Hamburg. Staatssekretärin Siemtje Möller und Bundestags-Vizepräsidentin Aydan Özoğuz über Soldaten, Reservisten und Geflüchtete.
Noch nie war der Krieg so nah in den vergangenen Jahrzehnten: Durch den russischen Angriff auf die Ukraine ist nicht nur das Leid der Menschen dort buchstäblich eng an Deutschland und in die Mitte der Hamburger Gesellschaft gerückt. Wladimir Putins brutaler Bruch des Völkerrechts hat genauso buchstäblich die in Alarmbereitschaft versetzt, deren erste Aufgabe die Landesverteidigung ist: Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sehen sich in der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichneten „Zeitenwende“ als diejenigen, auf deren Einsatzbereitschaft das politische Agieren des Landes ruht.
Hamburg spielt in der „Zeitenwende“ der Bundeswehr eine spezielle Rolle, wie die Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, Siemtje Möller, und die Vizepräsidentin des Bundestages, Aydan Özoğuz (beide SPD), beim Besuch in der Abendblatt-Redaktion sagten. Die Helmut-Schmidt-Universität (HSU) der Bundeswehr in Wandsbek und die Führungsakademie (Füak) in Nienstedten, die die wichtigste militärische Aus- und Weiterbildungseinrichtung der Streitkräfte ist, denken neu.
Ukraine-Krieg betrifft auch Reservisten
Staatssekretärin Möller sagte jüngst bei einem Treffen von Reservisten in der Füak: Auch auf die Schatten-Truppe kämen neue Zeiten zu. Das Selbst- und Fremdbild der Bundeswehr haben sich mit dem Ende der Wehrpflicht ohnehin radikal geändert. Möller sagte dem Abendblatt: „Den Reservisten ist bewusst, dass die Bundeswehr sich bereits umorientiert hat. Die Aggression, die von Russland ausgeht, hatten wir uns alle in ihrem Ausmaß nie richtig eingestanden. ,Zeitenwende‘ bedeutet, dass wir die Bundeswehr entsprechend ausrichten. Die Reservisten sind für uns auch Multiplikatoren in die Gesellschaft hinein.“
Das ist extrem wichtig für eine Streitmacht, die zwar in Auslandseinsätzen tätig ist, aber im Inland vor dem Krieg in der Ukraine nicht so „im Leben“ vieler verankert war wie in den Zeiten, als durch die Dienstpflicht Rekruten kamen und gingen. Die Bundeswehr, obwohl um Modernisierung be-müht, war für viele verschlossener geworden. Deshalb sagt Möller jetzt mit Blick auf den Ukraine-Konflikt: „Wir müssen über das ernste Thema Landesverteidigung mit der gesamten Gesellschaft ins Gespräch kommen, ohne die Situation zu überdramatisieren.“
Bundeswehr: Was das Aussetzen der Wehrpflicht jetzt bedeutet
Was für die Soldaten gilt, gilt für die Reservisten. Die Teilmobilmachung in Russland hat es gezeigt: Wenn der Krieg auch für die näher rückt oder sogar Realität werden soll, die eingezogen werden können, beginnt die Panik. Offenbar entziehen sich Tausende Russen, die mit langanhaltenden Friedenszeiten großgeworden sind, der staatlichen Dienstverpflichtung.
Für Özoğuz, die Vorstandsvorsitzende der Freunde und Förderer der HSU ist, steht eine neue Offenheit im Vordergrund: „Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht kennen weniger Menschen die Bundeswehr aus eigener Erfahrung. Deshalb ist mir hier mehr Transparenz wichtig, nicht nur, aber gerade während des Krieges in der Ukraine. Die militärisch-zivile Zusammenarbeit braucht viel mehr Beachtung.“
Zu dieser Transparenz gehört das Sprechen über Verletzungen, die zum Beispiel der Einsatz in Afghanistan mit sich brachte. Posttraumatische Belastungsstörungen sind nur eine Folge. Möller sagte: „Wer sich dazu bereiterklärt, für unser Land und unsere Werte einzutreten, muss sich damit auseinandersetzen, dass es bei der Ausübung der soldatischen Pflichten gefährlich werden und zu körperlichen sowie psychischen Verwundungen kommen kann. Wir müssen einen besonderen Fokus auf die Rehabilitation an Leib und Seele legen.“
Invictus Games: Besuch von Harry und Meghan
Seit einigen Jahren gibt es die sogenannten „Invictus Games“, eine Art Paralympics für kriegsversehrte Sportler. Prinz Harry, der selbst im Afghanistan-Einsatz war, rührte in diesem Jahr mit sei-ner Frau in Düsseldorf die Werbetrommel für die Invictus Games 2023 dort. Özoğuz meint: „Die Teilnehmer dort standen unter dem tiefen Eindruck der Begegnung mit Harry und Meghan. Die Botschaft war: Ihr seid keine Helden, ihr seid normale Menschen, die aber Außergewöhnliches leisten. Nicht jede Verwundung ist sichtbar, gerade die unsichtbaren bedeuten tiefe Einschnitte in das Leben der Soldatinnen und Soldaten und ihrer Angehörigen.“
Dass Einsätze unter die Haut gehen können – für diese Erfahrungen mussten Soldatinnen und Soldaten im vergangenen Jahr sich nicht weit wegbewegen. Die Flutkatastrophe unter anderem im Ahrtal hat ein Ausmaß der Zerstörung und menschliches Leid offenbart, das viele in Deutschland nicht für möglich gehalten haben. „Ein Militärdekan hat es sehr deutlich gesagt: Die Leute im Ahrtal haben zum Teil schlimmere Dinge gesehen als in Afghanistan“, konstatiert Özoğuz.
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Geflüchtete in Hamburg: "Neu denken"
Und die Wandsbeker Abgeordnete lenkt nicht erst seit ihrer Zeit als Staatsministerin im Kanzleramt bei Angela Merkel (CDU) immer auch den Blick auf die Geflüchteten. Wie ist die heutige Situation im Vergleich zur Krise um die gewaltige Zahl an Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan, die vor sieben Jahren nach Deutschland kamen? „Die Lage ist ernster. Es kommen aktuell mehr Schutzsuchende als in den Jahren 2015/2016. Das bringt alle an ihre Kapazitätsgrenzen, insbesondere auch Großstädte wie Hamburg. Uns gehen die Unterbringungsmöglichkeiten langsam aus.“
Dass die Hilfsbereitschaft nachgelassen haben könnte, diesen Eindruck hat sie nicht. „Aber die Menschen in unserem Land haben Sorge, dass sie die stark gestiegenen Preise in allen Lebensbereichen nicht mehr zahlen können. Dennoch gibt es nach wie vor eine schier unglaubliche Zahl an Menschen, die bereit ist, sich neben ihrem Alltag auch für Geflüchtete aus der Ukraine einzusetzen, sie zu begleiten, Deutschkurse zu geben, sich um die Kinder zu kümmern.“ Hamburg setzt inzwischen wieder auf Zelte, auf Turn- und Messehallen. Das ist bitter – aber offenbar alternativlos.
Özoğuz glaubt: „Wenn der Krieg länger dauert, müssen wir uns darauf einstellen, die Unterbringung ganz anders zu organisieren. Klar ist: Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihr Land wegen des Krieges verlassen müssen, werden auch weiterhin bei uns Aufnahme finden.“