Hamburg. Die Exhumierung eines Leichnams kann über die Todesursache Klarheit bringen. In einem Fall wurden sogar 134 Gräber geöffnet.
Der Säugling liegt in seinem Bett. Reglos. Gerade mal neun Wochen ist er alt geworden. Erst hieß es, dass es sich wohl um den sogenannten plötzlichen Kindstod handelte. Also eine Todesursache, deren Gründe lange unerforscht waren — die aber früher gar nicht so selten vorkam. Die Eltern legen einen gesunden Säugling abends ins Bett, und morgens ist er tot. Man versteht nicht, wie das sein kann.
„In jener Zeit, also in den 90er-Jahren, schien der plötzliche Kindstod ein unerklärlicher Schicksalsschlag zu sein“, erklärt Rechtsmediziner Klaus Püschel im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Es galt als etwas, was eben in allen Familien passieren kann: traurig, aber wahr. Also wurde dieser neun Wochen alte Säugling normal beerdigt. Es gab zunächst keinen Verdacht, dass da etwas Verdächtiges passiert sein kann.“
Plötzlicher Kindstod? Arzt entdeckt Hinweis auf Tötungsdelikt
Doch ein aufmerksamer Kinderarzt gab den entscheidenden Hinweis, dass es sich um ein Tötungsdelikt handeln könnte. Und eine spätere Exhumierung brachte den Beweis. Dies ist einer von mehreren außergewöhnlichen Fällen aus der Rechtsmedizin, bei der eine sogenannten Exhumierung eines Leichnams im Nachhinein Klarheit bringen kann: sei es über eine Todesursache — oder um die Identität eines Verstorbenen zu klären.
„Es war wirklich beeindruckend, wie der Mediziner reagiert hat“, erzählt Püschel. „Er hat die Todesanzeige über diesen neun Wochen alten Säugling gelesen. Und bei dem Familiennamen erinnerte er sich sofort daran, dass er drei Jahre zuvor ein Geschwisterkind behandelt hatte. Damals hatte er diagnostiziert, dass das Kind misshandelt worden sein muss. Den Eltern war daraufhin das Sorgerecht für das Kind entzogen worden.“ „Und nun, als er von dem toten Säugling las, vermutete er Parallelen?“, fragt Mittelacher. „Also dass auch dieses Baby misshandelt worden sein könnte, wie das andere drei Jahre zuvor?“ „Genau. Die Polizei fand die Angaben des Kinderarztes schlüssig genug. Also wurde der Säugling nach einwöchiger Liegezeit aus dem Erdgrab exhumiert.“
In der Rechtsmedizin wurden bei der Obduktion Verletzungen festgestellt, die eindeutig ein Schütteltrauma belegten — also den gewaltsamen Tod eines Säuglings durch Schütteln. Der Vater, der dafür verantwortlich war, wurde zu sechs Jahren Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie Misshandlung von Schutzbefohlenen verurteilt.
Baby getötet: Exhumierung liefert Beweis
„Also hat hier die Exhumierung ganz klar dazu beigetragen, ein Tötungsdelikt an einem Baby aufzudecken“, fasst Mittelacher zusammen. „Großartig!“ „Und in einem anderen Fall konnten wir rund 25 Jahre, nachdem ein totes Neugeborenes beerdigt wurde, klären, wer die Mutter ist“, erläutert Püschel. „Ursprünglich wurde das Baby, das in einer Plastiktüte auf einem Parkplatz gefunden wurde, bestattet, ohne dass seine Identität geklärt wurde. Als sich viele Jahre später der Verdacht gegen eine Frau erhärtete, ihr Neugeborenes ausgesetzt zu haben, wurde eine Exhumierung angeordnet. Eine anschließende DNA-Analyse hat Klarheit gebracht.“
In einem anderen Fall hätte nicht viel gefehlt, und ein Verbrecher wäre davongekommen: Ein 55-jähriger Mann wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden. Der Leichnam war schon deutlich durch Fäulnis verändert. Die Polizei ging von einem natürlichen Tod aus, es folgte die Erdbestattung. Doch später wurden Aussagen bekannt, nach denen der Mann vor seinem Tod zusammengeschlagen worden sein soll. Er wurde doch 55 Tage nach seiner Bestattung exhumiert und der Leichnam seziert. Dabei wurden unter anderem ein Schädelbruch sowie diverse weitere schwere Verletzungen festgestellt. Die Todesursache war ein Schädelhirntrauma. Der Täter konnte ermittelt werden und gestand den Übergriff vor Gericht.
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Mörderischer Krankenpfleger im Norden: 134 Gräber wurden geöffnet
„Kommen wir jetzt zu einem ganz besonderen Fall, in dem es nicht zu einer Exhumierung kam, sondern zu 134!“, sagt Mittelacher. „Es ist der Fall eines mörderischen Krankenpflegers, der über Jahre im Klinikum Oldenburg und dann später in einem Krankenhaus in Delmenhorst Menschen tötete. Es ging um den ungeheuren Verdacht, dass er schwerkranken Patienten Medikamente spritzte, um sie dann zu reanimieren und gewissermaßen als ,Retter’ und ,Held’ dazustehen.“
„In vielen Fällen hat die Reanimation geklappt — in sehr vielen auch nicht“, erinnert sich Püschel. Letztlich wurde dieser Krankenpfleger in mehreren Prozessen wegen Mordes in insgesamt 87 Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. „Aber bevor ihm die Morde nachgewiesen werden konnten, mussten zahlreiche Verstorbene exhumiert werden, um an den Leichnamen toxikologische Befunde erheben zu können“, erläutert der Rechtsmediziner.
„Insgesamt kam es zu 134 Graböffnungen auf 67 unterschiedlichen Friedhöfen. Die Körper der Verstorbenen mussten geborgen und deren Organmaterial dahingehend überprüft werden, ob sich bestimmte Wirkstoffe — also beispielsweise potenziell tödliche Medikamente nachweisen lassen.“ Das Ergebnis sprach für sich.