trotzdem würde ich nicht so weit gehen, Kindern zwangsweise Fleisch zu verabreichen.“
„Die Zeiten, in denen man glaubte, dass Kinder unbedingt Fleisch essen müssen, sind doch vorbei. Zumal ich nicht wenige Kinder kenne, die im Alter von sechs bis zehn Jahren für sich entschieden haben, dass sie sich vegetarisch, in einem Fall sogar vegan, ernähren wollen.“
„Ich würde gern auf den Aspekt des Essens als Distinktionsmerkmal eingehen. In der Geschichte der Menschheit hat es Essensregeln als Unterscheidungsmerkmale immer gegeben, das ist nichts Neues. Die Aristokraten in der Zeit des Barocks haben Fleisch gegessen, um zu zeigen, dass sie sich das leisten konnten, während die Bauern, von denen sie dieses Fleisch bekamen, kein Geld dafür hatten.
Oder denken Sie daran, dass die Adligen früher Weißbrot gegessen haben und dunkles Brot nur etwas für tieferstehende soziale Schichten war, etwas, was sich mit der Zeit umgekehrt hat. Kartoffeln oder Sago galten auch lange als Unterschichternährung. Mit anderen Worten: Das Essen ist nicht nur ein Nahrungsmittel, sondern es zeigt auch an, zu welcher Gruppierung ich gehöre, und es ist auch eine Art Marker für Wohlstand oder das Gegenteil davon. Es kommt hinzu, dass Essensvorschriften auch signalisieren können, dass man sich einer religiösen Gruppe zugehörig fühlt oder ihr angehört.“
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„Ich bin gespannt, wie Sie jetzt die Kurve zu den Kindern bekommen, die in den Kitas kein Fleisch mehr essen. Vegetarische Kost in Kitas hat übrigens den Vorteil, dass man damit nicht mehr die Kinder ausschließt oder besonders behandeln muss, die aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch essen.“
„Die Kurve ist ganz einfach: Die Kinder lernen über das Essen, dass es soziale Unterschiede gibt, dass diese Unterschiede gerechtfertigt sind und man selbst zu den Besseren gehört.“
„Wenn alle vegetarisch essen, stimmt das nicht. Und wenn Sie sagen, dass Essen ein Unterscheidungsmerkmal ist, kann ich grundsätzlich nur zustimmen. Als Vegetarier war ich in den vergangenen 30 Jahren immer eine Art Außenseiter, einer, dem andauernd die Frage gestellt wurde, warum er denn kein Fleisch essen würde, so nach dem Motto: Ist mit dem alles in Ordnung? Besser gefühlt als die, die mich gefragt haben, habe ich mich damit auf jeden Fall nicht.“
„Das haben Sie aber gut kompensiert.“
„Vielleicht gerade deswegen.“
„Mal ohne Spaß: Ja, die Art, wie und was man isst, ist eine Zugehörigkeitsfrage. Man ist Teil einer Gruppe, die durch gemeinsame Normen gekennzeichnet ist, in Ihrem Fall durch den Verzicht auf Fleisch und Fisch. Wir brauchen diese Unterscheidungsmerkmale offenbar, und Kindertagesstätten, die auf eine vegetarische Kost umstellen, unterstützen diese Entwicklung. Und das Signal, das sie dabei, im Gegensatz zu anderen, aussenden, ist: Wir essen keine Tiere, wir sind die Guten.“
„Aber ist es denn so schlimm, wenn man nach Jahrzehnten, in denen Kinder in den Kitas Fleisch und Fisch angeboten wurde, jetzt mal eine Zeit lang darauf verzichtet?“
„Es wurde ja nicht nur Fleisch angeboten, dazu gab es natürlich auch Kartoffeln und Gemüse ...“
„... aber immer nur als Beilagen. Im Mittelpunkt stand immer, bei Erwachsenen noch mehr als bei Kindern, das gute Stück Fleisch.“
„Es kommt noch ein anderer Aspekt dazu. Der Philosoph Pfaller hat sich mit dieser Frage beschäftigt und gesagt, dass jede Mahlzeit auch ein Ausdruck von Souveränität und Freiheit sei. Ich bestimme, was ich esse, und nicht die Kita-Leitung. Es spricht doch nichts dagegen, zwei Mahlzeiten anzubieten, eine vegetarische und eine nichtvegetarische. Es geht doch auch darum, dass wir unsere Freiheit bewahren.“
„Es ist doch einer zu viel, in diesem Zusammenhang gleich vor dem Verlust der Freiheit zu warnen. Das ist ein typisch deutscher Reflex, weil hierzulande das Fleisch ein Symbol der Freiheit geworden ist, spätestens, seit die Grünen einen Veggie-Day einführen wollten.“
„Ich finde es grundsätzlich auch nicht gut, wenn Nahrungsmittel mit Ideologien verknüpft werden.“
„Es geht beim Essen doch nicht nur um Ideologien, es geht um Klimaschutz, um das Tierwohl, um Arbeitsbedingungen in der fleischarbeitenden Industrie. Es gibt handfeste Gründe dafür, weniger Fleisch zu essen, denken wir nur an den weltweiten Kohlendioxid-Ausstoß.“
„Wenn man das alles teilt, was Sie gesagt haben, muss man sich doch fragen, ob man die Missstände, die sie angesprochen haben, nicht anders ändern kann.“
„Der Weg, mit dem Angebot auch die Nachfrage zu verändern, ist doch ein ganz einfacher. Die Gutsküche in Wulksfelde vor den Toren Hamburgs hat vor einiger Zeit von einer normalen Fleisch-Fisch-Küche auf
vegetarische Hauptgerichte umgestellt, Fleisch und Fisch gibt es nur noch als Beilage. Und siehe da: Die Gäste sind geblieben, und heute bestellen mindestens 80 Prozent rein vegetarische Speisen.“
„Mich interessiert die soziale Implikation, ich halte nichts von Konsumverboten, die soziale Folgen haben. Zum Beispiel, wenn Kinder aus der Kita nach Hause kommen und abends von den Eltern ein Wurstbrot vorgesetzt bekommen. Sollen die sich dann schlecht fühlen? Wir müssen mehr Liberalität zulassen.“
„Das heißt, unsere Ausgangsfrage, ob Kinder Fleisch brauchen, würden Sie mit Ja beantworten?“
„Kinder brauchen Varianz, sodass sie oder ihre Eltern zusammen entscheiden können.“