Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über die (großen) Themen unserer Zeit.

In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob Winnetou noch ein Vorbild sein kann.

Lars Haider: Heute wenden wir uns einem heiklen Thema zu, das in einer scheinbar harmlosen Frage daherkommt. Sie lautet: Kann Winnetou noch ein Vorbild sein? Oder müssen wir sogar noch vorher ansetzen: Darf man Winnetou überhaupt noch Winnetou nennen?

Dieter Lenzen: Wenn es Karl May und seine Figuren wie Winnetou und Old Shatterhand nicht gegeben hätte, hätte ich als kleiner Junge keinen Grund gehabt, viel und lange zu lesen. Karl Mays Abenteuerromane waren für mich der Einstieg in die Welt der Bücher, ich habe alle 42 Bände gelesen, mit wachsender Begeisterung.

Wirklich? Das sind ja richtig dicke Schinken. Wie alt waren Sie, als Sie damit angefangen haben?

Karl May ist einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller.
Karl May ist einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller. © picture-alliance / akg-images | akg-images

Ich war neun Jahre alt, und weil meine Eltern immer saßen und lasen und ich entsprechend leise sein musste, also nicht mit dem Bagger oder so spielen durfte, habe ich auch angefangen zu lesen. Mein Großvater war empört und hat meinen Vater zur Rechenschaft dafür gezogen, dass ich Schundliteratur gelesen habe. Aber es hat genützt, ich bin dank Karl May schnell auch auf andere Autoren aufmerksam geworden, zum Beispiel auf Heinrich Böll.

Ich muss gestehen, dass ich zwar viele Filme von Karl May gesehen, die Bücher aber nicht gelesen habe. Wo sind die literarisch einzuordnen?

Die Texte sind schlecht, was die Sprache angeht, dafür ist der Spannungsaufbau sehr gut, gerade für junge Menschen. Ich habe erstaunt registriert, dass Karl May bis heute offenbar von vielen Leuten gelesen wird, denn sonst könnte es ja die aktuelle Diskussion nicht geben. Wir müssen uns fragen, woher die Kritik eigentlich kommt. Sie wirft vor, dass die Indianer durch die Figur Winnetou nicht adäquat dargestellt, sondern herabgewürdigt werden, sozusagen als die Wilden im Gegensatz zu den zivilisierten Weißen.

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  • Aus meiner Erinnerung war Winnetou in den Filmen immer zivilisierter als jeder weiße Mann, gegen den er dort gekämpft hat, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Die weißen Männer waren eigentlich immer Barbaren und ziemliche Idioten, Old Shatterhand und Old Surehand mal ausgenommen.

    Karl May hat auf einem einfachen Niveau eigentlich versucht, quasi einen Bildungsroman zu schreiben, in dem aus dem vermeintlich Wilden Winnetou mithilfe von Old Shatterhand ein zivilisierter Bürger wird.

    Mein Eindruck war nie, dass Old Shatterhand zivilisierter dargestellt wurde als Winnetou. Beide zusammen standen für mich im Wilden Westen für Frieden, Fortschritt und Gerechtigkeit, den Unterschied, den Sie beschreiben, habe ich persönlich so nicht wahrgenommen. Im Gegenteil: Winnetou ist ohne Old Shatterhand nicht vorstellbar und umgekehrt, die beiden sind doch der Inbegriff von Völkerverständigung.

    Was die beiden machen, ist, böse weiße Männer zu verfolgen und sie daran zu hindern, sich Dinge anzueignen, die ihnen nicht gehören. Sie drücken damit eine Haltung aus, die andere Menschen achtet, soweit sie diese Achtung wert sind, da wird natürlich ein Unterschied gemacht.

    Und die Debatte, die jetzt vom Zaun gebrochen wurde, ist auch deshalb nicht mit der Rassismus-Debatte zu vergleichen, wie das manche tun, weil es sich bei Winnetou um eine Kunst­figur handelt, nicht um einen echten Menschen. Die Leseerfahrung, die bei Karl May mitläuft, ist übrigens, dass die Freundschaft zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe etwas sehr Positives ist.

    Alexander Klaws spielt die Rolle des Winnetou bei den Festspielen in Bad Segeberg
    Alexander Klaws spielt die Rolle des Winnetou bei den Festspielen in Bad Segeberg © Frank Knittermeier | Frank Knittermeier

    Und die Wilden, Ungebildeten und Unzivilisierten sind bei Karl May vor allem weiße Banditen gewesen, gegen die Winnetou kämpfen musste, auch, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.

    Ich hätte deshalb, und aus den von Ihnen genannten Gründen, überhaupt nichts dagegen, wenn sich ein Kind Winnetou zum Vorbild nehmen und es sich zum Beispiel wünschen würde, als Winnetou verkleidet zum Fasching zu gehen. Es würde dann einen Vorkämpfer für das Gute, gegen Gewalt, für Gerechtigkeit und den Erhalt der Natur symbolisieren. Was kann daran falsch sein?

    In der Tat muss das, was Winnetou und sein Freund Old Shatterhand unternehmen, auch aus heutiger Sicht positiv bewertet werden. Als Kind war für mich der Aspekt, dass man zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, ein ganz wichtiger. Ich wollte Partei nehmen für die Personen, die das Schlechte verfolgen, die Frage der Herkunft hat für mich nie eine Rolle gespielt.

    Also wird Winnetou heute für das falsche Thema instrumentalisiert?

    In einem Klima, in dem zu Recht nach Aneignungsformen geschaut wird, die wir als illegitim betrachten, liegt es auf der Hand, dass auch auf solche Romane wie jene von Karl May und auf Figuren wie Winnetou geschaut wird. Ich kann das nicht nachvollziehen, übrigens auch, weil die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand etwas gemeinsam haben mit mittelalterlichen Epen – und die spielen in dieser Kritik überhaupt keine Rolle.

    Was sagen wir also jetzt jungen Leuten, die von Winnetou begeistert sind, die jedes Jahr zu Hunderttausenden zu den Karl-May-Spielen nach Bad Segeberg fahren und die Helden dort bewundern?

    Ich würde Jungen wie Mädchen immer raten: Lest, lesen ist immer richtig, und lest auch Karl May, um euch selbst ein Urteil über diese Debatte bilden zu können. Um etwas kritisieren zu können, muss man es gelesen haben, da helfen diese Festspiele in Bad Segeberg leider wenig, weil dort die Aktionen im Vordergrund stehen und nicht die Bewertungen, die Karl May vornimmt.

    Ich würde vor allem den „Schatz im Silbersee“ empfehlen, aber auch die drei Winnetou-Bände, wobei sich nach einer gewissen Zeit ein sprachlicher Abnutzungseffekt einstellt. Man merkt, auch als junger Leser, dass diese Sprache eher unterkomplex ist. Um in das Lesen zu kommen, ist es aber auf jeden Fall ein guter Weg.

    Ich habe zwischenzeitlich die Comics von Lucky Luke wiederentdeckt, deren Sprache mit den Jahren deutlich witziger und auch etwas anspruchsvoller geworden ist.

    Wobei ich mich gerade frage: Darf man Lucky Luke denn noch lesen? Dort sind die Klischees deutlich stärker ausgeprägt als bei Winnetou ...

    Man darf alles lesen, und mich besorgt es, wenn Menschen verlangen, dass Texte nicht gelesen werden oder sogar umgeschrieben werden sollen, damit sie wieder gelesen werden können. Das unterschätzt das intellektuelle Wahrnehmungsvermögen der Menschen in unserer Gesellschaft beträchtlich und ist ein Zeichen einer patriarchalen Attitüde.

    Es darf gelesen werden, was geschrieben ist, und man muss lernen, den Subtext zu verstehen. Und das ist die Aufgabe des Deutschunterrichts und anderer Fächer, also unserer Schulen, die wir dabei nicht unterschätzen dürfen.