Harburg. Stadtmuseum präsentiert Replik eines Tastmodells von 1855 für den erblindeten Monarchen. Die Kopie wird später auf der Schlossinsel ausgestellt
Seit Jahren plant das Stadtmuseum Harburg eine Filiale im historischen Gewölbekeller unter dem Westflügel des einstigen Harburger Schlosses. Die Räumlichkeiten sind aktuell noch eine Baustelle. Ein besonderes Ausstellungsstück steht dagegen schon bereit: die Replik eines Modells vom Harburger Hafen aus dem Jahr 1855. Harburg gehörte damals zum Königreich Hannover. Unter König Georg V. (1819–1878) wurde aus den mittelalterlich anmutenden sternförmigen Gewässern, die die Zitadelle umgaben, ein moderner Dockhafen (mit Schleuse, ohne Tideeinfluss) geworden. Da der König als Jugendlicher erblindete, wurde ein dreidimensionales Gipsmodell des Hafens angefertigt, mit dem Georg V. sein neues Tor zur Welt ertasten konnte.
„Der Reliefplan lagerte zusammen mit Reliefkarten von Deutschland und Europa sowie Modellen etwa vom Harz und von Werftanlagen an der Nordseeküste in der königlichen Privatbibliothek in Hannover“, sagt Harburgs Stadthistoriker Jens Brauer. „Auf Anfrage des Harburger Museumsvereins wurde das Tastmodell bereits 1908 als Dauerleihgabe an das Harburg-Museum übergeben. Es ist bis heute hier.“ Brauer zählt das schwere, 1,70 mal 1,30 Meter große Hafenmodell zu den besonders wertvollen Sammlungsgegenständen des Museums. Denn es dokumentiert einen immens wichtigen Entwicklungsschritt Harburgs: „Der Hafen war – zusammen mit dem Eisenbahnbau – der Dreh- und Angelpunkt der Stadtgeschichte im 19. bis Anfang 20. Jahrhundert.“
Im Mai 1848 erhielt Harburg einen Bahnanschluss und seinen ersten Bahnhof
Im Mai 1848 erhielt Harburg einen Bahnanschluss und mit dem Hannoverschen Staatsbahnhof seinen ersten Bahnhof. Direkt am Hafen. Den ließ Georg V. im Rahmen eines großen Infrastrukturprojekts zu einem leistungsfähigen Güterumschlagplatz ausbauen. Aus den Zitadellengräben war nach den Plänen von Johannes Heinrich Blohm (1799–1851), an den heute die Blohmstraße im Binnenhafen erinnert, ein moderner Binnenhafen geworden. Mit zwei neuen Hafenbecken (Verkehrs- und Überwinterungshafen), mit einer großen Schleuse zur Elbe sowie den beiden Kanälen westlich und östlich des neuen Bahnhofs.
Hier konnten die Waren, durch die Schleuse vom Gezeitenstrom der Süderelbe getrennt, direkt vom Schiff in Eisenbahnwaggons (oder umgekehrt) verladen werden. Der Hafen wurde zum Freihafen. Das Königreich Hannover trat 1854 dem Zollverein bei, so dass ein großer Binnenmarkt fast ohne Zollschranken entstand.
1908 waren in Harburg 70 Fabriken, Werften und große Gewerbeunternehmen aktiv
Das machte den Harburger Hafen attraktiv. Industrie siedelte sich an, angezogen von der guten Infrastruktur und den wirtschaftlichen Vorteilen. Klangvolle Namen wie die Phoenix Gummiwerke (gegründet 1856), die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie (gegründet 1856 als Harburger Gummi-Kamm-Compagnie) oder die Pflanzenölverarbeiter Thörl (1883), HOBUM (1896) und der Harburger Mühlenbetrieb von Emil Scheller (1883) sowie Harburg Freudenberger Maschinenbau (1855/56) sind heute noch in Harburg aktiv oder im Stadtbild vertreten. In dieser Zeit wurde die 5000-Einwohner-Stadt zur Industriestadt. 1908 waren in Harburg 70 Fabriken, Werften und große Gewerbeunternehmen aktiv. Der Hafen war das Herz der Industrie. Sie allein beschäftigte mehr als 15.000 Arbeiter.
Die Erfolgsgeschichte Harburgs verdichte sich in der Reliefkarte von 1855, sagt Brauer. Da das Original aus Gips keinen Besucherverkehr verträgt, entstand die Idee, sie als robustes Kunststoffmodell in der Museumsfiliale auf der Harburger Schlossinsel zu zeigen. Genau an dem Ort, den sie rund 170 Jahre früher abbildet. Die Arbeiten am Duplikat begannen im März/April 2020. Zunächst wurde das Original gescannt und aus Tausenden Fotos ein digitales, dreidimensionales Modell erstellt. Es bildete die Basis für die Kunststoffform. Aus ihr fertigten die Restauratorinnen Hanna Johann und Bettina Heine das robustere Duplikat des Tastmodells. Sie glätteten zunächst die Strukturen und gestalteten anschließend mit Acrylfarben die Wasser- und Landflächen, Umschlagplätze und Gebäude in den Farbtönen des Originals. Sie verliehen mit feinen Pinseln den Gebäuden Fenster, Tore und Türen, pausten die Beschriftung der Straßen durch.
Vor einigen Wochen ist die Replik der Reliefkarte vollendet worden
Vor einigen Wochen ist die Replik der Reliefkarte vollendet worden. Der Ort, für den sie angefertigt wurde, ist längst noch nicht bezugsfertig. Die Filiale des Stadtmuseums auf der Schlossinsel sollte zunächst allein im Gewölbekeller des Westflügels entstehen, dem einzig erhaltenen Gebäude des Harburger Schlosses. Der Keller besteht aus vier Räumen; einer von ihnen ist fast unverändert erhalten geblieben. Er stammt aus dem Jahr 1440 und ist damit der älteste erhaltene profane Raum Hamburgs. Der Hauptteil der Bauarbeiten war im Jahr 2019 vorgesehen. Doch Voruntersuchungen förderten bis dato unbekannte historische Bausubstanz ans Licht, so dass umgeplant werden musste. Zudem gab es Probleme mit der Statik.
Das Gebäude mit dem äußerlichen Charme eines älteren Mehrfamilienhauses ist bis zum zweiten Stockwerk in seiner mittelalterlichen Bausubstanz erhalten. Inklusive bislang verborgener Fensteröffnungen und Laibungen. Sogar ein großes zentrales Doppelfenster mit Schmiedegitter wurde wiederentdeckt. Die statische Abfangung des historischen Gemäuers kann entgegen der ursprünglichen Planung nur durch eine eingestellte Stahlskelettkonstruktion erfolgen. Für die Statik und um die entdeckten Relikte präsentieren zu können sollen nun die beiden leerstehenden Erdgeschosswohnungen oberhalb des Gewölbes in die Museumsfiliale integriert und dazu die Zwischendecke entfernt werden.
Dependance des Stadtmuseums am Standort der Keimzelle Harburgs
Daraus ergeben sich Mehrkosten von gut 1,4 Millionen Euro. Auf Antrag der SPD und der Grünen bewilligte die Bürgerschaft im Mai 2022 das Geld. Insgesamt kostet die Herrichtung der nunmehr zweigeschossigen Museumsfiliale rund drei Millionen Euro. Die Finanzierung ist gesichert, denn es sind weitere Mittel zugesagt, unter anderem vom Bund, dem Bezirk Harburg, dem Hamburger Denkmalschutz, dem Stadtmuseum. Dessen Geschäftsführer Thorsten Römer ist zuversichtlich, dass zum Sommer 2023 weitergebaut werden kann: „Der erste Schritt wird der erweiterte Rohbau sein, der zweite der tatsächliche Ausbau zur Museumsfiliale.“
Jens Brauer hat schon konkrete Vorstellungen darüber, wie die umlaufende Galerie im Erdgeschoss und der darunter liegende Schlosskeller mit seinen Gewölben bespielt werden könnten. Wie seine Kollegen kann er es kaum erwarten, die Dependance des Stadtmuseums am Standort der Keimzelle Harburgs für die Besucher herzurichten. Dass die Besucher, wie damals Georg V., die Reliefkarte ertasten werden können, mag Brauer allerdings noch nicht versprechen.