Hamburg. Der Künstler Andreas Karmers hat aus alten Bildern und Dokumenten das Filmepos „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ geschaffen.

Die letzten Reste der alten Hamburger Gängeviertel sind vor einem halben Jahrhundert zu Staub zerfallen – die wenigen vom Kriege verschonten Wohnquartiere mussten damals dem Bau des Unilever-Hauses in der Neustadt weichen. 1964 waren die charakteristischen Viertel mit ihren dunklen Gassen, Hinterhöfen und trüben Twieten, welche die Hansestadt über Jahrhunderte geprägt hatten, für alle Zeiten verloren.

Bis jetzt. Denn nun entstehen die Gängeviertel jeden Sonntag für die staunenden Betrachter neu – im Kino. Der Wiederauf-Baumeister heißt Andreas Karmers. Der 56-Jährige hat etwas schier Unglaubliches geschafft: Er hat aus alten Filmschnipseln, Bildern und Postkarten, die er auf Flohmärkten und in Antiquariaten zusammensuchte, aus Tagebüchern und Erinnerungen das Doku-Drama „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ produziert. Ohne Vorkenntnisse, ohne Budget, ohne Verleih hat der Hamburger einen knapp sechsstündigen Kinofilm über das Gängeviertel gedreht – und verzückt damit Publikum und Kritik gleichermaßen.

Gängeviertel: Viel Lob für das „ausdruckskräftige Bildwerk“

„Ich möchte mich gerne bedanken: Für drei Sonntage, an denen ich mich um 11 Uhr in einen dunklen Saal gesetzt habe, in dem mir mehr als nur ein Licht aufging. Für die Ausdauer, diesen tollen Film produziert zu haben. Für den Mut, nicht kurze Zitatschnipsel, sondern vollständige Texte lesen zu lassen. Und für all das, was Worte und Bilder mit mir beim Zuschauen gemacht haben“, schrieb ein Zuschauer. Eine andere lobte das „unabhängige, temperamentvolle, ausdruckskräftige Bildwerk“.

Der Filmkritiker Peter Clasen schreibt: „In früheren Jahren der Berlinale gab es regelmäßig den einen großen Klotz, einen gesellschaftspolitisch relevanten Film, den alle sehen wollten und der eifrig diskutiert wurde – der rund neunstündige Shoah (1985) von Claude Lanzmann oder der rund siebenstündige „Satanstango“ (1994) von Béla Tarr waren solche Mega-Ereignisse. Von ähnlichem Kaliber ist nun „Wir waren das dunkle Herz dieser Stadt.““ Der Film komme praktisch aus dem Nichts, wundert sich der Cineast.

Die alten Stadtviertel der Gänge erwachen im Film wieder zum Leben, hier die Spitalerstraße 1906.
Die alten Stadtviertel der Gänge erwachen im Film wieder zum Leben, hier die Spitalerstraße 1906. © staatsarchiv hamburg | staatsarchiv hamburg

Karmers hat zehn Jahre auf diesen Film hingearbeitet

Das stimmt. Und stimmt auch wieder nicht. Denn Karmers hat zehn Jahre auf diesen Film hingearbeitet. Öffentlich machte der Künstler sein Herzensprojekt über eine Sammelaktion auf der Crowd-Funding-Plattform Startnext. Und fand viele Förderer: „Es gilt einen Künstler zu unterstützen, der sich wie kaum ein Zweiter in die Abgründe der hamburgischen Geschichte stürzt, um dem Vergessen zu entreißen, was es an großartigen, komplexen und abgründigen Lebenswelten dort einmal gegeben hat“, trommelte damals Ulrich Tukur. Ein anderer Künstler schrieb: „Ich habe ganz großen Respekt vor dem Mann, der lebt unter einfachsten Verhältnissen, um solche Projekte durchzuziehen – die immer dem Gemeinwesen nützen und weniger ihm selbst. Für mich ist der ein Hamburger Held.“

Die Werbebotschaften fielen auf fruchtbaren Boden: Binnen drei Monaten sammelte Karmers im Jahr 2015 von 105 Unterstützern 25.725 Euro ein. „Der Film soll ein Hamburg in die Erinnerung zurückrufen, das nicht mehr existiert. Er soll darüber Auskunft geben, unter welchen Umständen die Hamburger Altstadt beseitigt wurde“, versprach er in seinem Aufruf. Damals kalkulierte Karmers mit Kosten von 50.000 Euro und einer Länge von 100 bis 120 Minuten. „Die Fertigstellung des Films ist für das erste Quartal 2016 geplant. Erfahrungsgemäß ist es nicht ausgeschlossen, dass sich Verzögerungen ergeben können“, warnte er seine Sponsoren. Verzögerungen ist eine nette Untertreibung. Es wurde 2022. Zugleich ist das Gängeviertel-Epos auf insgesamt 300 Minuten angewachsen.

Die Geschichte erstreckt sich über ein Jahrhundert, angefangen 1880

Je weiter sich Karmers in das Projekt einarbeitete, umso größer wurde sein Film. Er erzählt die Geschichte vom Untergang der Gängeviertel am Beispiel einer Familie über drei Generationen, es ist die Geschichte seiner Familie: Karmers’ Urgroßmutter besaß einen Tabakladen im Gängeviertel, der Film hangelt sich am Leben seines Großvaters Walter Wed­stedt entlang. „Meine ganze Sippe hat dort gelebt. Die Gängeviertel haben mich schon immer fasziniert“, sagt Karmers. Mehr als 100.000 Menschen lebten einst in Hamburgs Altstadt, trotzdem sind die Spuren fast getilgt.

Den Film „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ hat Karmers, wie er selbst sagt, „etwas hochgejazzt und um fiktive Elemente“ bereichert. „Jetzt ist es mehr eine Tragödie.“ Die Geschichte erstreckt sich über ein Jahrhundert, angefangen in der Zeit der Bau der Speicherstadt 1880. Das Gängeviertel, das heute pittoresk, quicklebendig und wildromantisch erscheint, war damals ein Elendsviertel, ein Slum. Als 1892 dort die Cholera ausbrach, schrieb der aus Berlin angereiste Mediziner Robert Koch erschüttert an den Kaiser: „Eure Hoheit, ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunde Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier.“

Nach und nach veränderten Alt- und Neustadt radikal ihr Gesicht

Es war aber nicht nur die Sorge um die Hygiene, die der damals einsetzende Abbruch der Gängeviertel beförderte – es war zugleich pure Spekulation. Auf den Trümmern der Gänge entstanden erst Teile der Speicherstadt, dann die Mönckebergstraße und das Kontorhausviertel. Nach und nach veränderten Alt- und Neustadt radikal ihr Gesicht. Auch politische Gründe spielten eine Rolle: Die Nazis schleiften „Klein-Moskau“ nach der Machtübernahme.

Ein Hof in der Niedernstraße, heute ist hier das Kontorhausviertel.
Ein Hof in der Niedernstraße, heute ist hier das Kontorhausviertel. © staatsarchiv hamburg | staatsarchiv hamburg

„Die Stadt Hamburg selbst hat storybedingt mehr Platz bekommen“, beschreibt Karmers. Baudirektoren, Dichter und Bewohner kommen zu Wort, erzählen oder empören sich über die Viertel. Die zentrale Figur aber bleibt Karmers’ Großvater, der erst ein „Roter“ ist und dann zum Nazi-Schläger wird. In ihm spiegeln sich Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts. „Der Wandel des Ich-Erzählers vom roten Barrikadenflegel zum SA-Mann und letztlich auch von dort in eine unpolitische Position ließ sich nicht in zehn Minuten runterbrechen, wenn es nachvollziehbar bleiben soll.“

Geld verdienen wird der 56-Jährige mit seinem Meisterwerk aber kaum

Alle Verzögerungen, Veränderungen und Verlängerungen haben ihm seine Förderer verziehen. „Die Startnext-Community ist gefühlt zu 60 Prozent dabeigeblieben“, sagt Andreas Karmers. Ein paar Menschen seien abgesprungen, hätten aber ihre Spende zurückbekommen. Die damals ausgelobten Dankeschön-Prämien hat Karmers verschickt, nur die DVD ist noch nicht erstellt. „Die nehme ich in Angriff, sobald sich Einnahmen der Kinokasse auf dem Konto wiederfinden.“ Geld verdienen wird der 56-Jährige mit seinem Meisterwerk aber kaum. „Der Film ist auf alle Fälle ein Verlustgeschäft mit Ansage“, sagt Karmers. Eben eine Herzensangelegenheit. Die Kosten liegen demnach „bummelig bei 130.000 Euro“. „Die fehlenden Mittel habe ich auf dem Bau und sonstwo verdient“, sagt er. Auch das habe das Projekt verzögert.

Andreas Karmers hat keinen Lebenslauf für die Galerie: „Meine Bio ist eher rustikal“, sagt er. „Keine Kulturförderprogramme, mehr die groben Branchen wie Seemann, Türsteher, Bauarbeiter.“

Am Ende retteten Stiftungen das zehnjährige Projekt

Lange Jahre war er als Maler fest angestellt – und im UKE „zum Schleppen von Kisten, Wäsche und Patienten“. Karmers beschreibt seinen Werdegang trocken: „Ich muss mich nicht wichtigmachen mit hochgejazzter Erfolgskurve in Sachen Kunst.“ Dabei hat er sehr wohl eine künstlerische Vita vorzuweisen: Sein kleines Hörbuchlabel „Karmers Hamburg“ landete mit dem „Heeresbericht“ von Edlef Köppen, das der WDR als „monumentales, außergewöhnliches Hörbuch“ feierte, einen Erfolg. Auch Karmers Vertonung der letzten freien „Vorwärts“-Ausgabe machte Schlagzeilen.

Andreas Karmers finanzierte seinen Film mit Malerarbeiten.
Andreas Karmers finanzierte seinen Film mit Malerarbeiten. © Privat

Trotz etlicher Förderer und Fürsprecher blieb die Finanzierung des Films bis zuletzt kippelig: „Ohne die Stiftung Schleswig Holstein Musik Festival wäre der Film immer noch nicht am Start“, sagt Karmers. Fertig sei er schon lange gewesen, aber für die nötigen Bild-und Tonkorrekturen fehlten die Mittel. Der Zufall kam Karmers zur Hilfe: Die Stiftung organisierte Brahms zu Ehren Musikveranstaltungen und stieß auf das Projekt, förderte es. Schließlich kamen die Stiftungen Al­fred Toepfer – Stiftung F.V.S. und Claussen-Simon-Stiftung hinzu. Zudem investierte das „Deutsches Stiftungszentrum“ ebenso wie Günther Jauch, der schon frühere Projekte von Karmers förderte.

Der Künstler kann begeistern: Der bekannte Schauspieler Hellmut Krauss hat vor seinem Tod die Rolle des Oberbaudirektors eingesprochen, Till Hagen übernimmt die Hauptrolle, Ulrich Tukur engagiert sich in der Rolle eines „Virgilanzbeamten“, auf Deutsch „Spitzel“. Als Kameramänner gewann Karmers Knut Weber und Bernd Meiners, der schon mit Hermine Huntgeburth und Georg Stefan Troller drehte. Den Schnitt übernahm Janne Jürgensen.

Einen Auftritt bei Filmfestivals kann sich der Künstler nicht leisten

Karmers hegt die stille Hoffnung, dass sich sein Husarenstück vielleicht „doch noch rechnet über die Jahre, solange ich die Lizenz-Rechte an dem gesamten Bildmaterial halte“. Auch einen Export ins Ausland kann er sich vorstellen – doch dafür müsste er Untertitel herstellen. „Eine weitere Investition. Aber auch da kommt mir der Zufall bestimmt zur Hilfe“, ist sich Karmers sicher. Einen Weg auf Filmfestivals wird „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ nicht finden. Der Grund: Es ist schlichtweg zu teuer.

„Von einem Filmpreis träume ich nicht. Um an Festivals teilnehmen zu können, müsste ich erstens in der Regel Untertitel haben, und zudem kostet jede Teilnahme Gebühren, die sich läppern“, sagt Karmers. Er traut seinem sechsstündigen Film auf einem Festival auch keine allzu großen Chancen auf Aufführung zu. „Das spare ich mir lieber. Die Gebühren sind auch bei Ablehnung weg.“

Gängeviertel: Das verrückte Werk stößt auf großes Interesse

Aus den öffentlichen Kulturetats gab es keinen Euro für Karmers. Bei der Filmförderung blitzte er früh ab. „Als ich startete, waren alle Gelder, die es noch im Förderdschungel irgendwo gegeben hätte, obsolet – denn ab der ersten gefallenen Kameraklappe ist keine Förderung mehr möglich.“ Karmers trägt es mit Fassung – und Ironie: „Auch wenn ich finanziell mit dem Gängeviertel-Film baden gehen sollte – die Hamburger Steuerzahler sind ausnahmsweise nicht mit im Boot.“

Dafür gehen sie ins Kino: Das verrückte Werk stößt auf großes Interesse, rund 2000 Karten wurden schon verkauft. Den Beginn machten das Zeise-Kino und das Metropolis im Oktober. Weitere Aufführungen folgten und werden folgen. „Die Zuschauer spüren das Herzblut von Regisseur Andreas Karmers in dieser wunderbaren Dokumentation über die Gängeviertel“, sagt Matthias Elwardt, Geschäftsführer des Zeise-Kinos. „Karmers ist bei jeder Vorführung im Zeisekino zu Gast. Die Besucher schätzen das Gespräch mit ihm sehr und tragen dieses besondere Kinoerlebnis weiter.“

Walter Wedstedt in „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“.
Walter Wedstedt in „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“. © Andreas Kramers | Andreas Kramers

Wegen des großen Erfolges läuft „Wir waren das dunkle Herz dieser Stadt“ im Januar und Februar weiter. Die drei Teile laufen einzeln an den Sonntagen im Januar (8., 15., 22.) um 11 Uhr und als Trilogie am 12. Februar. „Zur Stärkung wird es Buletten und Stullen geben“, verspricht Elwardt. Auch am 19. und 26. Februar wird es Vorführungen im Zeise geben. Zudem soll das sechsstündige Werk ab 22. Januar im Magazin zu sehen sein. Sonntag um 15 Uhr und Dienstag, 24.1. um 18 Uhr. In den darauffolgenden Wochen dann die Teile 2 (29.1. und 31.1) und 3 (5.2. und 7.2). „Ich versuche für das Jahr 2023 weitere Aufführungsorte zu finden“, sagt Karmers. „Ich bin immer anwesend. Erzähle den Leuten etwas und beantworte Fragen, wenn es welche gibt. Sechs Stunden an drei Sonntagen. Ich bin dabeigeblieben. Man muss sich nur trauen, nich?“