Hamburg. Der Onlinehandel ist nur ein Problem der Innenstadt – bald kommt die Konkurrenz der Hafencity erschwerend hinzu. Was sich ändern muss.

Vielleicht werden Stadthistoriker einstmals kritisch auf den Dezember 2014 zurückblicken. Damals beschloss die SPD mit ihrer absoluten Mehrheit den Vertragsabschluss mit Unibail-Rodamco für den Bau des Überseequartiers. Wenn im übernächsten Jahr das Quartier eröffnet, wird die HafenCity eine andere Stadt sein – und die Innenstadt auch. Das neue Shopping- und Erlebnisviertel unter dem Titel „Westfield Überseequartierlockt mit 200 Geschäften, zehn Kinosälen, 50 Gastroeinheiten, drei Hotels und einem Kreuzfahrtterminal, das jährlich 350.000 Passagiere abfertigen soll.

Für die Hansestadt ist die Fertigstellung ein Schritt in eine neue Zukunft. Für die Innenstadt könnte es ein Tritt in die Magengrube werden. Deshalb warnte der Trägerverbund Innenstadt schon vor acht Jahren, das neue Quartier werde die gewachsene City nicht befruchten, sondern eine Insel in der Stadt: „Es handelt sich um ein autarkes Quartier“, hieß es damals in einem Brandbrief. Das einst im Masterplan formulierte Ziel einer Begrenzung der Verkaufsfläche auf rund 40.000 Qua­dratmeter war mit dem Vertragsabschluss Makulatur – plötzlich wurden die Shoppingflächen dort doppelt so groß.

Hamburger Innenstadt leidet unter dem Onlinehandel

Alle Proteste, alle Gespräche mit dem damaligen Bürgermeister fruchteten nicht. Olaf Scholz hatte schon zu lange in eine gewaltige Baugrube geblickt und fürchtete das Scheitern der HafenCity. Scholz wusste, dass sich hier zwischen nördlichem Überseequartier und Cruise-Center das Schicksal des gesamten Prestigeprojekts entscheiden würde, und suchte die große Lösung. Das Überseequartier sollte von seiner Architektur, Nutzung und Strahlkraft international wettbewerbsfähig sein – im Jahr 2014 ein nachvollziehbarer Ansatz.

Ein knappes Jahrzehnt danach sieht die Welt leider etwas anders aus: Der Onlinehandel in Deutschland hat sich seitdem im Volumen bald verdreifacht – lag er damals bei 35,6 Milliarden, sollen im laufenden Jahr im Internethandel 97,4 Milliarden Euro umgesetzt werden. Ohne Nahrungsmittel liegt der Online-Anteil inzwischen bei mehr als 21 Prozent, bei Fashion und Accessoires kratzt er an der 50-Prozent-Marke. Die Pandemie hat dem Bestellen per Mausklick einen zusätzlichen Schub versetzt – besonders die über 60-Jährigen haben das Netz neu entdeckt.

Stationärer Handel sackt ab

Das veränderte Einkaufsverhalten trifft vor allem die Innenstädte mit ihrem Angebot aus Mode, Schmuck oder Möbeln. Während der Onlinehandel in diesen Branchen zwischen 2020 und 2021 um 18,2 Prozent gewachsen ist, sackte der stationäre Handel um 6,6 Prozent ab. Damit nicht genug: Die einseitige Struktur aus Handel und Büros macht Hamburg in Krisenzeiten besonders anfällig. Wenn immer mehr Menschen von zu Hause arbeiten, entfällt das Mittagessen im Restaurant oder der Einkaufsbummel nach Dienstschluss. Die fehlenden Wohnungen in der Innenstadt – hier leben nur rund 15.000 Menschen – rächen sich nun.

Und schlagen sich in den Frequenzen nieder. Noch vor einem Jahrzehnt lagen die Mönckebergstraße (Mö) und die Spitalerstraße in der Spitzengruppe der beliebtesten deutschen Einkaufsstraßen mit mehr als 11.000 Passanten pro Stunde – im Pandemiejahr 2021 dagegen waren es nach einer Zählung im Auftrag von BNP Paribas in der Mö gerade noch 4640 Passanten (Rang 42 unter den deutschen Einkaufsstraßen). Die Spitalerstraße kam mit 6275 Besuchern immerhin noch auf Platz 15. Selbst der Jungfernstieg schob sich als 35. mit knapp 5000 Passanten vor die Mö. Hier dürfte sich die Dauerbaustelle negativ ausgewirkt haben.

City hat auch ihre Stärken

Vergleicht man die Zahlen mit dem Vor-Corona-Jahr 2019, bleibt ebenfalls ein Minus. Damals kam die Mönckebergstraße mit 6778 Passanten noch auf Rang 14, die Spitalerstraße (5580 Besucher) auf Rang 24, der Jungfernstieg mit 4989 auf Rang 33. Die Poststraße (2760 Passanten) erreichte Platz 74, der Neue Wall (2466) Platz 79, die Gerhofstraße (1758) Platz 90 und die Große Bleichen (1632) Platz 92.

Wirklich Spitze war Hamburg vor Corona nur bei den Mieten. Laut BNP Paribas lag die Hansestadt mit Höchstmieten in der Spitalerstraße und am Neuen Wall von 270 Euro pro Quadratmeter im Jahr 2019 auf Rang 6.Zweifellos hat die City ihre Stärken. Dazu gehört die internationale Ausrichtung – viele Labels und Unternehmen aus dem Ausland wagen ihre ersten Gehversuche in Hamburg.

Gänsemarkt-Passage wird abgerissen

Noch immer bietet die Hansestadt ein besonderes Einkaufserlebnis, gerade vor Weihnachten. Sie besticht durch ihren besonderen Charme aus Alster, Elbe und gediegener Architektur. Investoren haben massiv investiert. Die Stadthöfe sind fertig, am Alten Wall hat die Art Invest rund 300 Millionen Euro in die Revitalisierung gesteckt, zwischen Rathaus und Rödingsmarkt entsteht für 250 Millionen Euro das Burstah-Quartier mit einer Mischnutzung, dahinter verändert die Nikolai-Insel mit Gastronomie, Handel und Wohnungen ihr Gesicht.

Unweit des Neubaus des Deutschland-Hauses reißt die Signa Prime am Gänsemarkt die alte Passage ab und entwickelt für rund 200 Millionen Euro eine neue Hofstruktur. 2023 wird an der Stelle der früheren City-Hof-Hochhäuser das Johann-Kontor für 300 Millionen Euro fertig­gestellt, wo Büros, Einzelhandel, Gastronomie, ein Hotel und Wohnungen ent­stehen.

Naturkundemuseum wird in HafenCity angesiedelt

Die Investoren glauben an die City – aber glaubt auch die Politik daran? Diese Frage stellen sich viele Interessenvertreter der Innenstadt, Investoren und Einzelhändler. Sie reagierten mit Unverständnis und Wut auf die Entscheidung der Stadt, das wichtige Naturkundemuseum in der HafenCity anzusiedeln – übrigens vis-à-vis dem Überseequartier. Am Ende gaben ein freies Baufeld ohne Auflagen und mit Platz für 60.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche den Ausschlag. Über Jahre hatten die City-Vertreter gefordert, in der alten Innenstadt einen zusätzlichen Frequenzbringer anzusiedeln, etwa auf dem Domplatz oder den Flächen der leer gefallenen Kaufhäuser.

Diese Hoffnungen hat die Politik enttäuscht: „Die Entscheidung für das neue Naturkundemuseum in der HafenCity ist für uns ein Schlag ins Gesicht. In jeder Sitzung des Arbeitskreises Innenstadt haben wir nachgefasst, aber keine Informationen bekommen. Das ist eine Scheinbeteiligung“, sagt Heinrich Grüter, Geschäftsführer beim Trägerverbund Projekt Innenstadt. „Noch im April 2020 hat uns die Wissenschaftssenatorin schriftlich zugesagt, uns ‚in das Standortfindungsverfahren einzubinden‘. Die Entscheidung ohne jede Information oder Einbindung ist ein klarer Wortbruch.“

Senat sitzt im Rathaus, aber hat oft eher die HafenCity im Blick

Einig wie selten ziehen nun Händler, Eigentümer und Interessenvertreter der Innenstadt an einem Strang und suchen den Dialog mit der Politik. Obwohl der Senat im Rathaus sitzt, hat er die HafenCity oft eher im Blick. Bei jeder Entscheidung werden noch Attraktionen mit eingefordert, etwa eine Aussichtsplattform im Elbtower. In der City wird derlei kaum mitbedacht. Offenbar fürchtet die Politik noch immer, dass Hamburgs großes Stadterweiterungsprojekt nicht lebendig genug gerät.

Diese berechtigte Sorge früherer Jahre dürfte sich mit der Eröffnung des Überseequartiers erledigt haben. Zumal noch weitere Attraktionen in die HafenCity ziehen: Etwas unter dem Radar läuft die für 2024 geplante Eröffnung des Digital Art Museums. Die immens erfolgreiche Schau, die in Tokio über zwei Millionen Besucher jährlich anlockt, rechnet in der Hansestadt mit immerhin 700.000 Besuchern – das wäre mehr, als die Kunsthalle im Jahr begrüßt. Ohnehin werden die Elbbrücken mit dem 245 Meter hohen Elbtower zu einem weiteren Magneten – der dann aber vom Rathausmarkt schon fast drei Kilometer entfernt liegt. Über den Fußweg am Wasser ist das Überseequartier nach 1,8 Kilometern erreicht.

Sonntagsöffnung im Überseequartier wäre "Super-GAU"

Mit großen Namen wie Breuninger, Boss, H & M, Zara oder Gant entsteht dort ein interessantes Shoppingquartier. Handelsexperten schätzen, dass rund 20 Prozent des Innenstadtumsatzes wechseln könnten. Sollte nur die Hälfte von der City ins Quartier wandern, fiele auf einen Schlag ein Zehntel der Umsätze weg.

Manche Händler ziehen von sich aus gen Süden an die Elbe – mit unklaren Konsequenzen für Mö, Spitalerstraße & Co. Zusätzliche Sorgen bereitet den Innenstadtvertretern eine mögliche Sonntagsöffnung im Überseequartier – am Kreuzfahrtterminal könnten analog zu den Öffnungszeiten in Bahnhöfen Sonderkonditionen greifen: „Wenn das passiert, wäre das der Super-GAU für die Innenstadt“, warnt Grüter.

Lage am Jungfernstieg im Sommer angespannt

Noch eine andere Angst treibt die City-Kaufmannschaft um, man spricht nur ungern darüber: Seit Längerem wachsen die Zahlen der Obdachlosen und Drogen­abhängigen, die vom Hauptbahnhof in die City hinüberschwappen. Zudem ist im Sommer auch die Lage am Jungfernstieg angespannt. Durch die Verkehrsberuhigung sind zwar die Autoposer weg, doch in Sommernächten wird der Anleger zur Partymeile und Problemzone durch feiernde­ junge Leute, darunter viele mit Migrationshintergrund.

Machogehabe, Alkoholmissbrauch und sozial auffälliges Verhalten trägt nicht dazu bei, dass ältere Hamburger den Jungfernstieg als ihr „Wohnzimmer“ begreifen. „In meinem Umfeld gibt es viele Personen, die kultiviert sind und eine vielfältige Gesellschaft zu schätzen wissen, die aber aus den oben genannten Gründen die Innenstadt mittlerweile meiden“, schreibt ein Abendblatt-Leser. „Es lümmeln sich am Jungfernstieg viele Leute rum, deren Nähe man als hier sozialisierter Mensch nicht schätzt, und deshalb einen großen Bogen darum macht“, ein anderer. Viele beschweigen das Problem, weil es politisch nicht korrekt ist – aber Wegducken, Wegschauen und Schönreden sind keine Lösung.

Die Stadt braucht dringend eine Anbindung von City und HafenCity

Mit der Vergabe des Naturkundemuseums steigt der Druck auf dem Kessel: Die Innenstadtkoordinatorin Elke Pahl-Weber, seit einem halben Jahr im Amt, kann noch immer nicht richtig arbeiten, weil sie kein Büro hat, und hat die Hoffnungen der Innenstadtvertreter bislang enttäuscht. Am Ende fehlen ihr die Durchgriffsmöglichkeiten. Sie versteht sich als Moderatorin: „Ich bin für die Kommunikation da, es geht darum, miteinander zu sprechen, sich zu verstehen“, sagte sie dem Abendblatt. Doch derzeit ist das mit dem Sprechen so eine Sache.

Zweierlei wäre geboten, die Stimmung in der Innenstadt zu verbessern: Erstens muss die oft geforderte, aber wenig umgesetzte Anbindung der HafenCity an die Innenstadt dringend verbessert werden. Noch immer gibt es weder eine attraktive Wegeführung noch eine innovative Radstrecke noch eine kluge Anbindung über eine Rundstrecke. In der Mitte teilt die Schneise der alten Ost-West-Straße die Stadt in zwei Teile. Es fällt schwer, sie zu überwinden. Und es fehlt an zündenden Ideen. Dabei müsste diese Verbindung zur Eröffnung des Überseequartiers fertig sein. Das liegt auch im Interesse des Investors: „Im Idealfall gibt es einen Rundlauf durch beide Viertel – ein Viereck vom Rathaus zur Elbphilharmonie und über das Überseequartier zurück zur Mö“, sagt Dirk Hünerbein, Director of Development Austria & Germany bei Westfield.

„Es liegt ein stärkerer Fokus auf der HafenCity"

Die Politik muss nun die City verstärkt in den Blick nehmen – der neue Stadtteil kann alleine laufen, die Altstadt hingegen benötigt Unterstützung. „Es liegt ein stärkerer Fokus auf der HafenCity. Der Stadtteil ist neu, es lässt sich noch viel gestalten, mit der HafenCity GmbH kümmert sich ein engagiertes Team gezielt um die Entwicklung des Stadtteils und hat dabei erhebliche Gestaltungsspielräume. Das alles ist in der Innenstadt nicht der Fall“, sagt Anke Frieling, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der CDU.

„Man hangelt sich von Platzgestaltung zu Platzgestaltung, und niemand erklärt sich zu einem Gestalter für diesen Bereich, der eben keine ,grüne Wiese‘ ist.“ Mehr Kreativität, Gestaltungswille und Entscheidungskompetenz seien nötig.

Hamburger City: Mehr Wohnungen nötig

„Es gibt zahllose Arbeitskreise und runde Tische mit guten Ideen, aber niemanden, der Dinge in die Umsetzung bringt“, sagt Frieling und fordert, die Innenstadt zur Chefsache zu machen, „bei jemandem, der gestalten will, ausgestattet mit personellen und finanziellen Ressourcen“. Nötig seien mehr Wohnungen, bessere Verknüpfungen und mehr Kultur. Und mindestens ein Leuchtturmprojekt müsse in die Innenstadt, fordert sie.

Ein Kandidat dafür ist das Haus der Digitalen Welt, das als „Elbphilharmonie der Digitalisierung“ nach Vorbild des Oodi, der spektakulären Zentralbibliothek in Helsinki, weit über die Stadt strahlen soll. Ein möglicher Standort ist der Domplatz. Das Prestigeprojekt der Hamburger SPD mit einem dreistelligen Millioneninvestment sollte schnell auf den Weg gebracht werden. Die nächste Sparrunde kommt bestimmt – da sterben ungebaute Ideen meist schnelle Tode. Doch das darf sich die Stadt um der Stadt willen nicht leisten.