Hamburg. Der frühere Finanzminister Manfred Lahnstein über Kanzler-Charaktere, Krisen, längere Lebensarbeitszeiten und die „letzte Generation“.

Kann man einen großen Bogen schlagen von Helmut Schmidt, dem Ur-Hanseaten im Bundeskanzleramt, zu seinem Nachnachfolger Olaf Scholz? Aus dem zigarettenrauchgeschwängerten Treibhaus der Siebziger zu den menschgemachten Katastrophen der frühen 2020-er Jahre? Dass das geht, beweist ein Mann, dessen politische Karriere und dessen glockenklarer Geist als Bürger und „Nach-Denker“ viele Jahrzehnte umfasst. Prof. Manfred Lahnstein ist der letzte Zeuge dieses gewagten Vergleichs.

Mit gerade 85 Jahren hat er überraschende Perspektiven zu bieten. Schmidt hat Lahnstein zum Chef des Kanzleramtes gemacht. Von dort zog der im Rheinland geborene und später nach Hamburg umgesiedelte Kosmopolit ins Bonner Finanzministerium ein und übernahm kurzzeitig auch das Wirtschaftsressort. Ein Gespräch über die Krisen, ihre Charaktere, Zuwanderung, Antisemitismus und die Frage, wie Lahnstein die "letzte Generation" der "Klimakleber" einschätzt.

Hamburger Abendblatt: Herr Prof. Lahnstein, Helmut Schmidt hat Sie einst zum Chef des Bundeskanzleramtes gemacht. Wie schlägt sich sein Nachnachfolger Olaf Scholz?

Manfred Lahnstein: Noch keine Bundesregierung hatte so viele Probleme so plötzlich vor der Brust wie die von Olaf Scholz. Und ich verfolge das seit 1949. Da waren brutale Änderungen gegenüber dem Koalitionsvertrag nötig. Ich finde, Olaf Scholz macht das mit Bedacht und Umsicht, manchmal vielleicht etwas zurückhaltend. Aber ich bin mir sicher, dass er häufiger in der Öffentlichkeit ist, als es seine Vorgänger am Anfang waren, zum Beispiel auch Angela Merkel.

Olaf Scholz: „… sonst haben wir am Ende nur noch Automaten“

Sie spielen an auf den Vorwurf, er kommuniziere nicht da, wo er es müsste.

Lahnstein: Olaf Scholz ist nun kein hinreißender Redner, aber ein guter! Schauen Sie mal, wie oft er im Bundestag auftritt, wie oft er unter die Leute geht: praktisch jeden Tag. Er ist diskussionswillig. Olaf Scholz ist manchmal ein bisschen hamburgisch. Das darf er sein, sonst verlieren Politiker ja jeden Charakter. Dann haben wir am Ende nur noch Automaten da stehen.

Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Chef des Bundeskanzleramtes und späteren Wirtschafts- und Finanzminister Manfred Lahnstein im Jahr 1981.
Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Chef des Bundeskanzleramtes und späteren Wirtschafts- und Finanzminister Manfred Lahnstein im Jahr 1981. © Imago/Sommer

Helmut Schmidt hatte in der Bekämpfung des Terrors der Roten Armee-Fraktion (RAF), einer Energiekrise (Öl) und der Staatsverschuldung enorme Herausforderungen. Bei Scholz sind es jetzt unter anderem der Angriffskrieg Wladimir Putins in der Ukraine, die Energiekrise und möglicherweise eine Rezession. Was erwarten Sie von Scholz jetzt politisch und militärisch?

Lahnstein: Was militärisch zu erwarten ist, muss nicht nur mit der Ukraine, sondern in und mit der Nato abgestimmt werden. Die Bundesregierung war am Anfang zögerlich, das ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte gut zu verstehen. Das hat sich nun geändert, wobei wir feststellen müssen, dass die Bundeswehr sich nicht gerade im besten Zustand befunden hat. Außenpolitisch wird noch einiges auf uns zukommen. Unterstellen wir mal einen Waffenstillstand, ob kurzzeitig oder dauerhaft. Dann geht es an den Wiederaufbau – das ist kein Zuckerschlecken, das ist eine ganz große Aufgabe.

Sie waren Finanz- und kurzzeitig Wirtschaftsminister. Jetzt bekleiden mit Christian Lindner (FDP) und Robert Habeck (Grüne) zwei Männer diese Ämter, die unterschiedlicher kaum sein können. Was gefällt und missfällt Ihnen an beiden?

Lahnstein: Eine Dreierkoalition ist substanziell anders als eine mit einem großen und einem kleinen Partner. Herr Habeck und Herr Lindner hätten sich bei ihrem Amtsantritt nicht träumen lassen, welche Aufgaben sie jetzt erledigen müssen. In dieser Phase die Koalition beisammenhalten, das ist nicht einfach. Übrigens: Alle sogenannten Sonderfonds, ob für Corona, die Energiekrise, die Ukraine-Hilfe oder die Verstärkung der Bundeswehr – das sind alles Schulden. Die kann man so schön nennen wie man will, das sind Kreditaufnahmen des Bundes. Man wird vom Finanzminister Lindner nicht verlangen können, dass er das in wenigen Jahren wieder abbaut. Und überlegen Sie mal, wann ein Wirtschaftsminister zuletzt vor so schwierigen energiepolitischen Fragen gestanden hat. Auch das wird nicht von heute auf morgen zu strahlenden Erfolgen führen. Herr Habeck muss sich nicht die Fehleinschätzungen zu den Gaslieferungen aus Russland anrechnen lassen. Das waren die Vorgänger.

Warum wir alle länger arbeiten müssen

Aufgrund der demografischen Situation in Deutschland und wegen eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels brauchen wir Zuwanderung. Sie kennen sich in Israel hervorragend aus, einem speziellen Einwanderungsland. Kann man von dort, kann man von anderen Ländern Instrumente einer gelungenen Zuwanderungspolitik lernen?

Lahnstein: Der demografische Wandel ist lange vorhergesagt worden. Die Politik hat falsch und viel zu zögerlich darauf reagiert. Jetzt haben wir den Schlamassel, um es mal volkstümlich auszudrücken. Wir werden alle verfügbaren Ressourcen erst einmal im eigenen Land ausschöpfen müs-sen. Da können wir diskutieren, so lange wir wollen: Wir müssen die Lebensarbeitszeit verlängern. Anders kommen wir demografisch nicht ins Gleichgewicht.

Wie lockt man Fachkräfte an?

Lahnstein: Kommunikationsfachleute und Berater haben wir mittlerweile genug, aber nicht genügend Klempner und Pflegefachkräfte. Wir müssen gezielte Einwanderung anstreben. Dafür gibt es nur ein Mittel, nämlich Deutschland so attraktiv zu machen, dass die, die da kommen sollen, auch kommen wollen. Ein Ingenieur aus Indien kann genauso gut nach Kalifornien gehen, nach England oder Spanien. Israel ist eine einmalige Ausnahme, weil jeder, der jüdischen Glaubens ist, dorthin einwandern kann – ohne jede Formalität. Es gibt jedoch in Israel auch eine erstklassige Ausbildung, eine große Ballung an hochgebildeten Menschen. Das produziert Resultate im Standortwettbewerb.

„Der Antisemitismus ist das älteste Vorurteil, das ich kenne“

Sie waren als erster Deutscher und Nicht-Jude Aufsichtsratsvorsitzender (Chairman) der Universität Haifa, die sich für die Verständigung zwischen Juden und Arabern einsetzt. Wie ist Ihr Blick auf Deutschland und den Antisemitismus, der uns nach wie vor umgibt, sei es bei erschreckenden Anschlägen wie in Halle, bei einzelnen Gewalttaten wie dem Angriff auf einen jüdischen Studenten in Hamburg oder den mutmaßlich judenfeindlichen Aktionen von Künstlern?

Lahnstein: Der Antisemitismus ist das älteste Vorurteil, das ich kenne, eines, das immer wieder an Bedeutung gewonnen hat. Der Antisemitismus ist seit 2000 Jahren nicht verschwunden. In unserem Kulturkreis mag der christliche Antisemitismus zurückgegangen sein, aber so ganz ist er aus den Köpfen vieler Bürger noch nicht. Dann kommt der kulturelle, der rassistische Antisemitismus hinzu. Es bleibt eine Daueraufgabe, dagegen anzugehen. Mich interessiert relativ wenig, ob der Antisemitismus in der Mitte der Bevölkerung von 12 auf 13 Prozent steigt. Er ist da und muss bekämpft werden!

4.10.2018 in Jerusalem: Bundeskanzlerin Angela Merkel (M, CDU) erhält im Israel-Museum die Ehrendoktorwürde der Universität Haifa von Manfred Lahnstein.
4.10.2018 in Jerusalem: Bundeskanzlerin Angela Merkel (M, CDU) erhält im Israel-Museum die Ehrendoktorwürde der Universität Haifa von Manfred Lahnstein. © Picture Alliance/Ilia Yefimovich/dpa

War es richtig, dass die Hochschule für bildende Künste in Hamburg auch nach dem Eklat bei der documenta fifteen die Gruppe ruangrupa verabredungsgemäß für eine Gastdozentur eingeladen hat?

Lahnstein: Ich fand den Ansatz der documenta schon falsch. Ich konnte von Anfang an nichts mit dieser Sicht auf die Kunst. Dass zwei von dieser Gruppe jetzt in Hamburg sind, regt mich nicht besonders auf.

Im Mai ist das ehemalige Pink-Floyd-Mitglied Roger Waters bei seiner Welttournee in Hamburg zu Gast. Er unterstützt die antiisraelische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions). Sollte man das Konzert boykottieren?

Lahnstein: Ich kenne Herrn Waters nicht. Der Bundestag hat zu BDS erfreulich klar Stellung genommen. Das ist auch meine Meinung.

Der Bundestag hat BDS antisemitisch genannt und mit Mehrheit begrüßt, dass Kommunen BDS-Anhängern eine Unterstützung und auch eine Raumvermietung verweigern können.

Lahnstein: Ich bin dafür, jeden Einzelfall genau zu prüfen.

Bornplatzsynagoge: Eine lebhafte Diskussion

So könnte die neue Bornplatz-Synagoge einmal aussehen: Eine von vier Varianten in rotem Stein.
So könnte die neue Bornplatz-Synagoge einmal aussehen: Eine von vier Varianten in rotem Stein. © Freie und Hansestadt Hamburg

Im Grindelviertel gibt es eine Debatte um den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge. Was ist Ihre Haltung dazu?

Lahnstein: Das ist eine lebhafte und faire Diskussion. Nun haben wir das erste Gutachten, das die Machbarkeit bescheinigt. Ich sollte der jüdischen Gemeinde keinen Rat geben. Aber eine Debatte über die Gemeinde hinaus mit den Anliegern und interessierten Bürgern halte ich für sinnvoll. Es soll schließlich auch für die Stadt ein wichtiger Akzent gesetzt werden.

Sie sind gerade 85 geworden. Unter den jungen Erwachsenen nennt sich eine Bewegung von Klimaaktivisten „letzte Generation“. Gibt es eine neue Kluft zwischen Jung und Alt?

Lahnstein: Das ist für mich keine Bewegung. Das ist eine sehr, sehr kleine Gruppe. Die reisen von Schauplatz zu Schauplatz, um sich dort bemerkbar zu machen. Wenn das Sachbeschädigung ist, dann ist es strafbar. Jeder hat das Recht, seine Meinung zu äußern. Jeder hat auch das Recht, so dumm zu sein, sein Thema für das einzige zu halten, das auf der Welt zählt. Alle Lebenserfahrung zeigt aber, dass das eben nicht so ist. Bitte keine Dummheiten auf Kosten der Allgemeinheit! Da bin ich radikal konservativ.

Aber gehen die Ziele der Demonstranten nicht uns alle existenziell an?

Lahnstein: Ja, aber das ist doch nicht neu. Die Fragen zum Klimaschutz müssen auch in Proporti-on zu anderen Problemen gedacht werden. Das ist ein solcher Egoismus, der diese Leute antreibt. Ich halte das für ein ausgesprochen elitäres Denken, und dagegen bin ich immer. Mich wundert, wie auch Journalisten immer um um Verständnis für diese Truppe werben. Jetzt wird schon Fridays for Future in die konservative Ecke gesteckt. Muss man radikal sein, um Aufmerksamkeit zu erregen?